Die Frau, die vom Himmel fiel – Simon Mawer

Der britische Autor Simon Mawer wurde 1948 in England geboren und wuchs in Zypern und Malta auf. Es wurden bereits acht Romane von ihm veröffentlicht. In der literarischen Welt bekannt wurde er vor allem durch seinen Roman “The Glass Room”, mit dem er für den Booker-Preis nominiert gewesen ist. “Die Frau, die vom Himmel fiel” ist das erste Buch von ihm, das auf Deutsch veröffentlicht wurde. Auf der Webseite des Verlags gibt es einen interessanten Artikel von Simon Mawer, in dem man noch mehr über die Hintergründe der Romanentstehung erfährt.

Im Mittelpunkt von “Die Frau, die vom Himmel fiel” steht die junge Frau Marian Sutro. Marian Sutro ist keine gewöhnliche Frau, denn sie springt mit gerade einmal neunzehn Jahren aus den geöffneten Türen eines Flugzeugs mitten hinein in das besetzte Frankreich, hinein in die “tosende Dunkelheit über Frankreich”.

“Sie sitzt im Rumpf des Flugzeugs, verschnürt wie ein Gepäckstück und gepeinigt vom Lärm. Eine halbe Stunde zuvor hat man sie durch die Tür nach oben bugsiert, weil sie es mit dem Fallschirm auf dem Rücken niemals alleine die Leiter hochgeschafft hätte. Jetzt sitzt sie einfach da, in dem ohrenbetäubenden Krach und dem trüben Licht, um sie herum hartes Metall und zahllose Pakete.”

Marian Sutro wächst mit ihren Eltern und ihrem Bruder Ned in Genf auf und lebt drei Jahre in einem englischen Internat. Sie ist für den Frauenhilfskorps WAAF tätig, als sie von einer geheimen Organisation angeworben wird: ihre Aufgabe soll es sein, ein Leben im französischen Untergrund zu führen. Sie qualifiziert sich für diese Tätigkeit vor allem aufgrund ihrer herausragenden französischen Sprachkenntnisse. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, wird Marian durch eine harte und unnachgiebige Ausbildung geschickt, in der sie  nicht nur lernen muss, mit einem Fallschirm zu springen, sondern auch niemandem mehr vertrauen zu können, um als Spionin unentdeckt agieren zu können. Sie lernt, ihr Leben zu verteidigen und notfalls jemanden zu töten und sie lernt, dass sie ihre Vergangenheit hinter sich lassen muss, um in eine neue Identität und ein neues Leben schlüpfen zu können. Ihre Eltern und ihren Bruder Ned muss sie förmlich aus ihrem Leben ausradieren, nichts dürfen sie über ihre Tätigkeit erfahren.

“Sie zog sich vor dem Spiegel aus, warf ihre Kleidung aufs Bett und verwandelte sich von der selbstsicheren Erwachsenen, die andere sehen mochten, in das scheue Kind, das nur sie allein kannte, fade, blass, mit plumpen Gliedern und Hüften und kleinen, spitzen, unscheinbaren Brüsten. Was tun mit diesem Wesen, das noch nie mit einem Mann zusammen gewesen war, noch nie allein in einem Hotel gewohnt hatte, noch nicht mal allein in einer Bar gewesen war?”

Marian Sutro, alias Alice Thurrock, alias Anne-Marie Laroche lässt alles hinter sich, als die Vergangenheit sie doch wieder einholt: sie erhält den Auftrag,  einen Pariser Wissenschaftler nach England zu holen. Dabei handelt es sich um ihre Jugendliebe, den acht Jahre älteren Clément.

