Ambra – Sabrina Janesch

Download (81)Sabrina Janesch ist erst 27 Jahre alt, doch sie hat bereits einige Erfolge vorzuweisen. Sie hat Kreatives Schreiben, Kulturjournalismus und Polonistik studiert. Sie hat den O-Ton-Literaturwettbewerb des NDR gewonnen, war Stipendiation des Schriftstellerhauses Stuttgart und des LCB. 2009 war sie die erste Stadtschreiberin Danzigs – ihre Erlebnisse und Erfahrungen lassen sich in einem Blog nachlesen.

Auch wenn der Ort, an dem “Ambra” spielt, nicht namentlich genannt wird, ist mir schon früh klargeworden, dass es sich bei der Stadt am Meer, um die Stadt Danzig handeln muss.

“[…] in dieser Stadt hat jeder ein Geheimnis und jeder ein Schweigen, das er darüberlegt.”

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Kinga, benannt nach der heiligen Kunigunde von Polen, eine junge Frau aus Deutschland, deren Vater gestorben ist. Nach Danzig verschlägt es sie, weil ihr Vater ihr ein überraschendes Erbe hinterlassen hat: ein Haus in Danzig. Kingas Vater hinterlässt nicht nur diese Wohnung, sondern es hält sich darin auch noch die polnische Verwandtschaft Kingas auf, von deren Existenz sie zuvor nichts geahnt hatte. Kinga beschließt, nach Danzig zu reisen, um sich das Haus anzuschauen und ihre Verwandten kennenzulernen.

In Danzig trifft Kinga auf Bartosz, ihren Cousin, der traumatisiert aus dem Krieg im Irak zurückgekehrt ist und Schwierigkeiten hat, sich im Alltag zu Hause wieder zurecht zu finden.

“[…] mit dem bisschen Krieg, musste er gedacht haben, würde er schon fertig werden, der Krieg, so hatte man ihm gesagt, dass sei vor allem eine Menge Sand, der sich gerne in die Uniform und hinein in die Unterwäsche stielt, in die Fältchen der Genitalien legt und so lange scheuert, bis man wund ist wie ein Baby und sich anstrengen muss, sich nicht andauernd in den Schritt und ins Gesäß zu fassen.”

Sie lernt Brunon und Bronka kennen, ihren Onkel und ihre Tante – Bronka, die “als Mutter der Familie” eine Naturgewalt ist, der sich jeder beugen muss. In dem Haus, das ihr Vater ihr vererbt hat, lebt sie zusammen mit Albina und Renia, für die sie mehr als nur freundschaftliche Gefühle empfindet. Kinga beschließt in Danzig zu bleiben und beginnt damit, in einem kleinen Varieté zu arbeiten, in dem auch Renia arbeitet.

Die Geschichte, die Sabrina Janesch erzählt, ist verschachtelt und besteht aus mehreren zeitlichen Ebenen und Handlungsebenen, was es schwierig macht, die Geschehnisse zusammenzufassen. Es gibt zeitliche Sprünge, die Erzählung bewegt sich ständig zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der Leser taucht ab in die Familiengeschichte der Myszas und wird dann überrascht von kursiven Einschüben, in denen man plötzlich hineinversetzt wird in die irakische Wüste. Und dann gibt es da auch noch Tilmann Kröger, Stadtschreiber Danzigs, bei dem einem das Gefühl überkommt, dass er selbst gerade an “Ambra” schreiben könnte. Sein Buchprojekt handelt “von einer Stadt am Meer […], einer etwas sonderbaren Protagonistin, außerdem von einer ungewöhnlichen Familiengeschichte.”

Zusammengehalten werden die einzelnen Handlungsfäden durch einen mythisch aufgeladenen Bernsteinanhänger: “Alles, was geschehen ist, hängt mit dem Anhänger zusammen.”

Sabrina Janesch ist mit “Ambra” ein stilles, ein ruhiges Buch gelungen, das jedoch sehr viel in sich verbirgt. Es gibt immer wieder sehr poetische Stellen, in denen ich mich fast verlieren konnte. Beim Lesen entwickelte sich bei mir irgendwann das Gefühl, als würden mich die Wellen vor Danzig langsam auf und ab schaukeln. “Ambra” ist kein leicht zu lesendes Buch, es gibt immer wieder enorm starke Wellen, bei denen ich fast die Orientierung verliere und dann wiederum plötzliche Wasserstille, bei der ich mich nur noch treiben lassen kann. “Ambra” erfordert Aufmerksamkeit, Zeit und Interesse – wenn man all dies aufbringen kann und möchte, hat man das Glück, einen großartigen Roman entdecken zu dürfen. Auf  den ersten Blick wirkt das Buchcover etwas spröde und unscheinbar, dieser Eindruck ändert sich jedoch bereits beim Aufklappen des Buches: im Bucheinband gibt es eine wunderschöne Zeichnung, die einen ersten Einstieg in die Geschichte bietet.

