Die Erdfresserin – Julya Rabinowich

Julya Rabinowich wurde 1970 in St. Petersburg geboren und ist mit sieben Jahren nach Wien gezogen. Heutzutage arbeitet sie als Autorin, Malerin und Simultandolmetscherin. 2008 erschien ihr Debütroman “Spaltkopf”, 2011 folgte das Buch “Herznovelle”. “Die Erdfresserin” ist ihr neuester Roman.

“Mein Gesicht nähert sich der Oberfläche. Ich zwinkere mir zu. Dunkle Augen im dunklen Wasser. Dunkel wie Kaffee und viele durchwachte Nächte. Gezupfter hoher Brauenbogen. Der Atem rührt kleine Wellen auf, das Haar gerät in unruhige Bewegung, verwischt, setzt sich erneut zusammen. Dampf breitet sich darüber, ich verschwinde im Nebel.”

Julya Rabinowich erzählt die Geschichte von Diana, die im Osten Europas aufgewachsen ist. Diana ist jung, gebildet, kulturell interessiert. An der Universität hat sie Regie im Hauptfach studiert. Wenn sie das Haus verlässt, trägt sie meistens eine Ausgabe von Dostojewskis “Idiot” bei sich. Diana hat aber auch einen behinderten Sohn. Eine Schwester. Eine Mutter. Alle drei wollen versorgt werden. Ihr Sohn braucht Medikamente. Ihre Familie braucht Geld. Der Vater ist schon vor langer Zeit verschwunden, niemand glaubt mehr daran, dass er zurückkehren wird. Nur die Mutter schrubbt die Stufen vor der Eingangstür. Schrubbt und schrubbt. In der Hoffnung, ihr Mann stehe plötzlich wieder hinter ihr. Hinterlassen hat er seiner Familie eine Bibliothek. Als Kind fährt Diana am liebsten mit dem Roller hindurch, später beginnt sie die Bücher daraus zu lesen.

Um ihre Familie versorgen zu können, geht Diana immer wieder für einige Wochen nach Westeuropa. In Wien oder Prag verdient sie in wenigen Tagen so viel, wie sie in ihrer Heimat innerhalb eines Monats verdienen würde. Sie lässt ihren Sohn alleine, doch gleichzeitig übernimmt sie die alleinige Verantwortung für ihn und ihre Familie. Sie alle sind auf Diana und darauf, dass sie Geld verdient, angewiesen. Diana arbeitet buchstäblich bis zum Zusammenbruch. Sie lässt sich selbst ausbeuten.

Mich hat die Figur der Diana sehr beeindruckt. Sie fährt in fremde Länder, fern von ihrem Zuhause, um Geld zu verdienen. Geld, das sie nicht für sich selbst ausgibt, sondern zurückschickt in die Heimat. Diana ist stark, unbeugsam, eine mutige Kämpferin. Diana ist aber auch unbequem, hart, unnachgiebig. Manchmal ist es als Leser schwer, sie sympathisch zu finden.

“Wische den Schlamm von den Lippen wie viele, viele Worte zuvor, stehe auf und gehe weiter. Stehe auf und gehe weiter. Es gibt welche, die liegen bleiben. Ich gehöre zu denen, die aufstehen und weitergehen. Es ist eine Frage der Entscheidung. […] Und keinen Blick zurück. Den Blick zurück kann man sich erlauben, wenn man einen Ort erreicht, der nach dem Zurück liegt.”

Diana ist hin- und hergerissen zwischen der Verpflichtung ihrer Familie gegenüber, vor allen Dingen auch ihrem Sohn gegenüber und dem Wunsch danach, ein eigenes Leben führen zu können. Ihre Träume zu leben. Am Theater tätig zu sein, als Regisseurin zu arbeiten. Diese Spaltung macht Diana manchmal auch wütend, es gibt immer wieder Passagen und Abschnitte, in denen ihre Wut sich Bahn bricht. Die Tatsache, dass sie ganz allein die Verantwortung und finanzielle Versorgung ihrer Familie auf ihre schmalen Schultern nimmt, zehrt an den Kräften der jungen Frau. Sie macht es sich nie einfach, geht den schweren Weg, statt zu sagen “Ich bleibe hier”.

