Wie Barney es sieht – Mordecai Richler

Mordecai Richler wurde 1931 in Montreal geboren und verstarb im Jahr 2001. Er gehörte zu den bedeutendsten Schriftstellern Kanadas. Als junger Mann brach er sein Literaturstudium ab und lebte jahrelang als freier Schriftsteller, zunächst in Paris und später in London. Später kehrte er nach Montreal zurück. “Wie Barney es sieht” wurde im vergangenen Jahr vom liebeskind Verlag in einer Wiederauflage veröffentlicht.

“In meiner Vorstellung bin ich immer noch fünfundzwanzig. Höchstens dreiunddreißig. Gewiss nicht siebenundsechzig und nach Verfall und zerschlagenen Hoffnungen riechend. Mit säuerlichem Atem. Mit Gelenken,  die dringend geölt werden müssten. Und jetzt, da ich ein Hüftgelenk aus Plastik habe, bin ich nicht einmal mehr biologisch abbaubar. Umweltschützer werden gegen meine Beerdigung protestieren.”

“Wie Barney es sieht” ist die Autobiographie und Lebensbeichte von Barney Panofsky, der mit der Produktion schlechter Film reich geworden ist. Barney möchte reinen Tisch machen, “Ordnung in diesen Scherbenhaufen” bringen und die “wahre Geschichte seines verpfuschten Lebens” aufschreiben. Doch Barney ist nach einem bewegten Leben mit drei Ehefrauen und dem Genuss von etlichen alkoholischen Getränken bereits ein gealterter Mann. Sein Erinnerungsvermögen lässt ihn während seiner Aufzeichnungen immer stärker im Stich und auch sonst neigt er dazu, Fakten zu verdrehen. Stellenweise ist der Text deshalb mit Fußnoten versehen, die Dinge richtigstellen. Eingefügt wurden diese von Barneys pedantischem Sohn, der den Bericht vor der Veröffentlichung korrigiert hat.

“Ich war eine Anomalie. Nein, eine Anomie. Ein geborener Unternehmer. Ich hatte weder wie Terry Preise an der McGill University gewonnen noch wie ein paar von den anderen in Harvard oder Columbia studierte. Ich schaffte gerade die Highschool, nachdem ich mehr Zeit an Billardtischen, als im Unterricht verbracht und mit Duddy Kravitz Poolbillard gespielt hatte.”

Barneys Bericht ist in drei Zeitabschnitte eingeteilt, deren zentrales Thema seine drei Ehefrauen sind: die verrückte Clara, die zweite Mrs. Panofsky, die schon während der Hochzeit wieder ausgetauscht wurde und Miriam, Barneys einzige wahre Liebe. Barneys Beziehungen zu Frauen scheinen vom Pech verfolgt: die verrückte Clara, die sich und Barney in den Wahnsinn treibt und sich schließlich das Leben nimmt. Barney heiratet die zweite Mrs. Panofsky aus Pflichtgefühl und hat unter dieser Entscheidung noch lange zu leiden – vor allem finanziell. In seine dritte Frau Miriam verliebt er sich auf der Hochzeit mit seiner zweiten Frau. Mit Miriam zieht er gemeinsam drei Kinder groß, doch nach dreißig Ehejahren verlässt sie ihn für einen anderen.

Neben den misslungenen Ehejahren lastet noch etwas anderes auf seiner Seele: Einen Großteil seines Lebens wird Barney mit Vorwürfen konfrontiert, verantwortlich für den Tod seines besten Freundes Boogie zu sein. Eine Jury hat ihn von den Vorwürfen freigesprochen und doch glaubt niemand so wirklich an seine Unschuld.

“Ich liebte Boogie und vermisse ihn fürchterlich. Ich würde mein Vermögen dafür geben (oder sagen wir die Hälfte meines Vermögens), damit dieser rätselhafte Mensch, diese eins fünfundachtzig große Vogelscheuche wieder federnden Schritts durch meine Tür käme, an einer Romeo y Julieta ziehend, ein zweideutiges Lächeln auf den Lippen, und fragte: ‘Hast du endlich Thomas Bernhard gelesen?’ Oder: ‘Was hältst du von Chomsky?'”

