Ich weiß, ich war’s – Christoph Schlingensief

Christoph Schlingensief wurde 1960 in Oberhausen geboren und hat als Film-, Theater- und Opernregisseur gearbeitet. 2008 wurde bei Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert und er thematisierte seine Krebserkrankung in dem Tagebuch “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein”. In diesem Buch gelingt es Schlingensief auf beeindruckende Art und Weise, der Sprachlosigkeit, die einer Krebsdiagnose folgt, wieder eine Sprache zu geben; die Ohnmacht in Worte zu kleiden. “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” ist ein beeindruckendes und gleichzeitig auch ein schrecklich schwer auszuhaltendes und vor allem auch ein erschütterndes Buch, das dennoch sehr viel Mut machen kann. In den folgenden zwei Jahren, bis zu seinem Tod am 21. August 2010, arbeitete Schlingensief überwiegend an der Realisierung seiner Idee für ein “Operndorf Afrika”, bei dessen Grundsteinlegung im Februar 2010 in Burkina Faso er noch dabei sein konnte.

Christoph Schlingensief war ein vielseitiger und auch streitbarer, kontroverser Künstler, der sich immer wieder selbst ausprobiert hat. “Ich weiß, ich war’s” hat im Gegensatz zu “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” keine klare Struktur oder Chronologie. Es ist zusammengesetzt aus Notizen, Aufzeichnungen, E-Mails oder auch Interviewausschnitten, die von Christoph Schlingensief zwischen den Jahren 2009 und 2010 gesammelt wurden und für eine Veröffentlichung vorgesehen waren. Ursprünglich hatte Christoph Schlingensief vor, eine Autobiographie zu veröffentlichen, dazu ist es leider nicht mehr gekommen. Christoph Schlingensiefs langjährige Lebensgefährtin und Frau Aino Laberenz hat seine Notizen geordnet, zusammengestellt und herausgegeben und ihrem Mann damit ein würdiges und eindrucksvolles Denkmal gesetzt.

Vorweg ein Wort zum Cover: Die Figur des Hasen, die sich auch auf dem Buchcover wiederfindet, hat in Schlingensiefs Produktionen immer wieder eine wichtige Rolle gespielt.

“Wo man auch hinkommt, spielt der Hase in Mythen und Geschichten eine wichtige Rolle. Es gibt ihn in Asien als Hase im Mond, es gibt ihn bei Fibonacci, diesem mittelalterlichen Mathematiker, der mit einer Zahlenreihe das Wachstum einer Hasenpopulation beschrieb, es gibt ihn bei Beuys. Und es gibt ihn in Afrika […].”

In dem Vorwort, das dem Buch vorangestellt ist, beschreibt Aino Laberenz die Entstehung von “Ich weiß, ich war’s”. Bereits kurz nach der Veröffentlichung von “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” hat Christoph Schlingensief wieder damit begonnen, seine “Gedanken, Erinnerungen und Erlebnisse” auf Tonband festzuhalten.

“Christophs Absicht war es nicht, Resümee zu ziehen oder schleichend Abschied zu nehmen. Er wollte sich ins Leben zurückkatapultieren, sich erinnern, um zu vergessen – und um wieder anzufangen.”

“Ich weiß, ich war’s” – der Titel spielt darauf an, dass Chrisoph Schlingensief immer die volle Haftbarkeit […] in seiner Arbeit und in seinem Leben von sich verlangte” – ist vieles: Biographie, Werkschau, Rückblick und auch ein Blick in die Zukunft von einem Menschen, der lange glaubte noch eine Zukunft zu haben. Aino Laberenz fasst an einer Stelle in ihrem Vorwort die Themen des Buches so wundervoll zusammen, dass mir eigentlich nichts anderes zu sagen übrig bleibt:   

“Er erzählte von Kindheit und Kinomanie, von Kunst in Berlin und Containern in Wien, schlug Bögen vom Wohnzimmer seiner Eltern zum Bayreuther Festspielhaus, von der Faszination für Kameratechnik zur Vorliebe für die Drehbühne, von ersten Filmversuchen in Oberhausen zum Operndorf in Burkina Faso – ein unerschöpfliches Geflecht aus Lebenslinien, Zufällen und logischen Konsequenzen.”

