Die tausend Herbste des Jacob de Zoet – David Mitchell

U1_978-3-498-04518-0.inddDer britische Autor David Mitchell wurde 1969 geboren, studierte Literatur und promovierte in Komparatistik. Er lebte in Sizilien, Japan und Irland. Bekannt wurde er in Deutschland vor allem durch seinen Roman “Wolkenatlas”, der momentan verfilmt wird. Der Rowohlt Verlag hat für “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” einen eigenen Blog mit allen möglichen (sehr interessanten!) Hintergrundinformationen eingerichtet.

“Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” umfasst 714 Seiten und ein vierseitiges Personenverzeichnis – wo beginnt man in einem solchen Fall mit einer Rezension, was kann man beschreiben und nacherzählen, worauf sollte man sich konzentrieren, wie fasst man die Geschichte zusammen? Mir fällt es sehr schwer eine Rezension zu diesem an Phantasie und Ideen übersprudelnden Roman zu schreiben und doch möchte ich es versuchen.

David Mitchell erzählt die Geschichte von Jacob de Zoet, einem jungen holländischen Pastorenneffen und Kaufmann aus Domburg, der 1799 nach Dejima kommt. Die Insel Dejima im Hafen Nagasaki ist der einzige Handelsposten in Japan, das zu der damaligen Zeit von dem Rest der Welt hermetisch abgeriegelt war. In Dejima treiben ausländische Kaufleute Handel und Jacob de Zoet ist für fünf Jahre nach Japan gekommen, um dort sein Glück zu versuchen. Das Leben in einer fremden Kultur beinhaltet so einige Tücken und Schwierigkeiten, vor allem als Rothaariger wird Jacob von den Einheimischen häufig bestaunt und begafft und auch sein Name ist für viele Japaner nicht leicht auszusprechen.

“Jacob versucht, jeden noch so flüchtigen Eindruck für die Briefe an Anna, seine Schwester Geertje und seinen Onkel festzuhalten. Er riecht gedämpften Reis, Kloake, Räucherwerk, Zitronen, Sägespäne, Hefe und faulen Seetang. Durch die Fenstergitter sieht er hutzlige alte Frauen, pockennarbige Mönche, unverheiratete Mädchen mit schwarzen Zähnen.” 

Doch Jacob de Zoet gelingt es, sich an sein neues Zuhause zu gewöhnen. Er findet Anschluss, knüpft Kontakte und lernt schließlich sogar eine Frau kennen, die japanische Hebamme Orito, für die er mit der Zeit immer stärkere Gefühle entwickelt. Eigentlich möchte Jacob de Zoet als reicher Mann nach Holland zurückkehren und dort seine Verlobte Anna heiraten. Doch dann kommt alles ganz anders …

Das Leben auf Dejima ist abwechslungsreich und hält viele Überraschungen bereit. Die Insel ist wie ein kleiner Mikrokosmos, ein schon fast surrealistischer Schauplatz geprägt von einer Vielzahl an Handlungssträngen und Personen. “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” beginnt als Liebesgeschichte, doch die Genregrenzen fransen mit der Zeit immer stärker aus, verwischen und schon nach kurzer Zeit steht nicht mehr allein die Liebesgeschichte im Vordergrund. Die Erzählung wechselt zwischen unterschiedlichen Schauplätzen, Figuren und Handlungssträngen hin und her. Stellenweise rauchte mir auch der Kopf und ich lief Gefahr, den Überblick zu verlieren. “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” ist ein Buch, für das man viel Zeit und Ruhe mitbringen muss.

Genossen habe ich vor allem die Sprache, es gibt viele wunderschöne Stellen, die ich während des Lesens markieren musste:

“Ich wünschte, denkt er, man könnte gesprochene Wörter festhalten und in einem Medaillon verwahren.”

