Blaue Stunden – Joan Didion

didio-blaue-stunden“In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden.”

Auf den ersten beiden Seiten ihres Berichts erklärt Joan Didion das Phänomen der blauen Stunde, das die Franzosen “l’heure bleue” und die Engländer “the gloaming” nennen.

“Blaue Stunden sind das Gegenteil sterbenden Glanzes, aber sie sind auch seine Vorboten.”

Joan Didion wurde hier in Deutschland vor allem durch die Veröffentlichung von “Das Jahr magischen Denkens” bekannt, in dem sie sich mit dem plötzlichen Sterben ihres Mannes John Dunne auseinandersetzt. Später erschien dazu auch ein Theaterstück, das in der Schauspielerin Vanessa Redgrave die einzige Besetzung hatte. Im Vorfeld der Veröffentlichung von “Blaue Stunden” erschienen in vielen Zeitungen (“Die Zeit” und “FAZ” seien an dieser Stelle einmal exemplarisch erwähnt; darüber hinaus gab es noch einen interessanten Artikel in “Der SPIEGEL”, den ich jedoch leider nicht verlinken kann) Berichte über Joan Didion, die mit ihren Essays und Romanen zuvor noch nie so viel Aufmerksamkeit bekommen hatte. Schon nach der Lektüre von “Meine Zeit der Trauer” von Joyce Carol Oates habe ich bereits vor einigen Monaten wieder sehr intensiv an Didions “Das Jahr magischen Denkens” denken müssen. Trotz aller Unterschiede sind sich beide Werke in ihrer Thematik doch sehr ähnlich.

“Blaue Stunden” wollte ich unbedingt lesen; ich habe es als eine Art Fortsetzung von “Das Jahr magischen Denkens” empfunden und wollte wissen, was aus Didions Tochter Quintana geworden ist, die beinahe zeitgleich zum Tod von John Dunne, sehr schwer erkrankt. Genau damit setzt sich Joan Didion in “Blaue Stunden” auseinander. Joan Didion beginnt mit den Aufzeichnungen ihrer Erinnerungen am 26. Juli 2010, dem siebten Hochzeitstag ihrer Tochter.

“Die Erinnerung verblasst, die Erinnerung passt sich an, die Erinnerung fügt sich dem, woran wir uns zu erinnern glauben.”

Genau sieben Jahre zuvor, am 26. Juli 2003 heiratet Quintana ihren Ehemann Gerry. Am Ende desselben Jahres fällt sie nach einer schweren Lungenentzündung ins Koma. Beinahe zwei Jahre später, am 26. August 2005 stirbt Quintana schließlich.

“Zwanzig Monate, in denen sie insgesamt vielleicht nur einen Monat lang stark genug war, um ohne Hilfe zu laufen.”

Am 26. Juli 2010 beginnt Joan Didion zu schreiben, sich mit dem Tod ihrer einzigen Tochter auseinanderzusetzen. Damit, dass sie alleine zurückbleiben wird. Nicht nur ihr Ehemann ist vor ihr gestorben, sondern auch ihr eigenes Kind. Ihre Tochter Quintana.

“Die Zeit vergeht. Könnte es sein, dass ich das nie geglaubt habe? Hatte ich geglaubt, die blauen Stunden würden für immer andauern?”

Ähnlich  wie die Aufzeichnungen in “Das Jahr magischen Denkens” ist das, was Didion schreibt, sehr roh – wirkt zum Teil unfertig, an einigen Stellen wie zerstückelt. Es fehlen Sinnzusammenhänge. Der Tod Quintanas, die Tatsache, dass sie als einzige übrig geblieben ist, bringt Didion zum Nachdenken. Ausgehend vom Tod ihrer Tochter, beginnt sie auch über ihr eigenes Leben zu reflektieren, über ihre Vergangenheit, ihr Alter, den Tod und die eigene Vergänglichkeit. Sie blickt zurück auf das Leben von Quintana, wobei dabei für mein Empfinden sehr stark die eigene Unzulänglichkeit als Mutter im Vordergrund steht. Eine Unzulänglichkeit, die Didion zumindest so empfindet. Es überwiegt das Gefühl, der von Didion und Dunne adoptierten Quintana, keine guten Eltern, keine gute Mutter gewesen zu sein. Didion glaubt, dass sie es sich nie gestattet hat, es sich nicht “erlauben konnte”, ihre Tochter wirklich zu sehen. Die Persönlichkeit ihrer Tochter. Die schöne Zeit, die Augenblicke, die man miteinander hätte genießen können.

