Den Oridongo hinauf – Ingvar Ambjørnsen

“Den Oridongo hinauf” ist meine erste Begegnung mit dem norwegischen Schriftsteller Ingvar Ambjørnsen – der mittlerweile in Hamburg lebt – gewesen. Berühmt wurde er vor allem durch seine “Elling”-Romane, die sich um das Leben des psychisch labilen Ellings drehen und sogar sehr erfolgreich verfilmt worden sind.

Zu dem Roman “Den Oridongo hinauf” wurde  Ingvar Ambjørnsen durch ein Bild des britischen Malers Jack Vettriano inspiriert. Darauf zu sehen ist ein Mann mit einem Hut, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Koffer. So steht er scheinbar einsam an einer Küste und blickt auf das Wasser hinaus. Diesen Mann findet man in Ambjørnsens Roman wieder, es ist der ungefähr fünfzigjährige Ich-Erzähler des Romans Ulf Vågsvik, von seinen Freunden wird er auch der Vågsvikinger genannt.  Man erfährt, dass Ulf nicht der wahre Name des Mannes ist, er hat ihn sich selbst gegeben, als er sein altes Leben hinter sich gelassen hat. Sein altes Leben umschreibt er mit der Wendung “den Oridongo hinauf” – bei dem Oridongo handelt es sich nicht um einen realen Fluss, er existiert nur in Ulfs Kopf, in seiner Fantasie.

“[…] ich fahre den Oridongo hinauf, den düsteren Strom hinauf, und es ist so heiß und feucht und hämmernd einsam, so erfüllt von Krankheit und Sehnsucht, und wenn die Motoren ausgeschaltet werden, kann ich daliegen, die Hände vors Gesicht geschlagen oder zwischen die Oberschenkel geschoben, und dem Geplapper der Vögel des Dschungels lauschen, oder Lachen und Weinen aus den anderen Kajüten und von Deck […], ich kann einfach ganz still daliegen, und Sekunden, Minuten und Stunden zerbrechen.” 

Auf dem Weg den Oridongo hinauf, hat er seine Haare gelassen. Aber sonst erinnert Ulf Vågsvik nichts mehr an sein altes Leben, er hat es hinter sich gelassen, sich einen neuen Namen gegeben, einen Hut gekauft und er ist aus der “Satellitenstadt” Oslo, in der er gewohnt hat, fortgezogen. Er zieht zu seiner Brieffreundin Berit auf eine kleine norwegische Insel und tritt damit in eine ganz neue Phase seines Lebens ein.

“Ich weiß noch, wie ich hier eintraf und mich schon entschieden hatte zu bleiben. Das war vielleicht voreilig, da ich vorher nicht mit Berit darüber gesprochen hatte, jedenfalls nicht so gründlich, wie es nötig gewesen wäre, aber es kam mir so vor, als hätte ich keine Wahl. Während der ganzen Reise, mit Zug und Bus und Fähre, dachte ich, dass ich es nicht ertragen könnte, noch länger an dem Ort zu bleiben, der für mich Nirgendwo war. Ich musste in ein Haus kommen, wie einer, der durch eine Winternacht stolpert: Zu einem gewissen Zeitpunkt braucht man Wände um sich herum, ein Dach über dem Kopf, Boden unter den Füßen – sonst erfriert man. Die Lage war ernst.”

Ulf ist glücklich mit Berit, auch wenn ich als Leser zwischendurch immer wieder das Gefühl hatte, dass viel Ungesagtes, viel Unausgeprochenes zwischen den beiden steht. Ihre Beziehung wirkt undefiniert, auch wenn es körperlichen Kontakt zwischen ihnen gibt, muss Ulf auch viele Nächte auf dem Diwan oder im Kinderzimmer schlafen. Einige Jahre zuvor ist Berits Mann Magne gestorben, Ulf hat das Gefühl, seinen Platz einzunehmen, die Lücke, die Magne hinterlassen hat, in irgendeiner Art zu füllen.

“Ich bin in deine Fußstapfen getreten, dort, wo du den Pfad verlassen hast, Magne, so war das. Daran denke ich jedesmal, wenn ich auf den Gang hinausgehe und deine Windjacke anziehe […].”

