Geschwisterkinder – Hanna Lemke

Die Erzählung “Geschwisterkinder” ist schon die zweite Veröffentlichung der jungen deutschen Autorin Hanna Lemke. Für mich ist es die erste Erfahrung mit dieser Autorin, auf die ich zuvor noch nicht aufmerksam geworden war.

Hanna Lemke erzählt die Geschichte der Geschwister Milla und Ritschie. Wobei es da eigentlich kaum eine wirkliche Geschichte gibt. Vielmehr erzählt sie von den Alltäglichkeiten, die das Leben der beiden bestimmen. Milla arbeitet in einem Spielzeugladen und Ritschie in einer Zeitungsredaktion, dort hatte er schon während seines Studiums gejobbt und wurde schließlich irgendwann von seiner Chefin übernommen. Beide leben in Berlin, eigentlich gar nicht weit voneinander entfernt und doch hat sich im Laufe der Jahre eine tiefe Kluft zwischen ihnen gebildet. Gar nicht einmal, weil sie sich böse sind, sondern weil sie sich einfach nichts mehr zu sagen haben. Sie haben sich voneinander entfremdet. Beide haben verlernt über mehr zu sprechen, als die Banalitäten des Alltags. Nähe gibt es zwischen den beiden Geschwistern eigentlich kaum noch und in jedem – immer etwas holprigen – Dialog zwischen ihnen, wird diese scheinbar unüberbrückbare Kluft deutlich. Was bleibt, sind die Erinnerungen an eine gemeinsame Kindheit, an eine ferne Vergangenheit.

“Sie hätte nicht sagen können, welche ihrer Erinnerungen an Ritschie die erste war, die früheste. Sie hatte Bilder von ihnen beiden im Kopf, wie er ihr den Schnuller gab, mit ihr in der Badewanne saß; es waren Bilder aus dem Fotoalbum der Familie, und es schien ihr schwer, sich davon zu lösen.”

Erst durch den Besuch eines gemeinsamen Familienfreundes – Doktor Charles – beginnen die Geschwister damit, sich wieder anzunähern. Milla erfährt zufällig in einem gemeinsamen Gespräch mit Ritische und Doktor Charles, dass Ritschie mittlerweile eine Freundin hat. Ihr wird klar, dass – wenn es dieses zufällige Gespräch nicht gegeben hätte – Ritschie ihr wohl auch nicht dieses intime Detail aus seinem Leben erzählt hätte. Sie realisiert, wie wenig sie eigentlich weiß vom Leben ihres Bruders. Und auch Ritschie beginnt Milla – vor allem auch nach dem gemeinsamen Besuch einer Hochzeit von entfernten Bekannten – mit anderen Augen zu sehen.

“Milla wandte sich dem Gang zu, und er schaute auf sie herab, auf die Puffärmelchen, die ihre Schultern bedeckten, ihren gerade gezogenen Scheitel. Es war ihm selten so deutlich aufgefallen, dass sie nicht nur jünger, sondern auch kleiner war als er; meine kleine Schwester, dachte er. Er war überrascht, wie sehr ihn das rührte.”

Ganz langsam und Stück für Stück beginnen Ritschie und Milla damit, sich wieder anzunähern und eine Beziehung zueinander aufzubauen. Hanna Lemke erzählt von zwei Geschwistern, die nicht nur die Bindung zueinander verloren haben, sondern auch die Bindung zu sich selbst und ihrem eigenen Leben. Beide führen Beziehungen, die sie nicht glücklich machen und arbeiten in Zusammenhängen, die sie nicht zufrieden stellen.

“So war es ihr jedenfalls vorgekommen, obwohl sie immer noch spüren konnte, wie alles einfach weitermachte, Tiere und Bäume, dachte sie, Tag und Nacht, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht.”

Wie eine Maschine geht auch das Leben von Milla und Ritschie unaufhaltsam weiter, trotz all des Unglücks und der Einsamkeit, die sie empfinden. Doch zumindest kommen sie sich gegenseitig wieder näher …

Hanna Lemke erzählt sehr detailverliebt, auch banalste Begebenheiten des Alltags werden von ihr sehr intensiv betrachtet und ganz genau seziert. Ihre Protagonisten werden von ihr an keiner Stelle geschont, sondern mit all ihren Unsicherheiten und Schwächen gezeigt. Gestört haben mich die verwendeten Namen: Milla und Ritschie heißen mit bürgerlichen Namen  Milena und Richard und für mein Empfinden hätte es die amerikanisch anmutenden Abkürzungen nicht unbedingt gebraucht. Hanna Lemke legt mit “Geschwisterkinder” eine handwerklich gute Erzählung vor. Besonders in den Beschreibungen der zwischenmenschlichen Stimmungen überzeugt mich die Erzählung, da es der Autorin mit einer großen Genauigkeit gelingt, den Finger auf all das Ungesagte, auf all das, was zwischen den Charakteren steht, zu legen. Auch die Beschreibung der Stadt Berlin ist gelungen …

Handwerklich ist die Geschichte überzeugend erzählt, mir hat jedoch leider der letzte Funke gefehlt, um mich wirklich begeistern zu können. Dennoch eine sicherlich lesenswerte Erzählung einer jungen deutschen Autorin, die Hoffnung auf mehr macht!

2 Comments

  • Reply
    buechermaniac
    March 1, 2012 at 1:37 pm

    Das haben wir aber toll hingekriegt und fast zeitgleich aufgeschaltet 🙂

    Schön, deine Rezension. Mich hat die Geschichte zeitenweise bedrückt. Zwei so junge Menschen, die sich, obwohl aus der gleichen Familie, so fremd geworden sind und diie sich irgendwie von der Welt zurückziehen, Milla noch mehr als Ritschie. Das hat mir zu denken gegeben.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 1, 2012 at 1:46 pm

      Und jetzt haben wir auch noch fast zeitgleich bei uns gegenseitig kommentiert, liebe buechermaniac. Das sind ja schon amüsante Zufälle. Mir hat deine Rezension auch sehr gut gefallen, ich habe sie heute morgen noch entdeckt, bevor ich meine eigene geschrieben hatte. Wie schon geschrieben, fand ich die Geschichte gut erzählt – vor allem all dies Ungesagte und Bedrückende wird sehr authentisch vermittelt. Der letzte Funke ist jedoch nicht so ganz übergesprungen. Zu denken gegeben hat mir die Geschichte auch – vor allem die Tatsache, wie man sich so sehr voneinander entfremden kann, wie es Milla und Ritschie passiert ist. Sympathisieren konnte ich wohl eher mit Milla als mit Ritschie, was vielleicht aber auch daran liegt, dass Milla und ich wohl in einem ungefähr gleichen Alter sind.
      Ach ich weiß nicht, auch wenn die Erzählung so leicht und ruhig daherkommt, hat sie mich doch ganz schön bedrückt zurück gelassen.

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