Simon Mawer beschreibt sehr detailliert die Ausbildung, die Marian durchläuft, die nicht nur physisch anstrengend ist, sondern auch psychisch. Marian wird immer wieder eingeschärft, wie wichtig es ist, niemandem zu vertrauen. Wenn man im Untergrund arbeitet, hat man keine Freunde. Dennoch knüpft Marian während ihrer Ausbildung enge Kontakte, freundet sich mit Yvette an und beginnt eine Affäre mit Benoit. Auch ihr Leben in Paris wird beschrieben, ihre Ankunft mit dem Fallschirm, ihre ersten Schritte als Spionin – sie muss sich erst langsam in ihrer Aufgabe zurecht finden. Im Mittelpunkt steht natürlich ihre Mission, Clément zurückzuholen, die von vielen persönlichen Emotionen und Erinnerungen geprägt ist. Schnell wird deutlich, dass einem in der Ausbildung nicht alles beigebracht wird, denn was tut man, wenn plötzlich persönliche Gefühle involviert sind? Wie verhält man sich, wenn man sich verliebt hat? Belügt man den Menschen, den man liebt und mit dem man so viel verbindet? Weiht man ihn in seinen Auftrag ein und gibt alle Geheimhaltung auf? Wie entscheidet man sich und welches Risiko birgt welche Entscheidung? Dieser Zwiespalt zwischen den eigenen Gefühle und den Verpflichtungen ihrer Arbeit als Spionin scheint Marian Sutro immer wieder zu zerreißen, denn Liebe und Gefühle können einen unvorsichtig werden lassen.

Im Nachwort des Romans erfährt man, dass “Die Frau, die vom Himmel fiel” auf historischen Tatsachen beruht:

“Vom  Mai 1941 bis zum September 1944 schickte die französische Sektion der Special Operations Executive fünfzig Frauen in den Einsatz. Zwölf von ihnen wurden von den Deutschen verhaftet und ermordet, eine andere starb während ihrer Mission an  Meningitis. Die übrigen überlebten den Krieg. Einige dieser Frauen erlangten durch Filme und Bücher, die über sie geschrieben wurde, einen gewissen Bekanntheitsgrad. Andere sind bis heute unbekannt geblieben. Außergewöhnlich waren sie alle.”

Der Roman beruht jedoch nicht nur auf historischen Tatsachen, sondern auch auf persönlichen Erinnerungen, denn der Vater von Simon Mawer, der für die Royal Air Force tätig war, hatte selbst Kontakt mit einer solchen Frau: Anne-Marie Walters. Dieser Frau, die den Decknamen Colette hatte und dessen Geschichte sich mit der von Marian deckt, ist der Roman gewidmet.

Der Roman endet mit einem Zitat von Jean-Pierre Claris de Florian: “Pour vivre heureux, vivons cachés.” Um glücklich zu leben, lebe versteckt. Eine Weisheit und ein Lebensmotto, dass das Leben einer Spionin und das Leben von Marian Sutro in einem Satz herrlich zusammenfasst.

Ich habe “Die Frau, die vom Himmel fiel” gerne gelesen, da ich die historische Grundlage des Romans unheimlich spannend fand. Ich habe vorher noch nie etwas vom Special Operations Executive gehört, geschweige denn von den fünfzig Frauen, die in einen Einsatz geschickt wurden. Das Schicksal der Frauen und die Belastungen, denen sie ausgesetzt waren, empfinde ich als ein wirklich spannendes Thema. Leider hat mich die literarische Umsetzung von Simon Mawer nicht ganz überzeugen können, da mir Marian Sutro im Laufe des Roman sehr fremd geblieben ist. Mit nicht einmal neunzehn Jahren wird sie aus einer behüteten Kindheit gerissen und in das besetzte Frankreich geschickt und dennoch wirkt sie bei allem was geschieht unheimlich kühl, nüchtern und gelassen. Als könnte sie nichts erschrecken. Diese Distanziertheit schlägt sich auch in der Sprache nieder, die ich als nüchtern empfunden habe – Simon Mawer gelingt es nicht immer, die Gefühlswelt seiner Protagonistin zu transportieren.

Irreführend kann möglicherweise auch das Zitat auf dem Buchrücken des Romans sein: “Leidenschaft plus Gefahr – was könnte aufregender sein?” Wer glaubt, einen aufregenden Agentenroman zu lesen, wenn er “Die Frau, die vom Himmel fiel” in die Hand nimmt, sieht sich getäuscht. Action, Sexszenen, Leidenschaft, wilde Verfolgungsjagden – all das steht nicht wirklich im Vordergrund. Hat mir aber auch überhaupt nicht gefehlt. Simon Mawer hat den Fokus eher auf die psychologischen Aspekte der Arbeit eines Spions gelegt und beschreibt diese umso spannender.