Obwohl der Roman den Namen Jacob de Zoet im Titel trägt, steht der junge Niederländer stellenweise kaum im Mittelpunkt der Geschichte. David Mitchell gelingt es mit beinahe sprudelnder Phantasie ein riesiges Figurenensemble in seinem Roman unterzubringen. Man kann ihn nur dafür bewundern, wie es ihm gelingt, alle Fäden in der Hand zu behalten, sie langsam zusammenzuknüpfen und seine Figuren umeinander zu orchestrieren. Handlungsstränge, die zwischenzeitlich fast schon in Vergessenheit geraten sind, werden am Ende doch noch in überzeugender und großartiger Manier zusammengeführt.

Die Art von David Mitchell diese Geschichte zu erzählen hat mich förmlich von der ersten Seite an in den Bann gezogen und auch wenn es bei diesem Umfang natürlich auch mal langatmige und zähe Stellen gab, konnte ich den Roman zwischendurch kaum noch aus der Hand legen. An einer Stelle im Roman heißt es: “Das gedruckte Wort ist Nahrung”. Dieser Satz ist für mich auf das Buch selbst zu übertragen: ich habe mich einige Tage lang ernährt von diesem Buch, habe die Worte gegessen und verdaut, manches Mal – nach besonders spannenden oder auch besonders traurigen Stellen – haben sie danach noch ganz schön lange in meinem Magen rumort. “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” ist ein ungewöhnlicher Roman, den ich kaum in ein Genre einordnen kann. Ein historischer Roman, der altertümlich erzählt wird und dennoch so modern daherkommt.

Der Text wird hervorragend von einer Reihe an eindrücklichen Zeichnungen und Illustrationen ergänzt, die laut der Danksagungen am Ende des Romans von Jenny und Stan Mitchell stammen. Überhaupt hebt sich der Roman schon allein aufgrund seiner liebevollen Gestaltung von vielen Neuerscheinungen heutzutage ab, Der Titel bezieht sich übrigens auf eine geläufige Bezeichnung für das japanische Kaiserreich, das auch als “Land der tausend Herbste” bezeichnet wird.

“Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” ist ein großartiger Roman. David Mitchell versteht die hohe Kunst des Erzählens und Fabulierens perfekt und ich wurde auf fast 720 Seiten ausgezeichnet unterhalten. Zwischen den beiden Buchdeckeln verbirgt sich eine Liebesgeschichte, die keine sein soll, aber auch ein Abenteuerroman und eine große Portion Spannung, ergänzt von humoristischen Episoden. Ein Roman, den ich nur wärmstens weiterempfehlen kann, in der Hoffnung, dass andere genauso viel Spaß haben wie ich, wenn sich das Panorama von Dejima vor ihnen ausbreitet.

16 Comments

  • Reply
    Jarg
    September 30, 2012 at 6:32 pm

    Vielen Dank für die wunderbare, auf das Lesen des Buches große Lust machende Rezension. ich bin jetzt schon einige Male an dem Buch vorbeigegangen, habe es in der Hand gehalten und gedacht, dass es etwas für mich sein könnte. Deine Rezension hat das bestätigt – und ich fürchte, beim nächsten Besuch meiner Lieblingsbuchhandlung werde ich wohl nicht umhin kommen, es zu erwerben!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      October 1, 2012 at 2:57 pm

      Lieber Jarg,
      vielen Dank dir für deinen freundlichen Kommentar. Ich habe mich mit dieser Besprechung besonders schwer getan, um so mehr freue ich mich nun, dass dich meine Rezension doch überzeugen konnte.
      “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” sind ein sicherlich ungewöhnliches, aber ganz besonderes Leseerlebnis, aus dem ich am liebsten nicht wieder aufgetaucht worden wäre.
      Ich bin bereits jetzt sehr gespannt, wie es dir gefallen wird! 🙂
      Viele Grüße
      Mara

  • Reply
    tinius
    October 2, 2012 at 3:27 am

    Ich mag Mitchell, seitdem ich seinen Roman “Cloudatlas” las, und erneuerte meine Begeisterung bei der Lektüre von “Ghostwritten” / “Chaos”. Dann kann ich mich ja auf das Neueste von ihm freuen, das hier schon rumliegt. LG Jost

