Der Kommandant – Jürg Amann

Jürg Amann ist ein Schweizer Schriftsteller, es ist jedoch Zufall, dass ich nach “Zur falschen Zeit” von Alain Claude Sulzer erneut das Buch eines Schweizer Autoren lese. Das Buch “Der Kommandant” hat mich in meinem Vorhaben bestätigt, in Zukunft noch mehr Bücher aus unserem Nachbarland entdecken zu wollen. Für mich war dieses Buch die erste Begegnung mit dem Schriftsteller Jürg Aumann, der in den siebziger Jahren über Franz Kafka promovierte und heutzutage als Journalist und freier Schriftsteller arbeitet.

“Angesichts der Wirklichkeit ist alles Erfinden obszön.”

Diesen Satz setzt Jürg Amann an den Anfang seiner editorischen Notiz, die am Ende des Buchs zusätzliche Erklärungen und Informationen liefert. Die Grundlage für den Text von Jürg Amann bilden die Aufzeichnungen von Rudolf Höß, die dieser während seiner Zeit im Untersuchungsgefängnis in Krakau niederschrieb. Rudolf Höß war Lagerkommandant in Auschwitz und wurde 1947 zum Tode verurteilt. Hinterlassen hat er dreihundert engbeschriebene Seiten. Jürg Amann hat dieses umfassende, authentische Dokument strukturiert und verknappt; auf seine “Essenz hin zugespitzt”. Er bezeichnet seinen Text als Monodrama in sechzehn Stationen. Der Begriff Monodrama bezeichnet Texte in der Literatur, in denen nur eine einzige Person auftritt. Der Text von Jürg Amann entstand – laut eigener Aussage – als Replik auf “Die Wohlgesinnten” von Jonathan Littell, der die Verbrechen des Nationalsozialismus fiktionalisierte, ein Vorgehen, bei dem sich bei Amann die inneren Haare irgendwie gesträubt haben. Die These, dass alles Erfinden obszön ist, angesichts der Wirklichkeit, ist sicherlich eine kontroverse These, die einseitig formuliert ist, doch wenn man diesen Satz im Kontext von Jonathan Littells Roman liest, dann kann er Sinn ergeben. Jürg Amann hat sich entschieden, die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht zu fiktionalisieren, sondern gibt dem Kommandanten und Kriegsverbrecher Rudolf Höß den Raum und den Rahmen, seine Geschichte und seine Erlebnisse mit seinen eigenen Worten zu schildern. Es fällt mir schwer zu beurteilen, inwieweit dieses Verfahren zulässig ist, geschweige denn zu beurteilen, inwieweit dieses Verfahren zulässiger ist, als die literarische Fiktionalisierung, wie Jonathan Littell sie betreibt. Jürg Amann entscheidet sich dazu, nicht zu fiktionalisieren, da er sich nicht in der Lage fühlt, sich in fiktiver Art und Weise einem Naziverbrecher zu nähern – er entscheidet sich dazu, auf historisches Material zurückzugreifen.

Beim Betrachten des Buchcovers fällt als erstes auf, dass die Schrift und Anordnung des Titels an die Inschrift vor dem Konzentrationslager in Auschwitz erinnert. Amanns Bearbeitung der Aufzeichnungen folgt der Chronologie des Originals:

“Ich, Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, will im Folgenden versuchen, über mein innerstes Leben Rechenschaft abzulegen. Ich will versuchen, aus der Erinnerung wirklichkeitsgetreu alle wesentlichen Vorgänge, alle Höhen und Tiefen meines psychischen Lebens und Erlebens wiederzugeben. Um das Gesamtbild möglichst vollständig zu umreißen, muss ich bis zu meinen frühesten Kindheitserlebnissen zurückgreifen.”