“Habe ich ihr ganzes Leben dafür gesorgt, dass es eine schalldichte Wand zwischen uns gab? Zog ich es vor, das, was sie wirklich sagte, nicht zu hören.”

Didion schreibt auch über ihre zunehmende körperliche Schwäche, die sie empfindet, für die die Ärzte jedoch keine Ursache finden können. Zumindest keine medizinische. Eines Tages stürzt sie in ihrer eigenen Wohnung und schafft es trotz dreizehn Telefonen nicht, sich Hilfe zu rufen. Zwei Tage lang liegt sie dort auf dem Boden.

Und doch kann sie am Ende ihrer Aufzeichnungen darüber berichten, dass die Trauer um Quintana stetig geringer wird. Wobei geringer sicherlich das falsche Wort ist – es wird täglich aushaltbarer, erträglicher. Was ihr dabei vor allem hilft, ist ihre Arbeit. “In Schwung zu bleiben” nennt Didion das. Trotz Quintanas Tod schafft sie es kurz darauf zu ihrer geplanten Lesereise aufzubrechen.

“Ich kann es mir jetzt erlauben, an sie zu denken. Ich weine nicht mehr, wenn ich ihren Namen höre. Ich stelle mir nicht mehr vor, wie der Transporter gerufen wird, um sie ins Leichenschauhaus zu bringen, nachdem wir die Intensivstation verlassen haben.”

Was am Ende bleibt, sind viele blinde Flecken, die auch von Didion nicht ausgefüllt werden können. Sie schweigt darüber. Über Quintanas biologische Familie, die sich plötzlich wieder zurück in ihr Leben drängelte. Über Quintanas psychische Verfassung – die Ärzte diagnostizieren eine Borderline-Störung. Und auch Quintanas Alkoholsucht bleibt nahezu unerwährt. Seltsam ausgespart.

“Blaue Stunden” hat mir gefallen. Joan Didion ist eine interessante und bewundernswerte Frau, mit vielen faszinierenden Gedanken. Ihr Bericht beschäftigt sich mit den wohl wichtigsten menschlichen Themen, dem Altern und dem Tod. Die rohe Sprache und der leicht unfertige Anschein verleihen dem Text eine ganz besondere Stimmung und ich habe mich beim Lesen gefühlt, als würde ich ganz sacht Didions Gedankenstrom verfolgen. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass das Buch hervorragend von der Autorin Antje Rávic Strubel übersetzt wurde.

Und dennoch reicht “Blaue Stunden” für mich nicht an “Das Jahr magischen Denkens” heran, das mich damals noch ein bisschen mehr packen und begeistern konnte. Eine gelungen Fortsetzung ist “Blaue Stunden” mit Sicherheit – doch allen Didion-Anfängern würde ich wohl eher “Das Jahr magischen Denkens” zum Einstieg empfehlen.

10 Comments

  • Reply
    lesesilly
    March 7, 2012 at 8:57 pm

    Liebe Mara,

    ich habe heute “Das Jahr magischen Denkens” zu Ende gelesen und bin mir nicht ganz sicher, was ich davon halten soll. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Auf der einen Seite ist die Thematik der Trauerbewältigung sehr interessant, andererseits hatte ich mir von dem Buch erwartet, dass es mir die Geschichte als Roman erzählt. Es ist aber, finde ich, eher ein Sachbuch. Da du in deiner Rezension schreibst, dass “Blaue Stunden” nicht an “Das Jahr magischen Denkens” heranreicht, werde ich es wohl nicht lesen (was ich ursprünglich vorhatte). Oder wie siehst du es? Vielleicht bin ich ja mit den falschen Voraussetzungen an die Lektüre herangegangen.

