Ich nannte ihn Krawatte – Milena Michiko Flašar

“Heute begreife ich, dass es unmöglich ist, jemandem nicht zu begegnen. Indem man da ist und atmet, begegnet man der ganzen Welt. Der unsichtbare Faden hat einen vom Augenblick der Geburt an mit dem anderen verbunden. Ihn zu kappen, dazu  bedarf es mehr als nur eines Todes, und es nützt nichts, dagegen zu sein.”

In dem Roman “Ich nannte ihn Krawatte” schreibt die junge Autorin Milena Michiko Flašar über zwei Menschen, die sich zufällig auf einer Bank in einem japanischen Park begegnen. Es handelt sich um Ohara Tetsu, einen älteren Firmenangestellten – im Buch wird er als “Salaryman” bezeichnet – und den zwanzigjährigen Taguchi Hiro. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Taguchi Hiro. Trotz des Altersunterschied verbindet beide Männer eine Tatsache: sie sind beide aus der sogenannten Norm gefallen, haben es nicht geschafft, dem Druck stand zu halten und verbringen ein Leben außerhalb der Gesellschaft. Es dauert einige Tage, bis die beiden anfangen sich anzunähern. Gegenseitig beginnen sie damit, sich von ihrem jeweiligen Leben zu erzählen. Erst noch sehr zögerlich, aber irgendwann wie ein stetiger, unaufhörlicher Fluss berichten sie sich von Ereignissen, Bildern, Gedanken.

“Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren. Um gleichzeitig und unabweisbar festzustellen: Dass es uns nicht möglich ist, nicht von hier, nicht von jetzt aus, das, was geschehen ist, rückgängig zu machen. Und vielleicht war deshalb seine Geschichte auch die meine. Sie handelte von dem, was er unterlassen hatte und was demnach nicht rückgängig zu machen war.”

Taguchi Hiro ist ein Hikikomori[1]. Dabei handelt es sich um ein in Japan weit verbreitetes Phänomen: als Hikikomoris werden überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene bezeichnet, die sich in ihren Zimmern im Haus ihrer Eltern einschließen und dieses für einen längeren Zeitraum nicht mehr verlassen. Dieser Zeitraum kann zwischen mehreren Monaten variieren, aber auch bis zu einem ganzen Jahr und darüberhinaus andauern. Verantwortlich für dieses Phänomen wird vor allem der unmenschliche Leistungsdruck in Japan gemacht, unter dem die Jugendlichen leiden. Manche zerbrechen sogar daran.

“Ich bin kein typischer Hikikomori, fuhrt ich fort. Keiner, von dem in den Büchern und Zeitungsartikeln, die man mir dann und wann zur Lektüre auf die Schwelle legt, die Rede ist. Ich lese keine Mangas, ich verbringe den Tag nicht vor dem Fernseher und die Nacht nicht vor dem Computer. Ich baue keine Modellflugzeuge. Von Videospielen wird mir schlecht. Nichts soll mich ablenken von dem Versuch, mich vor mir selbst zu bewahren.”

Es gibt viele Hikikomoris, bei denen man versucht, sie wieder zurück in die Gesellschaft zu führen – sie wieder einzugliedern. Taguchis Familie hat seinen Zustand akzeptiert und versucht nicht, ihm wieder hinaus zu helfen – allein aus dem einzigen Grund, weil sie sich für ihren Sohn schämen.

“Das ist mein Glück. Teil einer Familie zu sein, die es mir gewährt, mich zu verschließen. Aus Scham, wohlgemerkt. […] Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte. Ich war das Sitzkissen, auf dem keiner saß, der Platz am Tisch, der leer blieb, die angebissene Pflaume auf dem Teller, den ich zurück vor die Tür gestellt hatte. Indem ich fehlte, hatte ich gegen das Gesetz verstoßen, das besagt, dass man da sein und wenn man da ist, etwas tun, etwas erreichen muss.”

Zu Beginn des Romans traut sich Taguchi zum ersten Mal seit langem wieder sein Zimmer und das zu Hause seiner Eltern zu verlassen. Er wagt sich nach draußen. Zunächst nur bis zur Parkbank, aber immerhin. Und dort trifft er auf  den Salaryman Ohara Tetsu. Zunächst nennt er ihn für sich nur “Krawatte”, da Ohara eine rot-grau gestreifte Krawatte trägt. Später stellen sie sich gegenseitig vor. Ohara und Taguchi erfahren, dass sie sich ähnlich sind – auch Ohara lebt ein Leben außerhalb der Gesellschaft. Ohara ist zwar kein Hikikomori, aber ein Lügner – er belügt seine Frau Kyoko.