Zunächst wird die Kindheit und das Heranwachsen von Höß thematisiert: er hat eine Leidenschaft für Pferde und verbringt die meiste Zeit mit Hans, einem “kohlschwarzen Pony mit blitzenden Augen und langer Mähne”. Höß entstammt einem katholischen Elternhaus, seinen Vater bezeichnet er als fanatischen Katholiken. Zu seinen Eltern hat er ein gutes Verhältnis, doch Zärtlichkeit spielt in seinem Elternhaus keine Rolle – weder gehen seine Eltern miteinander zärtlich um, noch legt Rudolf Höß selbst schon in seiner frühesten Kindheit wert auf Zärtlichkeitsbekundungen. Ein Gefühl wie “Elternliebe” ist ihm fremd.

Ein Ereignis prägt ihn und sein Leben mit dreizehn Jahren nachhaltig: genauso wie seine Eltern ist Höß als Kind tief gläubig und nimmt seine religiösen Pflichten ernst – wird dann jedoch von seinem Beichtvater, zu dem er eine enge Beziehung hat, verraten und sehr schwer enttäuscht.  Nur ein Jahr später verstirbt sein Vater und es bricht der Krieg aus. Mit nur fünfzehn Jahren zieht Höß in den Krieg, ist mit siebzehn Jahren jüngster Unteroffizier und bleibt dem Soldatenleben auch nach dem Kriegsende verbunden, als er den Freikorps eintritt. Für ein Verbrechen, das er während seiner Tätigkeit im Freikorps begeht, wird Rudolf Höß zu einer sechsjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Während seiner Zeit als Soldat erlebt Höß zum ersten Mal ein Gefühl der Geborgenheit, des Aufgehobenseins, etwas, das er in seinem Elternhaus nie erlebt hat.

“Ich fand wieder eine Heimat, ein Geborgensein, in der Kameradschaft der Kameraden.”

1934 entscheidet sich Rudolf Höß dazu, wieder in seinen Beruf als Soldat zurückzukehren – Heinrich Himmler hatte ihn dazu aufgefordert, in die SS, in die Wachtruppe eines Konzentrationslagers, einzutreten.

“[ich] hatte […] mir über den Nachsatz, über das Konzentrationslager gar keine Gedanken gemacht. Der Begriff war mir zu fremd. Ich konnte mir darunter gar nichts vorstellen. In der Abgeschiedenheit unseres Landlebens in Pommern hatten wir kaum von einem Konzentrationslager etwas gehört.”

Es folgen beklemmende, sehr schwer verdauliche, sehr schwer zu ertragende Passagen. Rudolf Höß gesteht an einer Stelle: “Und hier beginnt eigentlich meine Schuld”. Seine Schuld, sein Versagen sieht er darin, dass er seinen Dienst nicht gekündigt hat, angesichts der Tatsache, wie viel Mitleid er mit den Gefangenen hat. Er erklärt an mehreren Stellen, nicht mit allen Befehlen einverstanden gewesen zu sein und auch keinen Hass für die Juden empfunden zu haben, doch als “alter Nationalist” war er von der Notwendigkeit der Konzentrationslager überzeugt. Das, was in den Konzentrationslagern geschieht – zunächst ist Höß in Sachsenhausen tätig, später dann in Auschwitz – übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Sehr schwer erträglich wird es, als Höß den Befehl erhält, Massenvernichtungen durchzuführen. Lange überdenkt man, das richtige Verfahren, um möglichst effizient zu sein – ich habe es als kaum zu ertragen empfunden, wie immer wieder über das Leben von Menschen gesprochen wird. An einer Stelle spricht Höß von etwas “Ungeheuerem”. Selbst für den Massenmörder Höß ist das Ausmaß dessen, was passiert, scheinbar nicht mehr einzuschätzen und zu überblicken.

Jürg Amann, der selbst sagt, nicht für den Inhalt verantwortlich zu sein, sondern lediglich für die Form, ist durch seine Verknappungen und Reduzierungen ein düsterer und beklemmender Blick auf ein fürchterliches Verbrechen gelungen. Durch die Literarisierung der Aufzeichnungen, ermöglicht Amann einen interessanten Zugang und Einblick in die Gedankenwelt eines Massenmörders, der in der Untersuchungshaft sitzend darum bemüht war, sein Leben und seine Taten vor sich selbst zu rechtfertigen.