    LG
    lesesilly

    P.S. Ich fange jetzt aufgrund deiner Empfehlung mit “Sturz der Tage in die Nacht” an. Vielleicht bin ich damit besser bedient.

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      buzzaldrinsblog
      March 9, 2012 at 7:10 pm

      Liebe lesesilly,

      ich habe mich sehr über deinen Kommentar bei mir gefreut. In den letzten Tagen hat sich hier einiges gestaut, so dass ich leider erst jetzt dazu komme, dir auch in der angemessenen Ruhe antworten zu können.
      “Das Jahr magischen Denkens” wird vom Verlag selber als ein Sachbuch bezeichnet, von daher könnte ich mir vorstellen, dass du vielleicht doch mit falschen Erwartungen an die Lektüre herangegangen bist. Mich hat die Lektüre damals sehr begeistert, gerade auch weil Joan Didion sehr nüchtern und sachlich schreibt – wie in einem Sachbuch. Ganz anders habe ich zum Beispiel Joyce Carol Oates Trauerbewältigung empfunden, deren Buch ich eher als Roman bezeichnen würde.
      Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass du ein Buch liest, was dir nicht gefällt und was ich dir auch noch empfehle – ich würde aber sagen, dass dir “Blaue Stunden” vielleicht sogar doch gefallen könnte. Es unterscheidet sich von “Das Jahr magischen Denkens” und entfernt sich zum Teil auch von dem Sachbuchcharakter. Ich glaube nicht, dass ich es als Roman bezeichnen würde, es kommt diesem aber nahe …

      Liebe Grüße
      Mara

      P.S.: Ui, das freut mich aber! Ich bin sehr gespannt, wie dir der Roman gefallen wird!

  • Reply
    Weberin
    March 8, 2012 at 8:34 am

    Ich beneide Dich ein wenig, weil Du das Buch schon lesen konntest. Ich habe Joan Didion durch ihre großartige Übersetzerin Antje Rávic Strubel kennengelernt, mit ihrem Essayband “Wir schreiben, um zu leben” und mit dem großartigen Roman “Demokratie”, den ich mittlerweile wohl drei Mal gelesen habe.
    Was ich bislang an Rezensionen über Blaue Stunden gelesen habe, auch hier bei Dir, macht mich ungeheuer neugierig, ich bewundere diesen Mut, sich der Trauer auszusetzen, ohne ihr vollkommen nachzugeben. Ich glaube, es wird für mich ein Buch sein, das ich schwer aushalte zu lesen. Wie war das bei Dir?
    Ich glaube das Jahr magischen Denkens war harmloser. Es ist schlimm seinen Mann zu verlieren, sie schreibt in diesem Buch ja auch irgendwo davon, was Ehe ist, und was es vor diesem Hintergrund bedeutet, wenn jemand nicht mehr da ist, dass sie beinahe verrückt geworden ist daran, aber dann: alt geworden, den Mann verloren und dann auch noch die Tochter. In der Zeit wurde sie als “Überlebende” bezeichnet und als solche hat sie dieses Buch wohl auch geschrieben.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 9, 2012 at 7:19 pm

      Hallo liebe Weberin,
      ich freue mich sehr über deinen Besuch bei mir und heiße dich erst einmal herzlich Willkommen! Herzlichen Dank auch für deinen schönen Kommentar, der mich sehr glücklich gemacht hat.
      “Demokratie” und “Wir schreiben, um zu leben” stehen hier noch ungelesen im Regal und dein Kommentar hat mir eine Menge Vorfreude darauf gemacht. Am liebsten würde ich sofort anfangen, eines der beiden Bücher zu lesen – leider warten hier aber auch noch eine Menge anderer Bücher darauf gelesen zu werden.
      Ich bewundere Joan Didion auch dafür, sich ihrer Trauer so schonungslos auszusetzen, ohne dabei selbst unterzugehen. Das Lesen ist zwischendurch in der Tat immer wieder sehr schwer, sehr schwer auszuhalten und zu ertragen. Da ich noch jung bin und keine eigenen Kinder habe, fühle ich mich weniger betroffen, als Leser, die selber Eltern sind. Joan Didion bringt auch zwei eindrückliche Zitate, die mir beim Lesen deines Kommentars eingefallen sind:

      “Es ist grausam sich sterben zu sehen ohne Kinder” von Napoleon Bonaparte.
      “Lässt für die Sterblichen größeres Leid sich erdenken, als sterben zu sehen die Kinder?” sagt Euripides.

