Abzählen – Tamta Melaschwili

Download tamtaDie georgische Autorin Tamta Melaschwili erzählt in ihrem Debütroman “Abzählen” von zwei dreizehnjährigen Mädchen im Krieg: Ninzo und Ketewan, genannt Zknapi – was so viel wie Krümel oder Knirps bedeutet. Mittwoch, Donnerstag, Freitag – Melaschwili erzählt von diesen drei Tagen im Leben der beiden Mädchen. Beide leben in einem nicht näher bezeichneten Gebiet, in dem Krieg herrscht.

“Was ist das für ein Krieg?, das ist kein Krieg. Die einen hier, die anderen dort und mittendrin nichts.”

Obwohl es einen Krieg gibt, bleibt dieser im Text seltsam außen vor – man könnte schon fast sagen: draußen vor der Tür. Bemerkbar wird der Krieg vor allem daran, dass es kaum noch Bewohner gibt, die in dem Gebiet leben, in dem Ninzo und Zknapi wohnen. Das Dorf ist verwaist. Zurück geblieben sind die Kinder, Frauen und alten Menschen. Es gibt kaum noch Lebensmittel, die umgebenden Felder sind vermint, Flugzeuge überfliegen das Dorf, eine medizinische Versorgung ist nicht mehr möglich. Deutlich wird das, als Ninzo und Zknapi auf eine schwangere Frau treffen:

“[…] und sieh doch, wie elend wir dran sind. Ich weiß nicht, wo sie entbinden kann, wohin wir gehen oder an wen wir uns wenden sollen. Bei uns gibts weder einen Arzt noch sonst jemanden. Nur noch so arme Schlucker wie wir. Wer Gelegenheit hatte, ist weg und hat sich gerettet. Was kann die schon umbringen?, denen gehört die ganze Welt und das Leben auch. Aber Leute wie wir müssen hier krepieren.”

Der Tod ist für die beiden Mädchen allgegenwärtig: Zknapi lebt bei ihrer Mutter, die sterben möchte, da sie keine Milch mehr produziert, um Zknapis kleinen Bruder zu stillen und dabei zusehen muss, wie dieser langsam stirbt. Ninzo lebt mit ihrer Großmutter zusammen, die sehr krank ist und jederzeit sterben kann. Obwohl die beiden Mädchen erst dreizehn sind, wird es zu ihrer Aufgabe, sich um ihre Angehörigen zu kümmern – Zknapi besorgt für ihren Bruder Ziegenmilch und Ninzo sticht Spitzwegerich aus, gegen das Wundliegen ihrer Großmutter. Ihre Väter sind verschwunden.

Dass Krieg ist, wird auch an alltäglichen Begebenheiten deutlich: auf einem Spaziergang finden Ninzo und Zknapi eine Leiche in der Schlucht. Ihre größte Sorge ist, dass die kleinen Jungen, die zum Spielen in die Schlucht gehen, die Leiche auch entdecken könnten.

“Sagt Ninzo: Sieh mal! Sie dreht sich um und hält sich die Hände vors Gesicht. Ich halt mir auch sofort die Nase zu. Pfui. Sagt Ninzo: Was ist das Weiße? Sie dreht den Kopf zu mir. Sag ich: Wer weiß, vielleicht das Gehirn?”

Doch trotz der Ausnahmesituation des Krieges, versuchen sich beide ihre Unbekümmertheit zu erhalten: beide müssen stehlen und Drogen schmuggeln, um ihr Überleben zu sichern, aber ihre Gespräche drehen sich gleichzeitig auch um Jungs, die erste Periode oder die Größe der Brust.

“Ich hol ein Bonbon aus der Tasche und reich es ihr. Da, bitte. Ninzo schaut erst etwas verdrossen drauf, wickelt es aber dann endlich aus. Sie kichert: Iiii, auch noch eins zum Lutschen. Sag ich: Du bist unmöglich. Sagt Ninzo: Nur weil Krieg ist, sonst hätt ich das nie angerührt.”

Dieses Zitat ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Text von Tamta Melaschwili strukturiert ist: er besteht beinahe ausschließlich aus dieser sehr rhythmischen Dialogform (Sagt Ninzo: […], Sag ich: […]). Am Anfang hatte ich etwas Schwierigkeiten in diesen besonderen und außergewöhnlichen Stil reinzufinden, aber mit der Zeit hat sich beim Lesen ein ganz eigener melodischer Rhythmus entwickelt.