Den besonderen Ton von Christoph Schlingensief, der sein Krebstagebuch so intensiv und lesenswert macht, findet man auch in “Ich weiß, ich war’s” von Beginn an wieder. Schlingensief beginnt am 31. Juli 2009 wieder damit in “seine Maschine” zu sprechen.

“Es wächst immer mehr diese komische Angst, dass doch alles nur eine zeitlich begrenzte Angelegenheit ist, und zwar nicht eine von zwanzig Jahren oder dreißig Jahren, sondern eine Zeitbegrenzung, die mir einfach nur Kummer bereitet. Weil ich denke, es könnte auch sein, dass man schon nächstes Jahr weg ist. Also dass ICH schon nächstes Jahr weg bin.”

Diese Worte lösen Gänsehaut bei mir aus, vielleicht auch gerade deshalb, weil Christoph Schlingensief tragischerweise Recht behalten sollte: etwas mehr als ein Jahr später ist er verstorben.

“Oft heule ich schon beim Aufwachen. Ich kann nicht so einfach Abschied nehmen, will es auch nicht. Auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, dass es doch so sein wird. Irgendwann sowieso, aber im Moment zersprengt es alles.” 

Auf den folgenden Seiten erzählt Christoph Schlingensief mitreißend über seine unterschiedlichen Kunstprojekte. Da ich zum Zeitpunkt von vielen seiner Aktionen noch relativ jung gewesen bin, waren seine Schilderungen neu für mich: er schreibt über die Partei, die er gegründet hat, und seine Idee das Ferienhaus von Helmut Kohl zu fluten, die grandios gescheitert ist. Er berichtet über eine Kunstaktion mit einem Container in der berühmtesten Einkaufmeile Wiens, mit der er auf die unhaltbaren politischen Zustände in Österreich aufmerksam machen wollte und er schreibt über seine vielfältigen Tätigkeiten in der Film-, Theater- und Opernwelt.  Bewundernswert finde ich an seinen Aufzeichnungen, dass Schlingensief immer wieder bereitwillig auch Fehler eingesteht und sich und seine Aktionen im Rückblick selbstkritisch hinterfragt.

“Ich habe also den Hintergedanken, dass es ein zweites Buch gibt. Weil ich glaube, dass es kein gutes Ende nimmt. Und wenn, dann kann ich mich nicht damit begnügen, eine kleine Fahrstrecke beschrieben zu haben. sondern dann, finde ich, ist es auch richtig zu sagen: Ich bin irgendwann im Eis stecken geblieben, ich bin nicht zum Nordpol gekommen, ich habe nicht den Mond erreicht, ich habe meine politischen Ansichten nicht durchsetzen können, ich habe auch keine Massenbewegung erzeugt, ich habe keine Kunst kreiert, die sich durchsetzen wird.” 

Was alle Projekte von Schlingensief gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass er sie immer mit ganzem Herzen und vollem Einsatz betrieben hat. Am Ende des Buches beschreibt Schlingensief sein wohl wichtigstes Projekt, dass zum Zeitpunkt seines Todes noch im Entstehen gewesen ist: das “Operndorf Afrika” in Burkina Faso. Dieses Projekt, verbunden mit seinem Engagement für die Bevölkerung in Burkina Faso, hilft Christoph Schlingensief dabei leichter Abschied nehmen zu können.

“Ich weiß, ich war’s” ist ein intensives Zeugnis eines beeindruckenden Künstlers. Eines Künstlers mit vielen Gesichtern: bitterböse, harmoniesüchtig, ängstlich und doch immer auch hoffnungsfroh. “Ich weiß, ich war’s” ist gleichzeitig auch ein unheimlich beklemmendes Leseerlebnis: anders als in Schlingensiefs Krebstagebuch überwiegt hier an vielen Stellen die Hoffnung, der Lebenswille, alles in Christoph Schlingensief ist auf die Zukunft ausgerichtet, an die er bis zuletzt geglaubt hat. Passenderweise endet “Ich weiß, ich war’s” mit einem Drehbuchentwurf, den Schlingensief kurz vor seinem Tod schrieb.