Simon Mawer ist ein interessanter historischer Roman gelungen, dem man mit Begriffen wie “Agentenroman” oder “Spionagethriller” nicht gerecht wird. Trotz seiner distanzierten Art und Weise des Erzählens und der wenig greifbaren Hauptfigur, war es mir nicht möglich, das Buch zwischendurch aus der Hand zu legen. Der Wunsch zu erfahren, was mit Marian Sutro geschieht, war einfach zu groß. Ein Roman, der sicherlich Schwächen hat, der mich aber neugierig darauf macht, hoffentlich mehr von diesem Autor entdecken zu dürfen.

6 Comments

  • Reply
    sawiga
    December 26, 2012 at 1:34 pm

    Liebe Buzzaldrin, danke für die Besprechung des Buches. Ich habe es vor einiger Zeit auf englisch gelesen und kann dir in gewissen Punkten sehr zustimmen; auch mir blieb die Figur der Marian Sutro bis zuletzt fremd. Zwar war auch ich vom historischen Aspekt der Geschichte faszniert, aber bei mir hat sich mit der Zeit auch eine gewisse Genervtheit breit gemacht. Vor ein paar Jahren hab ich Mawers “The Glass Room” mit Begeisterung gelesen. “The Glass Room” ist eine Geschichte am Anfang des 20. Jahrhunderts in Prag und strahlt durch seine originellen Figuren und Vielschichtigkeit noch heute in mir nach. Umso enttäuschter war ich natürlich, als ich feststellen musste, dass genau diese Punkte bei Mawer´s neustem Buch fehlen….

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 26, 2012 at 3:46 pm

      Liebe Sawiga,
      herzlichen Dank für deinen interessanten Kommentar. Auf Simon Mawer war ich vor allem aufgrund der begeisterten Stimmen in Bezug auf seinen Roman “The Glas Room” aufmerksam geworden und ich hoffe immer noch sehr (vor allem auch nach deinem Kommentar), dass dieser ins Deutsche übersetzt wird. Ich freue mich, dass du meine Eindrücke teilst: Marian Sutro ist mir mit ihrer Gefühls- und Gedankenwelt bis zum Ende fremd geblieben und es fiel mir auch immer wieder schwer ihre Handlungen nachzuvollziehen. Deine Genervtheit kann ich in Teilen nachvollziehen und muss gestehen, dass ich auf Seite 150 mich auch irgendwann gefragt habe, wann Marian denn nun endlich nach Frankreich kommt. 😉
      Um so mehr hoffe ich auf eine Übersetzung von “The Glas Room”, das ich unheimlich gerne lesen würde.
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Mariki
    December 27, 2012 at 10:52 am

    Ich hab das Buch als Leseexemplar bekommen und sehe es seitdem immer ein wenig ratlos an … aber nach deiner Rezension habe ich jetzt Hoffnung geschöpft, dass ich es vielleicht doch mögen könnte. Denn Action und Sex will ich ja eigentlich nicht, und den Klappentext fand ich bisher nicht so anregend, aber deine Meinung dazu klingt ganz gut!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 27, 2012 at 5:18 pm

      Ich freue mich, wenn ich dich dem Buch ein kleines Stückchen näher bringen konnte. Simon Mawers Roman hat sicherlich Schwächen, lässt sich aber dennoch gut lesen. Action und Sex brauche ich auch nicht, ich könnte mir nur vorstellen, dass der Klappentext bei potentiellen Lesern möglicherweise falsche Erwartungen wecken könnte. Ich bin gespannt, wie es dir gefällt, falls du dich entscheiden solltest, es zu lesen. 🙂

      • Reply
        Mariki
        December 28, 2012 at 6:44 pm

        Ich werde es auf jeden Fall wagen … interessant klingt es ja allemal. Und ich hab es ja immerhin schon hier 😉

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