Als ich anfing “Wie Barney es sieht” zu lesen, habe ich schnell gemerkt, dass die Wahrheit bei Barney keine zentrale Rolle zu spielen scheint. Selbst einfachste Sachverhalte werden verdreht. Barney ist ein Schwätzer, ein Schwadroneur, doch zwischen den ganzen Geschichten und Anekdoten blitzt immer wieder ein Moment der Traurigkeit auf, blitzen melancholische Momente auf, berührende Momente, die nachdenklich machen. Barney leidet zunehmend unter Gedächtnisaussetzern, die ihn wahnsinnig machen:

“Letzte Nacht, als ich schon fast eingeschlafen war, konnte ich mich nicht mehr an den Namen des Dings erinnern, mit dem man Spaghetti abseiht. Man stelle sich das vor. Ich habe es tausend Mal benutzt. Ich sah es vor mir. Aber ich wusste nicht mehr, wie man das verdammte Ding nennt. Und ich wollte nicht aufstehen, um in den Kochbüchern nachzusehen, die Miriam zurückgelassen hat, weil ich dann nur wieder daran gedacht hätte, dass einzig und allein ich an meinem Unglück schuld bin, und um drei würde ich sowieso aufstehen müssen, um zu pinkeln.”

Mordecai Richler ist mit “Wie Barney es sieht” das schillernde Porträt eines Mannes gelungen, der verbittert und dennoch mit einer gehörigen Portion Humor auf sein Leben zurückblickt. Barney, der aus einfachen Verhältnissen stammt, hat sich ein Leben lang auf Schleichwegen durchgemogelt und es damit zu Reichtümern und Erfolg gebracht. Zufrieden ist er mit seinem Leben jedoch nicht. Zu vieles ist auch schiefgegangen. In seinen Aufzeichnungen möchte er versuchen seinem Leben einen Sinn “abzupressen, die Fäden zu entwirren” – muss aber erfahren, dass es dafür scheinbar zu spät ist. Die Fäden verheddern sich immer wieder und der Sinn wird verschleiert, denn Barneys Gedächtnis scheint nicht mehr zu den besten zu gehören. “Wie Barney es sieht” ist vollgestopft mit Namen, Geschichten, Orten, Handlungen, Verbindungen – der Roman umfasst beinahe 500 Seiten, die Schrift ist klein gedruckt und doch übt das unkonventionelle Leben Barneys einen so großen Reiz aus, dass ich das Buch zwischendurch kaum noch aus der Hand legen konnte.

Interessant fand ich die Komposition des Romans: Mordecai Richler baut den Text als Biographie, die von Barney Panofsky veröffentlicht wird, auf. Ergänzt wird der Text durch Fußnoten, die von Barneys Sohn eingefügt wurden. Im Nachwort – geschrieben von Barneys Sohn – werden die Umstände der Veröffentlichung erklärt. Ich hatte aufgrund dieser Elemente zwischendurch beinahe das Gefühl, authentische Fakten und nicht nur Fiktion in den Händen zu halten. Faszinierend ist aber auch der zunehmende mentale Verfall von Barney, der in seinem Text, in seiner Sprache, in seinen Wortfindungsschwierigkeiten gespiegelt wird.

“Wie Barney es sieht” ist ein ungewöhnliches Buch, das die Geschichte eines ungewöhnlichen Mannes erzählt. Mordecai Richler erzählt auf einem hohen literarischen Niveau. Er erzählt eine Geschichte, über die man stellenweise lachen kann und die einem stellenweise die Tränen in die Augen treibt. Ich habe seinen Roman sehr gerne gelesen und freue mich darauf, weitere Bücher dieses spannenden Autors entdecken zu dürfen.