“‘Was machen Sie, wenn Sie das Gefühl haben, nichts geht mehr?’

‘Ich habe kein solches Gefühl.’

‘Waren Sie denn nie verzweifelt?’

‘Das muss man sich leisten können.'”

In Wien scheint es für sie dann doch endlich Hoffnung zu geben, als sie auf den abergläubischen und schwerkranken Polizisten Leo trifft. Für eine Weile kann sie ein sorgenfreies Leben führen, doch diese Entwicklung scheint kein Ausweg auf Dauer zu sein. Als Leo stirbt, löst er sich schließlich in Luft auf und Diana muss schon beinahe das Gefühl beschleichen, diese Form des Glücks nur geträumt zu haben, denn plötzlich passt der Schlüssel zu dem Leben mit Leo nicht mehr, als hätte es nie existiert. Seine Eltern haben nach seinem Tod einfach die Schlösser ausgetaucht.

Das Buch ist in zwei Teile geteilt, in ein Davor und ein Danach. Im zweiten Teil steuert das Leben von Diana langsam auf eine Katastrophe zu, auf einen Zusammenbruch. Der Schluss ist in seiner Dichte und Intensität sicherlich einer der Höhepunkte des Romans.

Mich hat “Die Erdfresserin” vor allem aufgrund der poetischen Sprache überzeugen können. Bei den Bildern und Stimmungen, die Julya Rabinowich in ihrem Roman erschafft, ist es sicherlich angemessen, beinahe schon von einer Sprachgewalt zu sprechen. Viele Passagen des Buches sind von Bildern geprägt, die sich mir eingebrannt haben, die ich auch nach Zuklappen des Buches noch in mir trage, die in mir aufsteigen, wenn ich die Augen schließe.

“Es ist nicht angenehm, hässliche Dinge aufzubewahren, das tun die hässlichen Dinge ganz von selbst, sie drücken sich ungefragt in unsere Erinnerungen wie heiße Brandsiegel, unauslöschlich. Mit der Zeit geraten sie aus der Form, wie alte Narben, während die Haut des Bewusstseins noch wächst, an Spannkraft verliert, an Formen die sie halten sollte, unmerklich ändern sich die Bilder, ändern sich die Geschichten, ändern sich die Menschen, bis sie sich ganz verloren haben und in ihren erdigen Betten angekommen sind.”

Julya Rabinowich ist ein beeindruckend poetischer Roman gelungen. Sie zeichnet das Bild einer starken und mutigen Frau und porträtiert gleichzeitig auch die Verhältnisse, in denen viele Menschen aus Osteuropa leben müssen. “Die Erdfresserin” ist kein leichtes Buch, es ist unbequem, viele Passagen musste ich mehrmals lesen, um sie zu begreifen und verstehen zu lernen. Ein Buch, für das man sich Zeit nehmen sollte, um es in all seinen Facetten entdecken zu können.

9 Comments

  • Reply
    caterina
    January 23, 2013 at 9:58 pm

    Dieselbe Leseerfahrung habe ich mich Spaltkopf gemacht, eine intensive, erschütternde, manchmal verwirrende und mühsame, auf jeden Fall aber lohnende Lektüre. Die Erdfresserin werde ich eines Tages sicher auch noch lesen.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 24, 2013 at 2:30 pm

      Ich kann dir “Die Erdfresserin” nur empfehlen, aber ich weiß ja selbst nur zu gut, wie viele Bücher es gibt, die man gerne lesen möchte. “Spaltkopf” und “Herznovelle” stehen ganz weit oben auf meiner Liste und ich bin schon sehr gespannt darauf, wie sie mir gefallen werden. “Mühsam, aber lohnend” beschreiben meine Gefühle beim Lesen eigentlich sehr gut. Das Buch ist nichts, was man leicht weglesen könnte, ich habe immer wieder pausiert und Stellen teilweise noch einmal gelesen. Die Mühe hat sich für mein Empfinden aber sehr gelohnt.