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      October 2, 2012 at 7:30 pm

      Lieber Jost,
      es freut mich sehr, dass du dich auf meinen Blog “verirrt” hast und dass dich meine Rezension überzeugen konnte. Wenn dieser wunderbare Roman schon bei dir eingezogen ist, solltest du ihn nicht mehr lange rumliegen lassen … du kannst dich auf etwas Spannendes zum Entdecken freuen! Den Wolkenatlas habe ich übrigens auch gerne gelesen, Ghostwritten steht hier noch ungelesen …
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Japanliteratur
    October 3, 2012 at 10:31 am

    Aber fandest du den Handlungsstrang mit dem Kloster nicht auch etwas seltsam? Das war ja vor allem mein Kritikpunkt.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      October 3, 2012 at 10:35 am

      Ich fand es in der Tat zunächst seltsam, dass sich der Fokus so von Jacob de Zoet wegbewegt, da hatte ich – sicherlich auch ausgelöst durch den Titel des Romans – eine andere Erwartung. Ansonsten fand ich diesen Strang jedoch nicht unbedingt seltsam oder gar reißerisch. Ich fand ihn vor allem am Ende, als die Hebamme befreit werden soll, sehr spannend und überraschend geschildert. 🙂

  • Reply
    Cécile
    October 4, 2012 at 8:20 am

    Dankeschön für die ausführliche Rezension! Angefressenen Mitchell-Lesern sei übrigens ans Herz gelegt (auch der deutschsprachige Raum hat das Fabulieren nicht komplett vergessen!): http://tubuk.com/book/man-nehme-silber-und-knoblauch-erde-und-salz

    LG, Cécile

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      October 4, 2012 at 12:45 pm

      Hallo Cécile,
      ich freue mich sehr über deinen Besuch auf meinem Blog und über deinen Kommentar. Hast du den neuen Mitchell schon gelesen? Danke auch für deine Bücherempfehlung! Von dem Titel hatte ich bisher noch nichts gehört, ihn mir aber gleich notiert.

      Viele Grüße
      Mara

      • Reply
        Cécile
        October 4, 2012 at 5:38 pm

        Hallo Mara, keine Ursache! Nein, der neue Mitchell wartet leider noch (in der Buchhandlung)… Er muss wohl bis mindestens Ende Monat dort bleiben, denn ich bilde mir ein, mit der cleveren Buchdiät von “Konsumschnecke” (wunderbare Youtube-Bücherbloggerin) meine Kaufsucht eindämmen zu können, aber wer weiss, wie lange ich durchhalte!
        Der Wolkenatlas hatte mir damals den Ärmel reingenommen. Über Rossels Buch stolperte ich dann bei “New Books in German”, da wurde es als “reminiscent of Mitchell’s Cloud Atlas” bezeichnet. Ich mag ja derartige Vergleiche nicht, aber in dem Fall hat sich das Wagnis gelohnt. Anders als durch solche “Labels” findet man ja Debütanten in Kombi mit unabhängigen Verlagen kaum, darum beobachte ich Tubuk.
        Schönen Abend wünscht: Cécile

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          October 4, 2012 at 8:12 pm

          Liebe Cécile,
          Buchdiät? Gibt es dazu einen Link? Dann brauche ich den sofort! Hier stapeln sich die ungelesen Bücher und ich komme kaum hinterher. Aber irgendwie schaffe ich es einfach nicht an einer Buchhandlung vorbeizugehen und nichts zu kaufen. Für den neuen Mitchell kann man aber ruhig mal schwach werden – ich möchte dich natürlich aber nicht in Versuchung führen. 😉
          Danke übrigens für den tollen Tipp, ich kannte Tubuk bisher noch nicht und werde mich dort in den nächsten Tagen bestimmt noch ein bisschen umschauen. Ich interessiere mich im Moment auch verstärkt für die Literatur von jungen deutschsprachigen Debütanten und würde mich freuen, noch die ein oder andere Entdeckung zu machen!

