Zeiten der Ernüchterung – Carol Edgarian

51T8Lj5SKxL._SY344_BO1,204,203,200_Die 1962 geborene Amerikanerin Carol Edgarian ist Schriftstellerin, Lektorin und Verlegerin. Ihr erster Roman erschien 1994, wurde bis jetzt jedoch noch nicht ins Deutsche übersetzt. Gemeinsam mit ihrem Ehemann hat Carol Edgarian das Narrative Magazin gegründet, eine der größten Onlineplattformen für literarisches Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie in San Francisco, wo auch “Zeiten der Ernüchterung” spielt.

“So war dieses verrückte Leben, und wenn man nicht wenigstens lachte, machte es einen kaputt. Es machte einen sowieso kaputt, aber es war leichter, wenn man lachte.”

Im Mittelpunkt von “Zeiten der Ernüchterung” steht Lena Rusch, die ihren Job als Produzentin einer Nachrichtensendung aufgegeben hat, um mit ihrem Mann Charlie Pepper nach San Francisco zu ziehen. Charlie ist siebenundvierzig, Lena zweiundvierzig – sie sind seit acht Jahren verheiratet. Sie haben zwei gemeinsame Kinder: Theo und Willa. Eigentlich sogar drei, doch Willa und ihre Zwillingsschwester Sylvie sind zu früh auf die Welt gekommen. Sylvie hat es nicht geschafft. Willa ist fragil und verletzlich, sie ist zehn Monate alt und wiegt nur fünf Kilo. Sie ist immer wieder im Krankenhaus, hat Lungenentzündungen und Krampfanfälle.

Lenas Ehemann Charlie war ein erfolgreicher Chirurg, bevor er die Idee hatte, ein technologisches Unternehmen zu gründen, das einen Roboter für Operationen entwickelt. Wenn Charlie nicht arbeitet, sitzt er im Flugzeug. Er ist fast nie zu Hause und Lena bleibt die Aufgabe, sich um die Kinder zu kümmern. Wobei sie noch das Glück hat, als Unterstützung eine Nanny zu haben.

“Lena Rusch war eigensinnig, gutaussehend, unerschrocken. Sie hatte einen scharfen, allerdings erschöpften Verstand, was bedeutete, dass sie sich manchmal nicht mehr an ihre Listen erinnern konnte oder an das Ende oder auch nur an die Mitte ihrer Sätze.”

Die Erzählung beginnt im Winter der jüngsten Finanzkrise, als die Märkte abstürzten und selbst die Reichen davon betroffen waren, kurz bevor Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde und man glaubte, dass endlich alles besser werden würde. Charlie ist mit seinem Unternehmen Nimbus ins Straucheln geraten, er braucht dringend eine Finanzspritze, um sich und Nimbus ins nächste Jahr retten zu können, ohne unterzugehen. Wie es der Zufall so will, bietet ihm der Unternehmer Cal Rusch seine finanzielle Unterstützung an, ausgerechnet der Mann, den Lena am meisten auf der Welt hasst. Um dem Drama die Krone aufzusetzen, arbeitet Cal zusammen mit Alessandro, einem ehemaligen Freund Lenas, von dem sie sich immer noch nicht ganz gelöst hat.

“Dass sich Lena Rusch in Charlie Pepper verliebte, wäre höchst unwahrscheinlich gewesen, hätte sie sich nicht gerade von seinem genauen Gegenteil erholt.”

Ausgehend von dieser Grundkonstellation entwickelt Carol Edgarian mehrere Handlungsstränge, die parallel und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Charlie muss Lena seine Zusammenarbeit mit Cal gestehen, Lena und Alessandro treffen unweigerlich aufeinander und man erhält Einblicke in das Leben von Cal und seiner Frau Ivy, zwei starke und interessante Charaktere, die in der Mitte des Buches eine großartige Hochzeitsfeier für ihre Tochter Paige organisieren. Nach dieser Party verändert sich alles: das Leben von Cal und Ivy und auch die Wendung des Buches.

Im Zentrum des Buches steht jedoch trotz aller Wendungen und Perspektivenwechsel bis zum Ende Lena, eine Figur, die für mich nicht immer ganz nachvollziehbar gewesen ist. Eine Figur, mit Ecken und Kanten, mit der der Leser nicht unbedingt sympathisieren muss. Ihre Beziehung zu Charlie ist wechselhaft, beide befinden sich in einer Achterbahn der Gefühle und mit Beginn des Buches geht es eigentlich nur noch bergab.

“Die moderne Ehe kennt zwei Phasen, Stagnation und freien Fall […].”

“Zeiten der Ernüchterung” gliedert sich in drei Abschnitte mit den Titeln Schweigen, Zweifel und Gespräche. Lena und Charlie schaffen es nur selten die dritte Stufe zu erreichen und wirklich miteinander zu sprechen. Die Ehe ist etwas, das eine zentrale Rolle in den Beschreibungen von Carol Edgarian spielt und Lena und Charlie sind nach acht Jahren gemeinsam verbrachter Zeit vor allem desillusioniert:

“Selbst nach der Hochzeit glaubten sie noch, dass die Ehe ein flexibles, romantisches Abkommen war, das sich im Laufe der Zeit formen und schleifen ließ. aber so war es nicht. Die Ehe war ein Stein, der schon zähere Menschen als Charlie und Lena zermürbt hatte.”

