Wer wir sind – Sabine Friedrich

Sabine Friedrich wurde 1958 in Coburg geboren, studierte Germanistik und promovierte 1989 in München. Seit 1996 lebt sie gemeinsam mit ihrer Familie wieder in Coburg. 1997 erschien ihr erster Roman “Das Puppenhaus” – es folgten weitere Romane, unter anderem “Familiensilber” und “Immerwahr”. An ihrem neuesten Roman “Wer wir sind” arbeitete Sabine Friedrich insgesamt sechs Jahre. Von der Entstehungsgeschichte und der Arbeit an diesem Roman erzählt die Autorin in ihrem “Werkstattbericht”, der zusätzlich zum Roman erschienen ist.

“Was folgt auf das Ende, was liegt vor dem Anfang?”

Das sind die ersten Wörter des Romans “Wer wir sind”. Das ist der erste Satz, der mich bereits rettungslos hineinzieht in dieses Zeitpanorama, das insgesamt mehr als 2000 Seiten umfasst.

“Die Zeit strudelt in Wirbeln, und die Geschichte entfaltet sich, sie rollt sich auf wie ein Farnblatt, verzweigt sich, sie teilt sich in Stränge, die sich umeinander winden und zu Spiralen, Wendeln, Spindeln verschlingen, bis der Anfang wieder mit dem Ende verschmilzt, das nichts ist als ein weiterer Anfang.”

“Wer wir sind” erzählt die Geschichte des deutschen Widerstands. Der Roman erzählt die Geschichte der Moltkes, Stauffenberg-Brüder, Bonhoeffers, Harnacks und Dohnanyis. Die Geschichte der Schulze-Boysens, Schumachers und Coppis. Der Roman erzählt die Geschichte von Menschen, die mutig genug gewesen sind, Widerstand zu leisten. Der Roman beginnt ganz am Anfang: im warmen goldenen Indian-Summer-Nachmittag 1917 in Milwaukee, “der deutschesten Stadt Amerikas”. Dies ist der Ausgangspunkt für einen Roman, der auf mehr als 2000 Seiten erzählt wird. Sabine Friedrich gelingt es ganz wunderbar, nicht nur den Mut dieser einzelnen Männer und Frauen zu würdigen, sondern all diese Figuren, Stränge und Erzählebenen zu einem Gesamtbild zu verflechten, das den Eindruck einer beinahe kohärenten und gemeinsamen Bewegung vermittelt.

“Die Kolonnen brüllen und grölen auf den Straßen, man muss etwas unternehmen. Man muss sich der Flut entgegenstemmen. Man kann nicht tatenlos beiseitestehen, man muss aktiv werden.” 

Sabine Friedrich erzählt in ihrem Roman die Geschichte der vielfach miteinander “verflochtenen Familien der Harnacks, Delbrücks, Bonhoeffers und Dohnanyis”. Sie erzählt die Geschichte von Menschen, die sich gegenseitig nicht immer persönlich gekannt haben, die jedoch vereint wurden durch den Gedanken des Widerstands. In einer Zeit, in der viele Menschen nicht hinsehen wollten, haben es einige Menschen geschafft, den Mut aufzubringen, sich zu wehren. Ein Großteil der Figuren, die wir in “Wer wir sind” begleiten, wird für diese Entscheidung mit ihrem Leben bezahlen müssen.

“Die Wirklichkeit ist brüchig. Die Risse sind überall. Es scheint aber keiner zu bemerken. Die Leute gehen ihren Beschäftigungen nach, als wäre alles normal, als täten sich nicht überall vor ihnen, zwischen ihnen Abgründe auf, Schlünde zu unwirklichen Orten, zu Höllenkellern, in die kein Gesetz und kein Licht hinabreichen […].”