“Ambra” löst Fernweh aus. Am liebsten würde ich jetzt meine Koffer packen, mich in den Zug setzen und nach Danzig fahren: Kinga kennenlernen, das Varieté besuchen, Brunon und Bronka “Hallo” sagen.

“Ambra” ist eine großartige Familiengeschichte und ein verführerisches Porträt der Stadt Danzig. Zusammengehalten werden diese beiden Stränge von einer liebenswerten, doch manchmal etwas weltfremden Hauptfigur: Kinga, Kinga Mischa, die einzige, die die ganze Wahrheit kennt.

6 Comments

  • Reply
    buechermaniac
    August 30, 2012 at 2:01 pm

    Du legst ja ein gewaltiges Tempo vor, liebe Mara. Scheint so, als könnte man diesen Roman im Zusammenhang mit einem Städtebesuch Danzigs lesen. Ich finde es manchmal sehr reizend von der jeweiligen Gegend, die ich bereise, auch gleich Literatur mitzunehmen. Es gibt dann noch eine spezielle Bindung zum Buch und zum Reiseziel.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 30, 2012 at 6:51 pm

      Liebe buechermaniac,
      als so gewaltig empfinde ich mein Tempo gar nicht. Ich versuche meinen vierwöchigen Urlaub zu nutzen, ab nächster Woche wird mein Tempo aber leider gezwungenermaßen wieder abnehmen müssen. 😉
      Ja, für einen Besuch der Stadt Danzig bietet sich “Ambra” in der Tat an – wie ich in meiner Rezension schrieb, hat das Buch bei mir auch einen sehr starken Fernwehwunsch ausgelöst. Bisher war ich leider nur in Prag, eine Stadt, die ich mir ähnlich Danzigs vorstelle, würde aber auch sehr gerne mal in die Stadt am Meer reisen.
      Viele Grüße
      Mara

  • Reply
    Klappentexterin
    September 1, 2012 at 7:37 am

    Liebe Mara,

    schön war’s, durch deine Rezension zu wandern und beruhigend ist es, dass du davon berichtest, wie viel Aufmerksamkeit und Zeit dieses Buch fordert. Die hatte ich bislang nicht, weshalb ich dieses Werk wieder zur Seite legen musste. Aber irgendwann möchte ich “Ambra” wieder aufschlagen und darin versinken.

    Herzlichst,

    Klappentexterin

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 1, 2012 at 2:25 pm

      Liebe Klappentexterin,

      ich hoffe sehr, dass du irgendwann die Zeit und auch die nötige Ruhe und Aufmerksamkeit finden kannst, um Ambra doch noch einmal eine Chance zu geben. Ich habe im Moment Urlaub und konnte mich ganz hinein versinken in die Welt von Kinga Mischa – diese Zeit braucht man aber auch für den Roman. Kinga ist eigentlich die Figur eines typischen Klappentexterinbuches, ich hoffe also sehr, dass ihr noch zueinander findet werdet.

      Viele Grüße
      Mara

      P.S.: Ich habe im letzten Abschnitt meiner Rezension zum ersten Mal ein – ich würde den Begriff Klappentexterin-Bild benutzen – verwendet. Da habe ich mich sehr von dir inspiriert gefühlt.

  • Reply
    literaturen
    September 1, 2012 at 1:47 pm

    Klingt nach einem interessanten Buch! Ich hatte es auch schon in der Hand, aber irgendwie schreckte mich das doch sehr schlicht gehaltene Cover ab. Vielleicht überlege ich mir das ja nochmal, nach deiner Rezension. (;

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 1, 2012 at 2:27 pm

      Liebe Caya,
      das Cover ist in der Tat etwa spröde und unscheinbar. Wenn du “Ambra” das nächste Mal in der Hand haben solltest, dann klappe es doch bitte auf … im Bucheinband befindet sich ein wunderschönes Bild, das einen Einstieg in die Geschichte vermittelt und dich wahrscheinlich sofort verzaubern wird.

      Viele Grüße
      Mara

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