“Zeiten der Ernüchterung” ist nicht nur ein Familienroman, sondern auch ein Porträt einer Ehe, die sich am Rande des Scheiterns befindet und ein Portät unserer heutigen Zeit. Carol Edgarian thematisiert in ihren Beschreibungen die Auswirkungen der Krise in der Finanzwelt. Die Geschichte ist nicht bei den Armen  angesiedelt, sondern in der Welt der Reichen, die Risiken eingegangen sind und sich finanziell verkalkuliert haben. Es herrscht Ernüchterung und eine Erschütterung des Selbstvertrauens, der Selbstsicherheit. Vor allem Charlie muss feststellen, dass sich die Zeiten geändert haben.

“Siebenundvierzig war heute anders als zu Zeiten seines Vaters, dessen Kinder bereits fertig studiert hatten, als er siebenundvierzig gewesen war. Nein, siebenundvierzig bedeutete heute eine Frau, Arbeit und kleine Kinder. Siebenundvierzig bedeutete Schulden. Siebenundvierzig bedeutete, dass man die Ausdauer besitzen musste, die der eigene Vater mit dreißig gehabt hatte, dass man so viel Last zu tragen hatte wie ein Landarbeiter, der Backsteine auf seinem Rücken schleppen musste.”

Das vorherrschende Gefühl der Figuren in Carol Edgarians Roman ist Ernüchterung. Auch politisch stellt sich nach dem Amtsantritt von Barack Obama schnell wieder Ernüchterung ein.

“Zeiten der Ernüchterung” ist ein interessantes Buch, das aufgrund der vielen Überraschungsmomente und Wendungen einen starken Sog ausübt. Diese Überraschungsmomente, dieses Spiel mit Erwartungen ist für mich der stärkste Faktor, der größte Reiz, des Buches.

Für mich stand dabei aber leider manchmal zu sehr das Drama im Vordergrund, manche Handlungsstränge muteten zwischendurch fast an wie eine Soap Opera. Wenn es so etwas gibt, würde ich sagen, dass der Roman ein sehr “amerikanischer” Roman ist. Vor allem am Ende ist die Geschichte, besonders bei der Hauptfigur Lena, sehr stark auf ein Happy End ausgelegt. Etwas, das der Roman meiner Meinung nach gar nicht nötig gehabt hätte.

Carol Edgarian ist eine gute Erzählerin und eine genaue Beobachterin der heutigen Zustände und doch fehlt diesem Roman leider das besondere Etwas, um mich restlos überzeugen zu können.

6 Comments

  • Reply
    La Braun
    August 8, 2012 at 9:54 am

    Da kriege ich richtig Appetit. Werde mich gleich einmal darum kümmern, das Buch zu bekommen. Die Autorin ist mir bis dato noch nicht untergekommen. Danke für den Einblick. Alles Liebe Karin

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 9, 2012 at 7:23 pm

      Liebe Karin,
      danke für deinen Besuch auf meinem Blog und deinen Kommentar. Ich freue mich sehr, dass dich meine Rezension ansprechen konnte, auch wenn ich selbst nicht ganz so begeistert war. Sicherlich ein nettes Buch, was leicht lesbar ist, mir hat jedoch einfach das besondere Extra gefehlt. Bin schon sehr gespannt, wie es dir gefallen wird.

  • Reply
    Mila
    August 8, 2012 at 11:17 am

    Dafür dass dem Roman das Etwas fehlt, das dich überzeugen kann, hast du ihn aber trotzdem ganz wunderbar interessant rezensiert, liebe Mara. Ich werde ihn auf jeden Fall lesen – so neugierig hast du mich gemacht. Herzlichst Mila

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 9, 2012 at 7:27 pm

      Liebe Mila,
      danke für deine lieben Worte und das Kompliment bezüglich meiner Rezension. Ich freue mich, dass ich dich neugierig machen konnte, auch wenn mir der Roman nicht so ganz gefallen hat. Ich bin schon gespannt, wie er dir gefallen wird … ich habe ihn – wie ich schon Karin schrieb – gerne gelesen, er hat mich aber nicht vollends überzeugen können. Vor allem das Happy End am Ende hat nicht meinen Geschmack getroffen …

  • Reply
    Tanja
    August 9, 2012 at 4:24 am

    Hallo liebe Mara,
    dann will ich mal hoffen, dass dich deine jetzige Lektüre so richtig vom Hocker reißen wird. Ich drücke die Daumen.

    Liebe Grüße,
    Tanja

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 9, 2012 at 7:28 pm

      Liebe Tanja,

      oh ja, Sibylle Bergs Buch ist großartig! Habe es heute morgen fertig gelesen, aber es wird wohl noch etwas dauern, bis eine Rezension kommt: ich muss erstmal all meine Gedanken und Eindrücke sortieren …

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