Kritisch hinterfragen und diskutieren kann man sicherlich die Anmerkungen von Jürg Amann aus der editorischen Notiz: “Angesichts der Wirklichkeit ist alles Erfinden obszön. Vor allem da, wo man die Wirklichkeit haben kann.” Welche Wirklichkeit vermittelt Amann in seinem Monodrama? Die Wirklichkeit eines einzelnen Täters, der sich kurz vor einem Prozess stehend, selbst rechtfertigt? Ist diese Wirklichkeit nicht zwangsläufig gefärbt, wenn nicht gar verdreht und zurecht gebogen? Und inwiefern ist diese Wirklichkeit wirklicher, als die Fiktionalisierung von Jonathan Littell?

Jürg Amann ist mit “Der Kommandant” ein interessantes Experiment eingegangen, das mich zum Nachdenken gebracht und mit einigen offenen und interessanten Fragen zurückgelassen hat.

10 Comments

  • Reply
    buechermaniac
    June 8, 2012 at 7:52 am

    Liebe Mara

    Zuerst einmal möchte ich dir nur gratulieren, dass du die Schweizer Schriftsteller entdeckst und hier vorstellst. Ich bin soeben auch an einem Buch aus dem Jahre 1980 eines Schweizers, Hansjörg Schneider “Der Bub”, auf das Stefan Zweifel im Literaturclub hingewiesen hat.

    Das muss ganz schwer verdaulich sein, was du soeben gelesen hast. Ich habe mir gestern den Vierteiler “Gelobtes Land”, der auf Arte ausgestrahlt wurde, angesehen. Der Regisseur hat sich nicht gescheut, historische Aufnahmen aus Bergen-Belsen, bei der Befreiung, zu zeigen. Das war ganz fürchterlich zu ertragen und mir sind die Tränen nur so heruntergeflossen. Gewisse Ereignisse sind unerträglich und das von dir vorgestellte Buch wäre sicher gut für eine Diskussionsrunde, wenn man es dann erträgt, diesen Bericht zu lesen.

    Liebe Grüsse
    buechermaniac

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 8, 2012 at 6:03 pm

      Liebe buechermaniac,

      ja, die Schweizer Autoren haben es mir im Moment scheinbar wirklich angetan und ich freue mich schon sehr, weitere zu entdecken. Ich hoffe, ich finde eine Rezension zu “Der Bub” bei dir auf dem Blog. Schön übrigens, dass du Stefan Zweifel erwähnst, der hat mir in den Literaturclubsendungen, die ich gesehen habe, immer sehr gut gefallen.

      In der Tat ist “Der Kommandant” sehr schwer verdaulich, sowohl nach der Lektüre, als auch während des Lesens. An manchen Stellen glaubte ich, es nicht ertragen zu können. “Gelobtes Land” kenne ich nicht, aber ich habe mir den Titel notiert, auch wenn es sich erschreckend anhört – leichte Abendunterhaltung kann man da sicherlich nicht erwarten.
      Ich glaube auch, dass “Der Kommandant” sich ausgesprochen gut für eine Diskussionsrunde eignen würde, vor allem auch die editorische Notiz bietet viel Stoff zum Diskutieren. Ich kann mir aber vorstellen, dass nicht viele das Buch lesen möchten bzw. lesen werden, auch wenn ich mir wünschte, dass sich noch einige da ran wagen würden.

      Ganz herzlichen Dank für deinen tollen Kommentar!