          Viele Grüße
          Mara

  • Reply
    Cécile
    October 5, 2012 at 10:41 am

    Liebe Mara, heheee, das ist es eben, man darf für zu vieles ruhig mal schwach werden! Habe den Link ausgegraben: http://www.youtube.com/watch?v=A_1VPafYlsU&feature=youtube_gdata (sorry, weiss nicht wie man so schicke Hyperlinks macht). Klingt zunächst etwas kompliziert, aber es ist befreiend simpel. 1000 gelesene Seiten –> 10 € im Jackpot für Buchkäufe. So hat man plötzlich Luft, endlich die Zweitlektüren anzugehen, die man sich schon ewig vorgenommen hat, denn der Neue-Bücher-Turm schwindet dahin. Aber eben, der erste Monat verläuft immer euphorisch, ich jubele lieber nicht zu früh. 🙂
    Viel Erfolg, falls Du es auch angehen willst, und frohes Entdecken bei Tubuk! … Ich bin gemein, zwei so entgegengesetzte Trouvaillen zu empfehlen, es lebe der Widerspruch.
    Beste Grüsse, Cécile

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      October 7, 2012 at 10:27 am

      Liebe Cécile,
      danke für das Ausgraben des Links, habe mir das Video gerade einmal angeschaut und bin begeistert von dieser Form der Buchdiät. Hier stapeln sich die ungelesenen Bücher, so dass ich bald eigentlich mal wieder ein neues Billy kaufen müsste und das kann ja eigentlich nicht wahr sein. Ich werde mich mal an der Buchdiät versuchen und bin schon gespannt, wie es mir gefallen wird und vor allem wie lange ich es durchhalten werde! 😉
      Erst letzte Woche habe ich mir das neue Zeit Literaturmagazin besorgt und die ersten interessanten neuen Titel angemarkt und Tubuk hat auch zu einer kleinen Explosion auf meiner Wunschliste geführt. Das wird also ganz schön hart werden … 🙂

      Viele Grüße
      Mara

  • Reply
    laura
    December 5, 2012 at 7:47 pm

    Liebe Mara, gerade nachdem ich ein wenig zu Mitchell recherchierte, da ich begeistert den “Wolkenatlas” durchlas, stieß ich auf deine Rezension zu seinem neuesten Roman… Hmm, da muss ich meine Weihnachtsbücherwunschliste wohl doch nochmal erweitern 🙂
    Hast du noch mehr von ihm gelesen? LG Laura

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 6, 2012 at 8:21 pm

      Liebe Laura,
      danke für deinen lieben Kommentar. 🙂 Von Mitchell habe ich auch – genauso wie du – den “Wolkenatlas” gelesen, außerdem noch auf englisch “Black Swan Green”. Ungelesen steht hier noch von ihm “Ghostwritten”. “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” war für mich in diesem Jahr eine unheimlich positive Überraschung, ein Roman den ich sehr gerne gelesen habe und in den ich förmlich versunken bin. Ich kann ihn dir nur empfehlen und glaube, dass er dir auch gefallen könnte. Hast du dir denn “Cloud Atlas” auch schon im Kino angeschaut?
      Viele Grüße
      Mara

  • Reply
    Private Büchersammlungen: Maras Bücher « kbvollmarblog
    December 18, 2012 at 6:10 pm

    […] wollen würde. 2. Jonathan Safran Foer 3. Richard Ford 4. Richard Powers 5. Tobias Wolff 6. David Mitchell Jedes Buch mit dem Namen von einem dieser Autoren wandert umgehend und ohne zu zögern in mein […]

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    “Ach übrigens, mein Kind ist ein Autist” – David Mitchell über seinen Sohn | buzzaldrins Bücher
    July 8, 2013 at 10:22 am

    […] Mitchell, der als Autor vor allem durch seine Romane “Wolkenatlas” und “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet”, bekannt geworden ist, tritt nun zum ersten Mal auch als Übersetzer in Erscheinung. Mitchell, der […]

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