Das Ende des Romans ist immer wieder abzusehen, vorauszuahnen und doch, es hat mich mit einer unvorstellbaren Wucht getroffen. Im Bucheinband gibt es ein Zitat, in dem das Buch dafür gelobt wird, dass es den Leser mit “Sniper-Genauigkeit ins Herz” trifft – das finde ich ein sehr schönes Bild für das, was ich beim Lesen empfunden habe.

Ergänzt wird der Roman durch ein sehr interessantes Nachwort der jungen georgischen Autorin.

“Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass die Tragödie, wie sie in Abzählen geschieht, überall passieren kann: in Georgien, Kosovo oder Ruanda. Ich wollte zeigen, dass es außer dem Krieg der Politiker und des Militärs noch einen anderen Krieg gibt, den der Menschen und Kinder. Und ebendieser Krieg ist am grausamsten, auch weil darin soziale Ungerechtigkeit viel stärker zum Ausdruck kommt.”

Ich würde sagen, dass das Tamta Melaschwili sehr überzeugend gelungen ist, dies zum Ausdruck zu bringen. Der Roman ist mit 104 Seiten sehr schmal, bringt aber gerade dadurch viel zum Ausdruck: an keiner Stelle läuft Melaschwili Gefahr, in Sentimentalitäten abzugleiten oder auf die Tränendrüse zu drücken. Ganz im Gegenteil, ihr Text wirkt unheimlich reduziert. Gerade durch diese Reduzierung hat die Geschichte von Ninzo und Zknapi geschafft, mich sehr tief zu berühren.

Ein Roman, dem ich viele Leser wünschen würde.

5 Comments

  • Reply
    Brigitte
    March 30, 2012 at 5:23 pm

    Liebe Mara,
    was für eine schöne Rezi! Und ich freue mich sehr, dass das Buch Dir gefallen hat.
    Mir ist es selten bei einem Buch so ergangen wie hier, dass mir das nicht Gesagte, das zwischen den Zeilen Stehende ebenso, wenn nicht stellenweise wichtiger wurde wie das, was Tamta Melaschwili zu Papier gebracht hat.
    Du sprichst vom “melodischen Rythmus”, ich fand, das es in gewissermaßen singt, auf eine ganz eigene, mir sehr fremde Weise, die aber trotzdem mein Herz mit Wucht traf.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 1, 2012 at 2:01 pm

      Liebe Brigitte,
      was für eine schöne Empfehlung von dir – ohne deine überzeugende Rezension, wäre ich (wie so häufig zuvor) wohl auf dieses Buch nicht aufmerksam geworden! Das muss ja noch einmal erwähnt werden an dieser Stelle. 🙂
      Ich finde es wirklich interessant, wie sehr die reduzierte Sprache von Tamta Melaschwili für mein Empfinden funktioniert hat. Vieles bleibt außen vor, ungesagt, unausgeprochen und doch ist es so enorm präsent, trieft durch jede Lücke zwischen den Worten. Durch das, was nicht gesagt wird, wirkt der Text für mich viel stärker., viel wuchtiger.
      Am Anfang habe ich diesen “melodischen Rhythmus” als etwas sperrig und schwer zugänglich empfunden, dieses Gefühl ist aber auf den ersten Seiten schnell verloren gegangen und dann ist der Rhythmus mir im wahrsten Sinne des Wortes ins Blut übergegangen.
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Eva Jancak
    April 28, 2013 at 6:39 am

    Hat mich auch sehr beeindruckt, als ich wahrscheinlich vor einem Jahr von dem Buch in Ex Libris hörte und es mir dann zum Geburtstag schenken ließ. Die Autorin war auch auf der Buch-Wien und wurde dort sehr prominent präsentiert, die Leipzig 2012 habe ich sie glaube ich auch gesehen

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 28, 2013 at 11:31 am

      Liebe Eva,

      ich habe das Buch als unglaublich beeindruckende Lektüre empfunden. Es fällt durch seinen Schreibstil raus aus den üblichen Veröffentlichungen, hat mich aber um so mehr überzeugt. Ich hoffe sehr, dass die Autorin bald ein weiteres Buch vorlegen wird. 🙂

  • Reply
    Techno der Jaguare. Neue Erzählerinnen aus Georgien – Manana Tandaschwili, Jost Gippert (Hrsg.) | buzzaldrins Bücher
    September 20, 2013 at 9:25 am

    […] haben – beide sind auch in dieser Anthologie vertreten. Nachdem mich im vergangenen Jahr “Abzählen” von Tamta Melaschwili begeistern und berühren konnte, war für mich schnell klar, dass ich an […]

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