  • Reply
    Jürg Amann: Der Kommandant « Jüdische Lebenswelten
    June 10, 2012 at 10:00 am

    […] weitere sehr lesenswerte Rezension gibt es bei buzzaldrins Bücher. Gefällt mir:Gefällt mirSei der Erste, dem diese(r) Artikel gefällt. « “Mehr […]

  • Reply
    caterina
    June 21, 2012 at 8:02 pm

    Liebe mara, nun endlich eine kurze Rückmeldung zu deiner Rezension, auch wenn schon einige Wochen seither vergangen sind. Aber die Frage, die du am Ende aufgeworfen hast, finde ich sehr spannend, und es gäbe viel dazu zu sagen – ich versuche, mich dennoch kurz zu halten. 😉

    Amanns Behauptung, angesichts der Wirklichkeit sei alles Erfinden obszön, ist natürlich diskussionswürdig, da bin ich derselben Meinung wie du. Das erinnert mich an die Stimmen, die sich noch bis in die 80er Jahre hinein erhoben und alle Fiktion um die Holocaust als Beleidigung für die Opfer verurteilten (oft mit Bezug auf Adornos berühmten und vielmals missverstandenen Ausspruch, alle Dichtung nach Auschwitz sei barbarisch). Einer der prominentesten Gegner der Fiktionalisierung des Holocaust war zum Beispiel Elie Wiesel, bekanntermaßen selbst ein Überlebender, der in Die Nacht seine Erfahrungen verarbeitete.

    Doch dass solch ein Ereignis, dessen Grauen die gesamte Menschheit erschütterte, Einzug in die Literatur findet, ist unvermeidbar. Literatur ist eine Möglichkeit, die Realität abzubilden, zu ergründen und vielleicht auch ein klein wenig zu begreifen. Vor allem aber ist es eine Möglichkeit, die Erinnerung wach zu halten, sie kann eine Art Mahnmal sein für die nachfolgenden Generation. Würden aber nur die Augenzeugen oder die Angehörigen der Opfer berichten, würde schnell Schweigen herrschen. Jetzt, wo die letzten Zeitzeugen verschwinden, wird dies umso deutlicher.

    Amann selbst ist kein Zeuge, aber er hat sich eines Zeitdokuments bedient, um die “Wirklichkeit” abzubilden. Allerdings – darin stimme ich dir zu – ist auch diese Wirklichkeit nur ein Ausschnitt, ein zutiefst subjektiver, einseitiger und verzerrter noch dazu. Er ist also zwar ein Teil der Wirklichkeit, nicht aber die einzig mögliche Wahrheit. Es gilt, diesen Ausschnitt zu ergänzen um weitere Ausschnitte, die das Bild komplettieren (auch wenn es womöglich nie ein vollständiges Bild des Holocaust geben kann und wird). Diese anderen Ausschnitte können Augenzeugenberichte und Memoiren von Überlebenden sein – aber genauso können es fiktive Geschichten sein, die deswegen nicht weniger authentisch sein müssen. Und schon gar nicht “obszön”.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 1, 2012 at 1:01 pm

      Liebe Caterina,
      eine sehr anstrengende Woche hat mich daran gehindert, dir früher auf deinen sehr interessanten Kommentar zu antworten. Dafür möchte ich mich ganz herzlich entschuldigen und gleichzeitig für deine interessanten Gedanken zu meiner Rezension bedanken.

      Die Haltung, die du ansprichst, kenne ich auch, auch das berühmte Zitat Adornos. Ich habe mich vor einiger Zeit im Rahmen meines Studiums einmal sehr intensiv mit dieser Thematik (Fiktionalisierung des Holocausts) beschäftigt, es gibt viele, sehr viele, interessante Texte und Gedanken in diesem Bereich. Denken musste ich gerade auch an ein Zitat Brechts, über das ich Freitag während eines Seminars gestolpert bin:

      “Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist – Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt?”

