Was uns bleibt – Katie Arnold-Ratliff

Die Schriftstellerin Katie Arnold-Ratliff ist eine noch sehr junge Autorin; 1982 wurde sie in Sacramento geboren. Sie hat bereits einen Master of Fine Arts und arbeitet als Redaktionsmitglied bei “O, the Oprah Magazin”. “Was uns bleibt” ist ihr Romandebüt.

Katie Arnold-Ratliff erzählt die Geschichte des jungen Lehrers Francis Mason. Mit seiner zweiten Klasse unternimmt er einen Schulausflug in das Steinhart Aquarium, anschließend gehen sie gemeinsam in der Nähe der Golden Gate Bridge an den Strand. Dort findet der gemeinsame Schulausflug ein schockierendes Ende: in einer Bucht am Strand finden die Schüler eine Frauenleiche.

“Diese Kinder, meine Schützlinge, waren Zeugen von etwas geworden, das viel schlimmer war als alles, was üblicherweise von ihnen ferngehalten wurde: die Filme, die erst ab achtzehn waren, der Inhalt verschlüsselter Unterhaltungen. Und sie hatten es unter meiner Aufsicht gesehen. Alles, was hier geschehen war, war meinetwegen geschehen.”

Die Kinder sind traumatisiert, die Eltern verunsichert. In den folgenden Tagen nehmen sie am Unterricht teil, um Francis bei der Aufarbeitung dieses entsetzlichen Ereignisses zu unterstützen. Doch Francis fühlt sich nicht unterstützt, sondern überwacht und verfolgt. Er fühlt sich kontrolliert. Überall glaubt er Misstrauen an seinen Qualitäten als Lehrer zu spüren.

“Ich war dreiundzwanzig Jahre alt – einige von denen waren im Alter meiner Eltern -, und ich wurde als Vollidiot enttarnt, als Kind. Ich erinnere mich, gesagt zu haben, Tut mir leid, aber ich muss wirklich mal zur Toilette, und ignoriert worden zu sein.”

Auch zu Hause findet Francis nicht die Unterstützung, die er sich wünscht. Seine Frau Greta ist im vierten Monat schwanger. Wenn sie miteinander sprechen, streiten sie sich häufig. Francis schafft es nicht, sich von Greta trösten zu lassen. Stattdessen belügt er sie: er verstrickt sich in der Vorstellung, dass es sich bei der Frauenleiche um seine Ex-Frau Nora handelt, die vor zwei Jahren aus seinem Leben verschwand. Er glaubt die Leiche nicht nur gefunden, sondern die Frau auch von der Brücke springen gesehen zu haben.

Francis verliert den Boden unter den Füßen, als ihn die Vergangenheit wie eine Welle überspült und er sich immer stärker in eine Welt der Vorstellung verstrickt. In der Folge springt die Geschichte zwischen unterschiedlichen zeitlichen Ebenen hin und her. Aus der Perspektive von Francis wird die Gegenwart mit Greta und die vergangene Verbindung zu Nora beschrieben. Nora, die Francis schon aus der Schulzeit kennt. Beide führen eine wechselhafte, intensive Beziehung.

“Wir hielten wieder Händchen, und wir waren glücklich. Erinnerst du dich an das Gefühl? Es nährte sich selbst, es existierte nicht, weil in unserem Leben alles perfekt war, sondern weil nichts perfekt war, und trotzdem waren wir in dem Moment zufrieden. In dem Moment konnten wir beide Ungeheures sagen: Wir wollten nirgendwo anders sein.”

“Was uns bleibt” ist eine Geschichte mit vielen unterschiedlichen Facetten: auf den ersten Seiten glaubt man einen glücklichen, liebevollen Lehrer zu erleben, der besorgt um seine “Schützlinge” ist. Im Laufe des Romans verwischt dieser Eindruck immer stärker und Francis offenbart Seite um Seite, ganz andere Charaktereigenschaften. Durch Francis Leben zieht sich ein Riss und genau diese innere Zerrissenheit wird von Katie Arnold-Ratliff beschrieben. Am stärksten überzeugt hat mich die Sprache, die deutlich stärker ist, als die erzählte Geschichte. Morgan Callan Rogers bezeichnet die Sprache als “schonungslos” und diesem Urteil kann ich mich anschließen. Für mich war es sehr beeindruckend, wie es Katie Arnold-Ratliff gelingt, scheinbare Normalität aufzulösen, aufzubrechen, zu verwässern und den Blick auf die Zerrissenheit von Francis zu lenken, der aus einer schwierigen Familienkonstellation heraus in eine komplizierte Beziehung ausbricht. Francis, der von Eltern aufgezogen wurde, “deren eigene Makel in das Gewebe eingedrungen sind”, aus dem Francis bestand.