Zentrales Thema des Romans ist natürlich der deutsche Widerstand und dem Text merkt man an, wie detailliert und gut die Autorin dafür recherchiert hat. Sie präsentiert keine neuen Erkenntnisse oder bisher unbekannte Tatsachen, aber sie verwebt das, was sie erzählt unheimlich eindrucksvoll zu einem Gesamtkunstwerk miteinander. Sabine Friedrich zeichnet den Weg ihrer Figuren nach, geht auch immer wieder zurück in deren Kindheit und entwirft dabei ein umfassendes Panorama des Widerstands. Sie erforscht die zentrale Frage, welche Persönlichkeiten hinter dem deutschen Widerstand standen. Warum haben sich manche Menschen dazu entschieden, Widerstand zu leisten? Woher nahmen sie den Mut? Was hat ihre Persönlichkeit und ihre politische Haltung beeinflusst?

Die Gründe sind vielfältig, häufig sind die Menschen, die sich wehren, auch selbst betroffen. Vielen ist der Widerstand aber auch eine innere Haltung. Beeindruckend zeichnet die Autorin die Persönlichkeiten der Menschen im Widerstand nach, die häufig selbst erst einen Erkenntnisprozess durchlaufen. Ich denke beispielsweise an Henning von Tresckow, Generalmajor der deutschen Wehrmacht, der Hitler an der Macht zunächst begrüßte und sich erst später dem Widerstand zuwendete. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler, nahm er sich schließlich selbst das Leben.

“Aber wenn es um Leben geht, auf der falschen Seite gestanden zu haben, das wäre übermenschlich schwer, und die Aussicht darauf würde die ganze Existenz verdunkeln. Darum stehe ich hier. Darum tue ich, was ich tue, und ich fühle mich wohl in meiner Haut. Natürlich glaube ich nicht an einen guten Ausgang der Dinge. Aber man kann doch trotzdem ein sauberes, kämpferisches Leben führen.”

Neben dem Widerstand steht aber auch zwangsläufig der Tod im Mittelpunkt von “Wer wir sind”. Die Bonhoeffers, Harnacks und Moltkes nehmen für das, was sie tun den Tod in Kauf. Atemlos habe ich das Buch kaum noch aus der Hand legen können, als die Gruppierung der Roten Kapelle enttarnt wird und die Mitglieder nach und nach verhaftet und verhört werden. Schließlich wird ihnen der Prozess gemacht. Für die meisten von ihnen bedeutete dies die Todesstrafe. Für mich war vieles von dem, was ich gelesen habe unvorstellbar und nur schwer zu begreifen: wie findet ein Mensch den Mut, für sein Tun den Tod in Kauf zu nehmen und wie muss sich so ein Menschen dann fühlen im Angesicht des Todes?

Das Buch enthält noch viel mehr, von dem ich an dieser Stelle leider nicht alles erwähnen kann. Einen großen Raum nimmt natürlich auch die Geschichte von Helmut und Freya von Moltke ein, über die ich bereits im vergangenen Jahr ein eindrückliches Buch gelesen habe. Doch auch neben den bekannteren Namen, werden am Rande immer wieder Namen fallen gelassen und Geschichten erzählt, die mich unheimlich berührt haben: Sabine Friedrich zitiert beispielsweise aus den Tagebüchern von Tanja Sawitschewa oder erzählt die Geschichte von Rivka Yosselevcscka. Beide Geschichten haben mich aufgrund des unfassbaren Leids und der unfassbaren Grausamkeit zu Tränen gerührt.

“Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugungen sein Leben hinzugeben.”

“Wer wir sind” ist kein leichtes Leseerlebnis: es ist intensiv, bedrückend, traurig, aufwühlend, tröstend und dennoch gleichzeitig so erhellend und informativ. Auch wenn der Widerstand bereits mehr als sechzig Jahre zurückliegt, enthält das Buch auch für uns in der heutigen Zeit immer noch wichtige Anknüpfungspunkte. Ein bewegendes Buch, das mich mehr als zwei Monate begleitet hat und das ich nicht gerne ziehen lasse. Nach dem Zuklappen der letzten Seite habe ich ein Gefühl der Leere verspürt. Mehr als zwei Monate habe ich die Bonhoeffers, die Harnacks und die Dohnanyis begleitet, saß mit Helmut von Moltke in der Todeszelle und mit Freya in Kreisau.