An einer Stelle sagt Ulf über Berit: Sie, der ich alles schulde.  Berit ist die Frau, die ihn gerettet und aufgenommen hat, die ihn mit ihren Briefen erreichen konnte, als er gerade den Oridongo hinauf fuhr. Das, was damals passiert ist, ist vorbei, es ist Vergangenheit und wird von Ulf als etwas Vergangenes betrachtet. Doch Ulf muss erfahren, dass die Vergangenheit einen wieder einholen kann, dass der Oridongo manche Menschen nur für kurze Zeit freigibt.

Als sich eine niederländische Familie dazu entscheidet, auf die kleine norwegische Insel zu ziehen, um dort in einem restaurierten Haus zu wohnen, überschlagen sich die Ereignisse. Bei der Willkommenszeremonie verstirbt der Vater, der Sohn verschwindet. Die Insel gerät in einen zuvor noch nie gekannten Aufruhr und auch wenn Tom, der Sohn, wieder aufgefunden wird, ist nichts mehr so wie vorher. Tom spricht nicht mehr, ist in sich selbst verschlossen. Der einzige, der Zugang zu ihm zu bekommen scheint, ist Ulf. Ulf, der sich in diesem kleinen Jungen wiedererkennt, der selbst als Kind sprachlos war.

“Für mich jedoch gibt es Müßiggang, Alleingang, das Leben scheint keine Verwendung für mich zu haben, als Kind kann ich nicht begreifen, warum ich in dieser fast unerträglichen Einsamkeit existiere, die ja notwendigerweise in der Gemeinschaft des anderes bestehen muss, es wirkt wie ein Hohn, nein, es ist ein Hohn. Sie verhöhnen mich. Am Ende verliere ich die Sprache, genauer gesagt, ich verweigere sie.”

Ulf hat sich sein ganzes Leben lang weggejagt und unerwünscht gefühlt. Erst bei Berit hat er ein Zuhause finden können. Hier kommt er zur Ruhe, findet zu sich selbst – all dies wird durch die turbulenten Ereignisse rund um die niederländische Familie und eine Brücke die gebaut werden soll auf die Probe gestellt. Ulf muss aushalten, dass er mit seinem alten Leben, seinem alten Ich, seiner Kindheit konfrontiert wird.

“Einer wie du. Es ist eine Wortkombination, die ich bisher nicht ertragen konnte. Das hat seine Gründe. Ich habe sie in meinem Leben so oft gehört, immer war sie negativ geladen. Einer wie du.”

Ingvar Ambjørnsen ist mit dem Roman “Den Oridongo hinauf” ein fantastisches Buch gelungen. In einer, wie DIE ZEIT sehr treffend schreibt, schon fast meditativen Sprache, entwickelt der Roman einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Die Beschreibungen von Ambjørnsen sind überwiegend nüchtern und schlicht, aber gerade dadurch gelingt es ihm die besondere Stimmung auf der kleinen norwegischen Insel – die übrigens Vaksøy heißt – einzufangen und abzubilden.

Für mich hat die Spannung des Romans vor allem der Erzähler Ulf ausgemacht, ich wollte mehr aus seiner Vergangenheit, aus seinem Leben erfahren. Ohne zu viel Spannung vorweg nehmen zu wollen, kann ich verraten, dass man Stück für Stück, immer wieder eingestreut, Bruchstücke des Vergangenen erfährt. Und doch habe ich gehofft, mehr zu erfahren, mehr erklärt zu bekommen. Aber vielleicht geht es darum auch gar nicht. Vielleicht geht es viel mehr darum, dass Ulf es zumindest zeitweise gelingt, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich ein neues Leben aufzubauen. Er findet in Berit sogar eine Vertraute, auch wenn beide ein seltsames Paar sind. Wie Ulf sich zurechtfindet, wie es ihm gelingt, wieder zu sich zu finden und aus nichts etwas Neues aufzubauen, hat mich am meisten beeindruckt.

Ein eigenwilliger Roman, der sich jedem klassischen Genre entzieht. Mich konnte er vor allem aufgrund der faszinierenden Perspektive von Ulf und einer an vielen Stellen poetischen Sprache überzeugen. Vieles behält der Roman für sich, was ich jedoch als Stärke empfunden habe: der Leser ist gezwungen, eigene Schlüsse zu ziehen. Was genau der Oridongo ist, muss jeder für sich allein entscheiden.