      Ich finde, dass du die Situation sehr gut in Worte gefasst hast, mir bleibt beinahe nur übrig, mich anzuschließen. Ich glaube nicht, dass es durch Literarisierung und Fiktionalisierung des Holocaust zu einer Banalisierung oder Verwischung der Erinnerungen und Fakten kommt. Die Fakten, die historischen Tatsachen, stehen fest und an denen kann auch kaum gerüttelt werden. Trotzdem ist es – wie du ja auch schreibst – wichtig, weiter erzählen zu dürfen. Ich glaube sogar, dass dieses Bedürfnis Geschichten zu erzählen eine elementare Bedeutung hat. Durch das Erzählen bekommt der Holocaust eine Bedeutung, es wird eine Art “Mahnmal” – wenn ich dein Wort gebrauchen darf – gesetzt.

      Amanns Versuch ist sicherlich interessant und ein wichtiger Baustein in der Beschäftigung mit dem Holocaust. Das sehe ich ähnlich wie du. Ich glaube nur, dass er daneben liegt mit seinem Nachwort und auch mit seinen Vorwürfen in Richtung Jonathan Littell.

      Ganz liebe Grüße und einen schönen Sonntag dir
      Mara

      • Reply
        caterina
        July 1, 2012 at 2:43 pm

        Liebe mara, kein Grund, dich zu entschuldigen! Und herzlichen Dank für das Brecht’sche Zitat – gerade im Lichte der Debatte um die Holocaust-Fiktionalisierung geht es unter die Haut.
        Ich wünsche dir ebenfalls einen schönen Sonntag.
        Herzlich,
        caterina

  • Reply
    Brigitte
    July 6, 2012 at 11:24 am

    Liebe Mara,
    das Buch habe ich nun auf Deine Empfehlung hin gelesen – und zwar direkt nach “Ich bin der letzte Jude” von Chil Rajchman. Derselbe “Sachverhalt” (was für ein Wort in dem Zusammenhang), zwei Seiten, die schildern.
    Beide Bücher haben mich zutiefst erschüttert. Aber: Die Erschütterung über das, was und vor allen Dingen wie Höß etwas sagt, ist eine andere als bei Rajchman. Dort war ich direkt dabei, an der Rampe, bei dem Treiben in die Gaskammern, bei … verharmlosend gesagt den Tätigkeiten als “Zahnarzt” und “Friseur”, ich habe mit gehungert und gefroren und ich habe mich gefragt, wann mein letztes bisschen Würde dahin ist. Anders bei Höß: Ich bin zutiefst erschüttert über die Kaltblütigkeit und absolute Gefühlskälte dieses Mannes. Und wenn er davon palavert, er hätte doch auch ein Herz (am Schluss, es gibt, wie Du weißt, noch andere Stellen), dann kommt mir das verlogen vor. Das glaube ich ihm schlicht nicht. Auch wenn von Historikern seine “Genauigkeit” bei den Berichten über Aufbau von Auschwitz etc. gerühmt wird und er viel zur Klärung von Detailfragen beigetragen hat.
    Ein anderes: Amanns Wirklichkeit von Höß, ist das auch die Wirklichkeit von Höß selber – sprich: Ist nicht jedes Kürzen, Zusammenfassen oder was auch immer nicht eine Interpretation dessen, was ich für die Wirklichkeit von xy halte?
    Das Littell-Buch konnte ich irgendwann nicht weiterlesen, will es aber noch einmal versuchen. Fest steht allerdings (für mich): Alle Fiktion kann letztlich nie die Wirklichkeit der Augenzeugen (auf welcher Seite sie auch immer standen) wiedergeben, es ist immer das Moment des “ich war nicht dabei” vorhanden.

    Auch wenn es eine extreme und extrem schwere Lektüre war: Danke für den Tipp
    Brigitte

  • Reply
    Brigitte
    July 6, 2012 at 11:45 am

    Was ich vergessen habe und um Missverständnissen vorzubeugen: Rajchman “durfte” die Wirklichkeit von Treblinka erleben – und die hatte es wahrlich in sich. Höß war ja auch in Treblinka und hat sich dort angeschaut, was er “verbessern” musste.
    Brigitte