Der Roman wurde übrigens auch verfilmt:

12 Comments

  • Reply
    literaturen
    February 4, 2013 at 2:53 pm

    Das Buch klingt definitiv als könnte es mir gefallen. (;

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 5, 2013 at 1:00 pm

      Oh ja, das glaube ich auch! Ich habe die Lektüre sehr genossen und wäre gespannt darauf, ob es dir genauso gut gefällt! 😀

  • Reply
    Frau Blau
    February 4, 2013 at 3:18 pm

    wieder eine sehr feine Besprechung, liebe Mara, die auch gleichzeitig und schon wieder neugierig macht 🙂

    herzlich grüßt dich Ulli

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 5, 2013 at 1:02 pm

      Liebe Ulli,

      ach, ich freu mich so, dass ich dich neugierig machen konnte. Ich wollte schon so lange mal etwas von Mordecai Richler lesen und werde nach diesem Leseerlebnis sicherlich auch noch das ein oder andere seiner weiteren Bücher entdecken. 🙂

      Viel Spaß bei der Lektüre
      wünscht Mara

  • Reply
    caterina
    February 4, 2013 at 6:28 pm

    Das Buch kenne ich noch nicht, dafür habe ich damals den Film gesehen, der durchaus Lust auf die Romanvorlage macht. Das Spiel mit den Fiktionen, das du ansprichst (die fingierte Autobiographie samt Fußnoten und Nachwort zum Entstehungsprozess), fällt im Film natürlich weg, dort wird die rein inhaltliche Ebene wiedergegeben, aber gerade dieses Spiel mit den Realitätsebenen macht das Buch zu einer reizvollen Lektüre. Auf meiner Wunschliste ist es jedenfalls schon seit geraumer Zeit, jetzt muss ich nur noch zur Tat schreiten. 😉

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 5, 2013 at 1:04 pm

      Liebe Caterina,
      ich muss gestehen, dass ich den Link zum Filmtrailer allein aufgrund deines Hinweises eingebaut habe. Sonst wäre ich wohl nicht darauf gestoßen. Schade, dass die fingierte Autobiographie in der Verfilmung wegfällt. Auch wenn dies verständlich ist, hat gerade das Spiel mit den Fiktionen für mich einen großen Teil des Reizes an dem Buch ausgemacht. Falls du dich entscheiden solltest das Buch zu lesen, wünsche ich dir schon jetzt ganz viel Spaß bei der Lektüre und würde mich natürlich über einen Bericht freuen. 🙂

  • Reply
    Petra Gust-Kazakos
    February 4, 2013 at 9:08 pm

    Ich kenne bislang auch nur den Film, den ich fantastisch fand. Und wusste gar nicht, dass er auf einem Roman basiert, der klingt ja auch sehr gut! Liebe Grüße
    Petra

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 5, 2013 at 1:05 pm

      Lustig, der Film ist scheinbar ganz an mir vorbeigegangen, auch wenn ich gestehen muss, dass ich keine große Kinogängerin bin und ja auch keinen Fernseher besitze. “Barneys Version” ist auf jeden Fall auf meiner Wunschliste gewandert und ich werde demnächst zumindest mal einen Blick reinwerfen.
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    dieseitenspinnerinnen
    February 5, 2013 at 7:15 am

    Das ist ja mal eine Entdeckung, liebe Mara. Ich bin schon ganz geflasht von deiner Rezension und den wenigen Zitaten und freue mich auf die Lektüre. LG Mila

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 5, 2013 at 1:06 pm

      Liebe Milla,
      freut mich, dass dich meine Rezension “geflasht” hat (was für ein schönes Kompliment!). Es hätte noch so viele schöne Stellen gegeben zum Zitieren, aber irgendwie muss ich dann ja doch immer eine Auswahl treffen. Ich bin auf jeden Fall schon sehr auf deine Eindrücke zu dieser Lektüre gespannt! 🙂

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    Liebeserklärung an Liebeskind – SchöneSeiten
    July 3, 2017 at 10:04 pm

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    Eine Liebeserklärung – We read Indie
    August 2, 2017 at 6:07 am

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