      • Reply
        buechermaniac
        January 24, 2013 at 2:41 pm

        Liebe Mara

        Du bringst es auf den Punkt: auch ich habe ganze Passagen ein zweites Mal gelesen, um auch ja alles zu verstehen. Der Roman erfordert dem Leser höchste Konzentration ab. Um herauszufinden, aus welchem Land Diana denn eigentlich kommt, habe ich nochmals das halbe Buch akribisch Zeile für Zeile durchgesehen 😉

      • Reply
        caterina
        January 24, 2013 at 4:23 pm

        Mit der Herznovelle wurde ich mich leider überhaupt nicht warm, irgendwie fand ich keinen Zugang zu ihr. Schade, wo do Titel und Cover so vielversprechend sind. Der Spaltkopf hingegen hat mir gut gefallen; ich denke, dort wirst du eher das finden, was du schon in der Erdfresserin gefunden hast. Auf meinem Blog findest du eine kleine Rezension dazu, falls du dir vorher einen Eindruck davon machen magst.

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          January 25, 2013 at 11:07 am

          Der Titel “Herznovelle”, der mich irgendwie an Herta Müller erinnert, hat mich in der Tat jetzt schon sehr gereizt, aber dann werde ich als nächstes vielleicht doch lieber “Spaltkopf” lesen. Danke auch für deinen Hinweis auf deine Besprechung, da werde ich gleich mal einen Blick reinwerfen. 🙂

  • Reply
    buechermaniac
    January 24, 2013 at 6:44 am

    Liebe Mara

    Als ich sah, dass du “Die Erdfresserin” ebenfalls liest, war ich sehr gespannt, was du zu diesem Roman sagen würdest. Und ich freue mich, dass dir die Sprache, ja überhaupt das Buch von Rabinowich auch so gut gefallen hat wie mir.

    LG buechermaniac

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 24, 2013 at 2:33 pm

      Liebe buechermaniac,

      ich habe auch noch einmal einen Blick in deine Besprechung geworfen, an die ich mich noch gut erinnern konnte. Schön, dass uns beiden der Roman ähnlich gut gefallen hat. Die poetische Sprache war bei der Lektüre für mich sicherlich ein Highlight, aber auch die Geschichte und die Figur der Diana hat mich gefangen genommen. In deiner Besprechung hatte ich gelesen, dass die Autorin früher mit Flüchtlingen gearbeitet hat, dieses Hintergrundwissen fand ich sehr interessant.

  • Reply
    Susanne Haun
    January 24, 2013 at 12:17 pm

    Liebe Mara,
    Interview wie Buchvorstellung gefallen mir sehr gut. Ich mag das Zitat um die Verzweiflung, die man sich leisten muss…..
    Ich habe gerade bei Ingrid im Blog geschrieben, dass ich meinen Bücherberg jetzt erst einmal abbaue aber auf die Wunschliste zieht das Buch auf jeden Fall…..
    Ich lese gerade “Pferde stehlen” – auch eine Empfehlung von dir und bin völlig gefangen in dem Buch… schöne beschriebene Bilder!
    LG Susanne

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 24, 2013 at 2:48 pm

      Liebe Susanne,
      ja, das Zitat mag ich auch gerne. Überhaupt hat es mir bei der Lektüre die Figur der Diana sehr angetan. Sie ist mutig, kämpferisch, aber auch unbequem. Sie wirkt nicht durchgehend sympathisch auf mich und dennoch besitzt sie in meinen Augen etwas bewundernswertes: Einen unzerstörbaren Kampfgeist. Ich bin auf jeden Fall schon sehr gespannt auf deine Eindrücke zu dem Buch. 🙂 Im Moment arbeite ich übrigens auch gerade meinen Bücherberg aus dem vergangenen Jahr ab und verzichte völlig darauf, Neuerscheinungen zu lesen. Mal schauen, wie lange ich das durchhalte.

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