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 22, 2012 at 11:09 am

      Liebe Brigitte,

      jetzt komme ich endlich dazu, dir zu antworten. Freitag war der letzte Tag meines Semesters und der Stress fällt jetzt langsam von mir ab, auch wenn mir noch drei Hausarbeiten bevorstehen, ich in der Bibliothek arbeite und ab August noch einen weiteren Nebenjob habe. Aber irgendwo muss das Geld für die vielen Bücher ja herkommen … 😉
      Ich habe deinen Kommentar mit sehr viel Interesse gelesen und möchte mich ganz herzlich dafür bedanken. Schon vor einigen Tagen habe ich mir deine Rezension zu dem Buch von Rachjman bei den Eulen angesehen und habe mir das Buch gleich notiert. Es war nicht das erste Mal, dass ich über diesen Titel gestolpert war. Ich kann mir in etwa vorstellen, dass die Empfindungen bei der Lektüre von “Ich bin der letzte Jude” andere sein müssen, als die, die man empfindet, wenn man die Gedanken von Höß ließt. Es gibt einige Passagen in “Der Kommandant”, in denen anklingt, dass es Höß leid tue, in denen sein Mitleid mit den Menschen durchscheint, und doch: auch ich kann ihm dieses nicht glauben. Zu klinisch, zu steril wirken diese Gefühle auf mich.

      Die Frage nach der Wirklichkeit ist sicherlich schwer zu beantworten. Wie wirklich ist die Wirklichkeit von Höß? Und was verändert sich an dieser Wirklichkeit durch das Eingreifen von Amann in den Text?

      Natürlich kann Fiktion nie die Wirklichkeit der Augenzeugen ersetzen und doch finde ich Fiktion, die fiktive Auseinandersetzung mit diesem Thema sehr wichtig. Es ist absehbar, dass es bald keine Augenzeugen mehr geben wird, die von ihrer Wirklichkeit berichten können, um so wichtiger ist es, dieses Ereignis im kulturellen Gedächtnis zu erhalten. Gestört habe ich mich lediglich an den radikalen Worten Amanns, der das Erfinden als “obszön” bezeichnet, angesichts der Wirklichkeit. Ich glaube nicht, dass sich sein Bericht so sehr unterscheidet von dem, was Jonathan Littell tut. Beide bilden einen Teil der Wirklichkeit ab.

      Ach, nur am Rande: ich habe “Die Wohlgesinnten” gelesen und kann dir nur empfehlen zu versuchen, noch einmal weiterzulesen. Es ist schwer zu ertragen, aber sehr gewinnbringend.

      Ganz liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    karatekadd
    December 21, 2015 at 5:40 pm

    Guten Abend.
    Seit DER TOD IST MEIN BERUF von Robert Merle hab ich nichts mehr von Höß gelesen. Hinzu kommt, dass in diesem Buch (1952) der Name Rudolf Lang benutzt wird. Grundlage bildeteten die Aufzeichnungen des Psychologen Gilbert, der nicht nur Höß sondern auch in Nürnberg viele der Angeklagten begutachtete.
    Der Einsatz einer fikiven Figur ist unbedingte Fiktion, sie hilft, sich in Zeit und Denken (auch bei diesem Thema) hineinzuversetzen ohne gleich das Gefühl zu haben ein Sachbuch oder eine Biografie zu lesen.

    Was den Höß betrifft, seit Hannah Arendts Beschreibung Eichmanns als Bamaität des Bösen scheint mir es durchaus möglich zu sein, dass “normale” Menschen zu nicht fassbaren Verbrechern werden können, sogar ohne Sadismus. Das “normal” in Anführungszeichen steht, zeigt die Scheu, “normal” in diesem Fall anzuwenden.

    Die Frage nach der Wirklichkeit des Verbrechens ist vielleicht gar nicht so notwendig. Fakten sprechen für sich.
    Für das Verstehen der Zeit, der Gesellschaft, der die Daktatur stützenden Menschen ist Fiktion ein probates Mittel, sie steht gelichberechtigt neben dieser Verarbeitung der Niederschriften.

    Viele Grüße
    Uwe

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