Mich hat “Ich weiß, ich war’s” sehr beeindruckt zurückgelassen. Nach der Lektüre habe ich mich durchlässig gefühlt. Der Fluss der Worte, die diese ganze besondere literarische Stimme von Christoph Schlingensief in mir erzeugt haben, hat mich sehr berührt. Es ist eine interessante, aber keine leichte Lektüre. Man muss vieles aushalten können und doch ist es ein Buch, das ich nur weiterempfehlen kann.

Meine Rezension abschließen möchte ich mit einigen Worten von Christoph Schlingensief, die sich relativ am Ende des Buches finden:

“Das Geschäft läuft gut und Krebs zieht. Das habe ich gemerkt. Ich habe aber auch gemerkt, dass ich keinen Bock mehr habe auf die Nummer, dass die Leute sagen, ah ja, der hat Krebs und jetzt sehe ich erst mal, was der da macht, jetzt sehe ich das mit ganz anderen Augen, der Junge ist viel sensibler, als ich dachte, und hör mal, was der mit der Musik macht, der fühlt jetzt plötzlich auch mehr und der ist ja sowieso bald weg. Alle sind jetzt so zärtlich zu mir und dann kann ich nur sagen: Wer mich heute Abend noch mal umarmt, dem schlag ich in die Fresse! Dem schlag ich wirklich in die Fresse! Das geht so nicht weiter. Bloß weil man Krebs hat. Ich habe immer das Gleiche gemacht. Ich habe mein Leben lang das Gleiche gemacht, ich habe mich noch nie verändert in meinem Leben.”

10 Comments

  • Reply
    literaturen
    October 13, 2012 at 8:51 pm

    So langsam beunruhigst du mich ein bisschen, Mara.

    Du besprichst immer gerade die Bücher, die mich im Moment interessieren. Kaufst du die Bücher eigentlich alle oder leihst du die aus der Bibliothek oder wie machst du das?

    Danke jedenfalls dafür!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      October 14, 2012 at 6:43 pm

      Das freut mich ja, dass ich da so ein glückliches Händchen habe, liebe Sophie! 🙂

      Ich muss gestehen, dass ich einige Bücher natürlich auch als Rezensionsexemplar bekomme. Ich könnte es mir als Studentin nicht leisten alles was ich lese auch zu kaufen. Einige Bücher die ich nicht bekomme, die mich aber dennoch reizen, kaufe ich mir dann auch selbst. Da musste ich in den vergangenen Wochen aber kürzer treten, da wir viele andere Ausgaben haben momentan.

      Ich bin gespannt, wie dir “Ich weiß, ich war’s” gefallen sollte, wenn du es lesen möchtest! 🙂

  • Reply
    Petra Gust-Kazakos
    October 14, 2012 at 8:34 am

    Ach, das klingt nach einem sehr traurigen Buch, schon deine Rezension hat mich ganz mitgenommen, liebe Mara.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      October 14, 2012 at 6:40 pm

      Liebe Petra,
      das tut mir wirklich leid! “Ich weiß, ich war’s” ist nicht nur traurig. Es zeigt auch, wie viel Lebenswille und Kraft Christoph Schlingensief hatte, wie er alles auf ein Weiterleben ausgerichtet und fokussiert hat. Anders hätte das “Operndorf Afrika” gar nicht entstehen können.
      Ich glaube, dass das Buch es wert wäre entdeckt und gelesen zu werden und ich hoffe, dass du dich vielleicht doch irgendwann mal rantrauen magst. 🙂
      Mara