9 Comments

  • Reply
    atalante
    April 26, 2012 at 6:35 am

    Ja, ja, die schweigsamen Wikinger. 😉 Trotzdem, Deine Rezension stimmt sehr schön in die Atmosphäre des Romans ein. Sicherlich ein gutes Buch für Literaturdiskussionen.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 26, 2012 at 11:08 am

      Liebe atalante,
      ja, ich denke auch, dass das Buch sehr gut für Literaturdiskussionen geeignet ist, da es auch vieles offen lässt. Über vieles kann gesprochen und diskutiert werden. Die Atmosphäre des Romans ist etwas ganz besonderes. Beim Lesen von “Den Oridongo hinauf” habe ich realisiert, dass ich einfach eine Schwäche für skandinavische Literatur habe – der Schreibstil hat mich sehr an Karl Ove Knausgard erinnert, dessen Buch “Lieben” ich unlängst sehr interessiert gelesen habe.
      Ich kann dieses großartige Buch nur empfehlen und bin schon gespannt auf deine Gedanken dazu, falls du es lesen solltest.
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    atalante
    April 26, 2012 at 11:59 am

    Von Knausgard habe ich schon viel Begeistertes gehört, Mara. Vielleicht begegnet mir der Roman irgendwann einmal, momentan habe ich noch andere Lesepläne. Die skandinavische Literatur ist mir oft zu düster, angefüllt mit unausgesprochenen Beziehungsstörungen.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 27, 2012 at 6:47 am

      Du schreibst, dass dir skandinavische Literatur oft zu düster ist, “angefüllt mit unausgesprochenen Beziehungsstörungen” – die Formulierung hat mir sehr gut gefallen und ich empfinde sie als zutreffend. Auch die Beziehung zwischen Ulf und Berit in “Den Oridongo hinauf” ist seltsam, befremdlich, vielleicht sogar gestört. Und doch haben beide zueinander finden können.
      Dieses düstere, all das Nichtgesagte ist für mich gerade das reizvolle an skandinavischer Literatur … 😉

  • Reply
    Conor
    June 1, 2012 at 7:41 am

    Dank dir, Mara, durfte ich diesen wunderbaren, aber auch etwas verstörenden Roman lesen, der mich gedanklich immer noch beschäftigt – es bleiben doch einige Fragen offen, was mich aber überhaupt nicht stört – im Gegenteil!
    Danke nochmals für deine vielen schönen Rezensionen und die vielen Lese-Anregungen.:)

    Liebe Grüße
    Conor

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 1, 2012 at 10:16 am

      Liebe Conor,
      ich freue mich sehr darüber, dass dir der Roman so gut gefallen hat. Auch in mir hat der Text noch lange nachgewirkt. Wenn ich ein bisschen mehr Luft habe, möchte ich auf jeden Fall weiteres von Ingvar Ambjørnsen lesen – am liebsten die Elling-Romane.
      Ich danke dir für deine vielen lieben Kommentare und deine Begeisterung – da macht das Schreiben und Rezensieren gleich doppelt so viel Spaß!

  • Reply
    literaturen
    January 7, 2013 at 9:15 am

    Ich habe mich ja jetzt lange zurückgehalten, deine Rezension zu lesen, bevor ich meine geschrieben habe und es bringt mich mal wieder zum Schmunzeln, dass ich das Buch ganz ähnlich empfunden habe wie Du. Und dass das erste Zitat, was wir einstreuen, auch noch dasselbe ist. Ich war zuerst auch ein kleines bisschen enttäuscht, dass wir nicht mehr von Ulf erfahren haben, kam dann aber zu genau demselben Schluss wie Du – ist das denn si wichtig? Ist jedenfalls eine wirklich gute Rezension geworden – also, deine, nicht meine -, die ich nur in Gänze so unterschreiben kann. (;

  • Reply
    Eine lange Nacht auf Erden – Ingvar Ambjørnsen | buzzaldrins Bücher
    October 18, 2013 at 1:50 pm

    […] “Elling”-Romanfolge. Zuletzt erschien von ihm im vergangenen Jahr der lesenswerte Roman “Den Oridongo hinauf”. “Eine lange Nacht auf Erden” ist seine neuste Veröffentlichung und wurde aus dem […]

  • Reply
    Auf zu den Sternen mit Buzz Aldrins Blog | Elementares Lesen
    March 27, 2014 at 4:19 pm

    […] Ingvar Ambjørnsen: Den Oridongo hinauf: über einen Mann, der seine Vergangenheit hinter sich lassen möchte und deshalb Zuflucht auf einer kleinen norwegische Insel sucht. Schon die Elling-Romane des Autors haben mir sehr gut gefallen. Ich mag solche verschrobenen Typen. ∗∗∗∗∗ […]

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