“Kyoko weiß nicht, dass ich hierher komme. Ich habe es ihr nicht gesagt. Gedehnte Silben: Ich ha-be ihr nicht ge-sagt, dass ich mei-ne Ar-beit ver-lo-ren ha-be.”

Ohara leidet auch unter einer Krankheit, er leidet unter einer Illusion, die er um jeden Preis versucht aufrechtzuerhalten, um niemanden enttäuschen zu müssen. Um nicht zugeben zu müssen, alt zu sein und versagt zu haben.

Mit der Zeit, nähern sich Ohara und Taguchi auf ihre ganz eigene Weise an und erzählen sich abwechselnd von ihrem Leben, von dem was sie erleiden mussten. Man erfährt von Oharas Sohn, der behindert auf die Welt kam und den er deshalb nicht lieben lernen konnte. Man erfährt von seiner arrangierten Ehe. Taguchi erzählt von Freunden aus der Schule, die er im Stich gelassen hat. Die er verraten hat, um normal sein zu können. Am Ende hat er sich  damit selbst verraten und seine Freunde verloren.

Als Leser erhält man die Möglichkeit mitzuerleben, wie beide versuchen sich zusammen aus dem Loch, in das sie gefallen sind, hervorzukämpfen … und Taguchi dabei zu begleiten, kleine Schritte zurück in das Leben zu machen.

Mir hat der Roman von Milena Michiko Flašar sehr gut gefallen. Es gibt so viele Sätze, Passagen, ganze Abschnitte, die ich unterstrichen und markiert habe. Kaum eine Seite ist nicht mit einem Post-It beklebt worden. Flašar erzählt eine leise, unaufgeregte, aber sehr berührende Geschichte und lenkt den Blick auf die Menschen, die aus irgendeinem Grund aus der Norm fallen. Am Ende des Romans wird die Frage aufgeworfen, ob diese Menschen, die für eine Weile aus der Norm fallen, die für eine bestimmte Zeit nicht mehr mit der Welt verwoben sind, eine Chance haben, wieder zurückzukehren:

“Ich meine Leute wie uns, die vom Weg abgewichen, sich entzogen haben. Die keinen Abschluss, keine Ausbildung, keine Arbeit, nichts vorzuweisen, nichts gelernt haben außer dieses: Dass es sich lohnt, am Leben zu sein. Er macht mir Angst, der Gedanke, wir könnten jetzt, da wir es gelernt haben, immer noch lernen, nicht gebraucht werden. Immerhin sind wir gezeichnet. Wir haben einen Makel. Was, wenn man uns das nicht verzeiht? Was, wenn die Gesellschaft … uns nicht zurückhaben möchte?”

Ich hoffe und wünsche mir, dass auch diesen Menschen, den Menschen, die einen Makel zurückbehalten, weil sie nicht mehr Teil der Norm gewesen sind, eine Chance eingeräumt wird. Mich haben Ohara und vor allem auch Taguchi sehr beeindruckt. Beide zerbrechen an einem Druck, den sie sich selber auferlegt haben – aber sie versuchen sich wieder in das Leben zurückzukämpfen.

“Ich nannte ihn Krawatte” ist ein großartiger Roman und sicherlich einer der besten deutschsprachigen Romane, die ich seit sehr langer Zeit gelesen habe. Flašar überzeugt mich vor allem mit einer fantastischen Sprache und mit faszinierenden, feinfühligen, empfindsamen Bildern. Ein ungewöhnliches Buch, das ungewöhnliche Menschen beschreibt und mich mit seiner Schönheit, seiner poetischen Sprache, seiner Sanftheit bezaubert hat.

Ich wünsche “Ich nannte ihn Krawatte” möglichst viele Leser, die sich auch verzaubern lassen!

[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Hikikomori

14 Comments

  • Reply
    atalante
    February 17, 2012 at 3:54 pm

    Deine Besprechung klingt sehr interessant, mara. Ist das jetzt ein japanischer Genazino? Zum Teil klingt es so.

    • Reply
      maragiese
      February 17, 2012 at 6:02 pm

      Liebe atalante,

      ich kenne leider noch keinen Roman von Genazino, deshalb kann ich diesen Vergleich weder bestätigen noch verneinen. Was ich weiß, ist, dass dies ein ganz großartiges Buch ist und ich es dir nur empfehlen kann. 🙂

  • Reply
    Mila
    February 18, 2012 at 11:47 am

    Wunderschöne Zitate hast du da rausgesucht, liebe Mara. Mich hat vor allem das mit dem Sitzkissen, dem leeren Platz usw. beeindruckt. Und Zufallsbegegegnungen, aus denen sich eine Geschichte entwickelt, gefallen mir auch sehr. LG Mila

  • Reply
    Doris Küstner
    February 19, 2012 at 5:35 pm

    Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen.
    Dankeschön für deine wunderbare Rezension, bei der ich während des Lesens schon wußte was ich demnächst kaufen werde.