Der Titel des Romans ist programmatisch, Katie Arnold-Ratliff stellt wichtige Fragen: sie fragt, was uns bleibt, was von uns bleibt, wenn man verlassen wird; was uns bleibt, wenn eine Beziehung endet; was uns bleibt, wenn nur noch Schweigen herrscht; was uns bleibt, wenn die erste – die einzige? – Liebe zerbricht. Francis muss eine Antwort auf diese Fragen finden, um in der Lage zu sein, weiterzuleben.

“Was uns bleibt” ist sicherlich keine leichte Lektüre, auch wenn das Cover vielleicht etwas anderes suggeriert. Mich hat der Roman vor allem sprachlich begeistert, doch auch das langsame Zerbrechen von Francis ist psychologisch interessant geschildert.

Ein gutes Romandebüt, das ich empfehlen kann.

6 Comments

  • Reply
    kittyka
    July 13, 2012 at 6:55 pm

    Das Schöne an deinen Rezensionen ist für mich, dass du mit Zitaten eine Ahnung der Atmosphäre oder des Stils vermitteln kannst. Das ist generell gut und hilfreich. Hier aber besonders. Ansonsten würde ich dir nicht glauben können, dass die Sprache hier noch stärker als die Geschichte ist, die mich so schon mitnimmt. Aber nach den Zitaten hat sich mein Innerstes noch mehr verkrampft. Das ist jetzt übrigens positiv gemeint. 😉
    Der Roman wandert sofort auf meine Wunschliste und wird demnächst angeschafft. Vielen Dank für diesen Tipp!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 14, 2012 at 8:39 am

      Liebe kittyka,
      danke für deinen Kommentar, darüber habe ich mich sehr gefreut. Bei meiner Lektüre von Büchern markiere ich immer einige Stellen, die mich berühren, die sich mir einprägen, die ich gerne für immer erinnern und in meinem Gehirn aufbewahren möchte. Bei meiner Rezension muss ich dann meistens eine Auswahl treffen, welche Zitate ich vorstellen möchte. Ich freue mich, dass ich mit meiner Auswahl bei dir scheinbar ins Schwarze getroffen habe … mich haben genau diese Stellen auch sehr gepackt.
      Ich wünsch dir ganz viel Spaß mit dem Roman und bin schon sehr darauf gespannt, wie er dir gefallen wird!

      • Reply
        kittyka
        July 14, 2012 at 11:36 am

        Und du kannst dich an alle ausgewählten Zitate erinnern? Ich bin beeindruckt. Ich nehme mir immer mal wieder vor, dass ich mir Zitate merke, aber funtionieren tut das letztendlich nicht bei mir. Ich weiß eigentlich nur, wo ich nachschlagen muss.
        Momentan habe ich hier noch einen großen Bücherstapel liegen, den ich erstmal weglesen möchte. Spätestens nächsten Monat werde ich mir aber “Was und bleibt” kaufen und lesen und meine Eindrücke niederschreiben. 🙂

      • Reply
        buzzaldrinsblog
        July 14, 2012 at 12:31 pm

        Ich versuche mich immer so auf ein Buch und die Lektüre einzulassen, dass ich mich wenn ich anschließend an die Rezension setze, schon immer eine recht genaue Vorstellung von Textstellen und Zitaten habe, die ich verwenden möchte. Ich markiere mir ausgewählte Stellen mit Textmarker und Post-It und schaue sie dann durch. Ich schreibe aber häufig auch immer direkt nach der Lektüre eine Rezension, so dass die Erinnerungen dann noch recht frisch sind.
        Lass dir ruhig Zeit mit der Lektüre, ich habe hier auch noch einen ganzen Stapel Bücher liegen, bevor ich dann mal daran denken kann, mir ein Buch von Peter Henning zu kaufen … 🙂

  • Reply
    literaturen
    July 16, 2012 at 3:38 pm

    Ich kam ja irgendwie nicht in dieses Buch hinein. Vielleicht nehme ich es mir nochmal vor. (;

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 17, 2012 at 11:25 am

      Hmm, dass tut mir leid – hast du es dann abgebrochen? Also mir hat es – wie bereits erwähnt – sprachlich ausgezeichnet gefallen. Mit der Geschichte hatte ich leider zwischendurch auch Schwierigkeiten. Du solltest dem Buch aber vielleicht wirklich noch mal eine zweite Chance geben! 🙂

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