  • Reply
    Susanne Haun
    December 1, 2012 at 9:13 pm

    Liebe Mara,
    ja, es ist auch ein starkes Buch von einem starken Charakter.
    Das ganze Buch über war ich so unsagbar traurig, dass er tatsächlich tot ist, das er keine Aktionen und keine Kunst mehr gestalten kann.
    Ich hatte den Hasen auch als Zitat auf Beuys verstanden (“Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt.”), wie die 7.000 Patronen und nicht Eichen, wie er selber so treffend sagt.
    Viele seiner Aktionen erscheinen mir persönlich als soziale Plastik. Aber es isind statt den 7000 Eichen die Filme da, die von den Aktionen berichten.
    Das Operndorf beeindruckt mich auch sehr. Ich habe viel darüber gelesen. Mich beeindruckt auch die Schule, die Kéré entworfen hat und die ohne Strom klimatisiert und aus dem Material der Gegend entstanden ist.
    Einen schönen ersten Advent wünscht dir Susanne

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 3, 2012 at 1:00 pm

      Liebe Susanne,

      ich habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut.
      Auch ich war beim Lesen des Buches sehr traurig. Viele Passagen sind so kämpferisch, verzweifelt optimistisch und lebensbejahend. Schlignensief macht Pläne für ein Leben, für eine Zukunft. All das in dem Wissen zu lesen, dass er mittlerweile gestorben ist, habe ich als sehr traurig und unheimlich schwierig empfunden.
      Ich habe Christoph Schlingensief als Künstler und als Menschen erst durch seine beiden Bücher kennengelernt, möchte aber unbedingt mehr über seine Kunstaktionen lesen und erfahren. Ich wurde schon auf eine Dokumentation über ihn hingewiesen, die wohl vor einiger Zeit auf arte lief. Hast du noch besondere Empfehlungen für mich?

      Ganz liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Susanne Haun
        December 3, 2012 at 5:41 pm

        Liebe Mara,
        ich freue mich auch sehr, dich kennen gelernt zu haben.
        Vielleicht magst du dir die Autobiografie nach der Lektüre des Buches noch einmal als Hörbuch anhören? Es ist so eindringlich, wie Schlingensief spricht.
        Ich werde mir nach dem Hörbuch das Buch kaufen, damit ich die Möglichkeit habe, Markierungen anzubringen.
        Ansonsten finde ich die Beiträge auf Arte auch sehenswert. Ich finde, er hatte viel Charisma, das gerade in den filmischen Beiträgen herauskommt.
        Liebe Grüße sendet dir Susanne

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          December 4, 2012 at 2:29 pm

          Liebe Susanne,
          ich war bereits mehrmals über deine lesenswerten Kommentare bei buechermaniac gestolpert, freue mich aber sehr, dass wir uns jetzt auch hier treffen und darüber, dass ich deinen Blog kennengelernt habe, den ich sehr interessant finde.
          Vor Hörbüchern habe ich irgendwie immer noch eine gewisse Scheu oder sogar Abneigung. Es fällt mir schwer mich auf den Prozess des Hörens einzulassen, da nehme ich lieber selbst das Buch in die Hand. Deine Schilderungen klingen aber so beeindruckend, dass ich für das Hörbuch von Schlingensief wohl eine Ausnahme machen muss.

          Liebe Grüße
          Mara

  • Reply
    Schlingensiefs Autobiografie “Ich weiß, ich war’s” – mein Eindruck und Sinnbild – Susanne Haun « Susanne Haun -> Drawing -> Zeichnung -> Dibujo -> 水彩画
    December 2, 2012 at 4:57 pm

    […] Mir gefällt auch die Ressezion von Mara Giese, die ihr hier in ihrem Blog “buzzaldrins Bücher” lesen könnt. […]

  • Reply
    Ein Kampf aus der Perspektive des Lebens … | buzzaldrins Bücher
    January 30, 2014 at 5:28 pm

    […] der erste Schriftsteller, der seine Erkrankung öffentlich thematisiert: vor ihm taten dies bereits Christoph Schlingensief, Wolfgang Herrndorf und Jeff Jarvis, neben einigen anderen. Dabei taucht immer wieder die Frage […]

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