      Und Joan Didion sagt selbst “Wenn wir von Sterblichkeit reden, reden wir von unseren Kindern”.
      Joan Didion ist in der Tat eine Überlebende und ich bewundere sie sehr für ihre Stärke, aber auch für ihren Mut.
      Liebe Grüße,
      Mara

  • Reply
    Mila
    March 9, 2012 at 3:45 pm

    Ich mochte “Das Jahr magischen Denkens” sehr. Leider ist es bislang das einzige Buch von Didion geblieben, das ich gelesen habe. Das wird sich durch deine Rezension jetzt ändern. Was du über die Geschichte schreibst, berührt mich. Die Schuldgefühle Didions ihrer toten Tochter gegenüber. (Trauer hat wohl immer sehr, sehr viel mit Schuldgefühlen zu tun.) Ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. “Blaue Stunden” ist ein wunderbarer Titel. LG Mila

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 11, 2012 at 2:36 pm

      Liebe Mila,

      “Blaue Stunden” ist mein drittes Buch von Didion, vor ein paar Jahren habe ich von ihr den Essayband “Die Stunde der Bestie” gelesen.
      “Blaue Stunden” ist in der Tat ein schöner Titel und ich bin schon sehr gespannt zu hören, wie dir ihre Auseinandersetzung mit dem Tod ihrer Tochter gefallen wird.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    haushundhirschblog
    March 9, 2012 at 6:45 pm

    Eine Rezension, die uns sehr anspricht, über “Aufzeichnugen”, deren Thematik uns einfach interessiert. Von Didion haben wir noch nichts gelesen, aber Dein Text und auch der Kommentar der Weberin vermitteln eine Stimmung, auf die wir uns sehr gerne einlassen wollen.
    Du schreibst, der Text “wirkt zum Teil unfertig, an einigen Stellen wie zerstückelt. Es fehlen Sinnzusammenhänge.”. So, wie sich auch Trauer häufig zeigt und anfühlt, unfertig, sich immer wieder verändernd, wandelnd, widersprüchlich. Ob man irgendwann einen Sinn oder Sinnzusammenhang findet, kann ja fraglich sein. Wenn sich dies in der Sprache der Autorin oder Übersetzerin zeigt, würde mir das sehr gefallen.

    Vielen Dank für Deine Besprechung,
    mb

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 13, 2012 at 1:31 pm

      Hallo ihr 🙂
      ich freue mich, dass ich euch ansprechen konnte mit meiner Rezension. Wenn ihr von Didion noch nichts gelesen habt, kann ich euch natürlich auch noch “Das Jahr magischen Denkens” ans Herz legen, das mich – wie erwähnt – noch stärker begeistert hat.
      Ich finde es auch faszinierend, wie sich Didions Trauer und Selbstzweifel, ihre Schuld und Verzweiflung im Text widerspiegeln. An fast jeder Stelle sickert dies zwischen den Zeilen durch. So habe ich es zumindest empfunden. Antje Rávic Strubel hat ihre Aufzeichnungen wirklich genial übersetzt.

      Ich würde mich freuen zu hören, wie es dir/euch gefallen wird!
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Happy Birthday, Joan Didion! - Buzzaldrins Bücher
    December 5, 2014 at 10:33 am

    […] damit umgehen können, dass uns die Zeit häufig durch die Finger rinnt. Zuletzt las ich von ihr Blaue Stunden, ein Buch, in dem sie den Verlust ihrer Tochter aufarbeitet, die nur zwei Jahr nach dem Tod ihres […]

  • Reply
    Joan Didion: Die Mitte wird nicht halten
    October 29, 2017 at 1:52 pm

    […] damit umgehen können, dass uns die Zeit häufig durch die Finger rinnt. Zuletzt habe ich von ihr Blaue Stunden gelesen, ein Buch, in dem sie den Verlust ihrer Tochter aufarbeitet, die nur zwei Jahr nach dem […]

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