  • Reply
    Kef Khaos
    February 20, 2012 at 11:17 am

    Und meine Wunschliste hat sich wieder einmal verlängert 😉

  • Reply
    Mariki
    February 20, 2012 at 4:19 pm

    Sofort auf die Wunschliste! Danke!

  • Reply
    Bibliophilin
    February 20, 2012 at 4:51 pm

    Oh, wie ich mich freue, dass ich das Buch hier stehen habe! Eine schöne Rezension.
    Herzlichst
    Bibliophilin

    • Reply
      maragiese
      February 21, 2012 at 5:05 pm

      Hallo ihr Lieben,
      ich freue mich so, dass ich bei euch allen ein Interesse für das Buch wecken konnte. Da du es schon vorrätig hast, Bibliophilin, bin ich schon sehr gespannt, was dein Urteil zu dem Roman sein wird. Mir hat der Roman wirklich ausgesprochen gut gefallen. Danke Mila für das Lob bezüglich der herausgesuchten Zitate – auf so wenig Seiten habe ich wohl noch nie so viele Sätze markiert. Ich hätte noch einige andere Zitate anbringen können, man muss sich aber irgendwie auch beschränken … 😉
      Ich bin wirklich schon sehr gespannt auf weitere Urteil zu diesem kleinen Juwel!

  • Reply
    Doris Küstner
    March 2, 2012 at 7:23 am

    Liebe Mara,

    dies ist nun eines dieser Bücher bei denen ich nach Worten suche um zu beschreiben wie gut mir das Buch gefallen hat….und ehe ich mich jetzt hier verstricke belasse ich es dabei:

    Was für ein großartiges Buch!

    Danke für deine Rezension, ohne die ich auf dieses Buch überhaupt nicht aufmerksam geworden wäre.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 2, 2012 at 2:51 pm

      Liebe Doris,

      ich freue mich sehr, dass dir “Ich nannte ihn Krawatte” gefallen hat … wenn sich die Gedanken zu dem Buch gesetzt haben, würde ich mich natürlich freuen, mehr von dir dazu zu hören!

      Ich bin auch nur dank dem Forum Leselust auf das Buch aufmerksam geworden und habe dann vom Wagenbach ein Rezensionsexemplar geschickt bekommen – worüber ich mich sehr gefreut habe! Ich habe aber das Gefühl, dass in den letzten Tagen schon mehr Werbung gemacht wurde für das (in Buchläden etc.). Wenn ich das sehe, freue ich mich immer, weil ich denke, dass es dieses Buch wirklich auch verdient hat!

  • Reply
    Klappentexterin
    March 17, 2012 at 8:03 pm

    Liebe Mara,

    endlich konnte ich deine Rezension in Ruhe lesen und auch ich möchte einen Kommentar hinterlassen, bin ich doch beglückt!

    Was habe ich deine Zitate genossen und deine Gedanken selbst zu diesem großartigen Roman, die du sehr schön mit den Zitaten verbunden hast! (Und lächeln musste ich: Dein Buch sieht wahrscheinlich genauso wie meins, überall kleine Post-Its.) Ich finde in deiner Rezension die Ruhe und das Nachdenkliche wie in der Geschichte selbst. Ganz wunderbar! Deine Begeisterung reißt mich mit und wenn ich es nicht schon gelesen hätte… : )

    Hochachtungsvoll,

    Klappentexterin

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 19, 2012 at 11:51 am

      Liebe Klappentexterin,
      ganz ganz herzlichen Dank für deinen aufmerksamen und lieben Kommentar über den ich mich ausgesprochen doll gefreut habe. Es freut mich, dass dich der Roman auch begeistern konnte – schon beim Lesen habe ich gedacht: das könnte doch wirklich ein Roman für die Klappentexterin sein!

      Ich glaube, dass ich noch nie so viele Postits in ein Buch geklebt habe und ich freue mich zu hören, dass ich mit dieser Leidenschaft nicht alleine da stehe!

      Ganz liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Vom Raum mit Riss zum Raum der Freundschaft » Atalantes Historien
    April 8, 2012 at 2:08 pm

    […] Vor­stel­lun­gen bes­tens zu bedie­nen. Doch die Begeis­te­rung, die ich sowohl in Buz­zal­d­rins Blog wie auch bei der Lese­lust fand, machte mich neu­gie­rig. Vor allem dar­auf, inwie­fern das […]

  • Reply
    Ich nannte ihn Krawatte - Milena Michiko Flašar | Lovely Mix
    May 10, 2016 at 5:02 am

    […] Buzzaldrins […]

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