Sabine Friedrich hat dem deutschen Widerstand ein literarisches Denkmal gesetzt, das seinesgleichen sucht. Es gelingt ihr die Vielzahl an Personen, Gruppierungen, Stränge und die häufig gleichzeitig verlaufende Chronologie in eine lesbare Form zu bündeln, die ein unvergleichliches Panorama der damaligen Zeit aufzeigt. Die 2000 Seiten mögen abschreckend wirken, doch auf mich hat der Roman bereits nach den ersten Seiten einen so starken Sog ausgeübt, dass ich ihn zwischendurch kaum noch aus der Hand legen konnte. Ein bewegendes Leseerlebnis über den deutschen Widerstand – ein Buch, das ich nur jedem ans Herz legen kann!

15 Comments

  • Reply
    literaturen
    February 27, 2013 at 4:23 pm

    Ich hatte es neulich bei uns in der Hand. Interessant ist es allemal, zumal Widerstand gegen Ungerechtigkeit meines Erachtens ja IMMER Thema ist, auch wenn man nicht in einer Diktatur lebt. Da ist zwar das Aufbegehren in der Regel nicht lebensgefährlich, aber dennoch nicht an der Tagesordnung. Die meisten bleiben doch lieber in ihrer persönlichen Routine.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 28, 2013 at 7:55 pm

      Du hattest es in der Hand? Da kannst du dann vielleicht nach vollziehen, dass ich nach zwei Monaten Lektüre fast schon eine Sehnenscheidenentzündung hatte. 😉 Ich kann dir nur zustimmen, dass diese Problematik immer noch aktuell ist, auch wenn die Zeit des deutschen Widerstands bereits mehr als 60 Jahre her. Die psychologischen Mechanismen, die Menschen dazu bringen, auch bei den schlimmsten Ereignissen wegzuschauen, sind in den Menschen sicherlich immer noch aktiv – die Autorin nimmt darauf auch in ihrem Nachwort ganz interessant Bezug. Eine Lektüre des Romans kann ich dir nur empfehlen, auch wenn das Buch erst einmal erschlagend wirken kann, lässt es sich dann doch schnell lesen, weil die Art und Weise in der das Buch erzählt wird, einfach einen ungeheuren Sog ausübt.

  • Reply
    buchpost
    February 27, 2013 at 4:54 pm

    Bei einem solchen Buch scheue ich mich, einfach bloß auf den “like-button” zu drücken. Danke für die Besprechung. Das ist ein Buch, das ganz oben auf der Wunschliste steht. Anna

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 28, 2013 at 7:51 pm

      Liebe Anna,
      ich freue mich, dass das Buch ganz oben auf deiner Wunschliste steht. Auch wenn ich mir vorstellen kann, dass Seitenanzahl und Preis auf viele abschreckend wirken kann, kann ich die Lektüre des Romans nur empfehlen. Für mich war “Wer wir sind” ein unheimlich intensives und lehrreiches Leseerlebnis.

  • Reply
    caterina
    February 27, 2013 at 9:44 pm

    Ein beachtliches Unterfangen – das Verfassen eines solchen Buches, aber auch die Lektüre. Chapeau! Das Thema ist wirklich überaus spannend und auch wichtig, heute wie damals, da gebe ich literaturen recht.

    Ein Frage hätte ich zur Erzählweise: Die verschiedenen Schicksal hängen ja – historisch gesehen – nicht unmittelbar zusammen, du schreibst aber, dass sie miteinander verwoben werden. So richtig kann ich mir das nicht vorstellen. Ich bin mir sicher, dass die Autorin nicht episodenhaft vorgeht – ein Kapitel für die Bonhoeffers, eines für die Moltkes, usw. Aber wenn nicht so, wie dann? Ich frage mich, wie man all diese Geschichten zu einer großen, kohärenten Geschichte verweben kann. Kannst/magst du noch kurz was zur Erzählstruktur / zum Aufbau sagen?

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 28, 2013 at 7:45 pm

      Ja, in der Tat empfinde auch ich das Thema – obwohl die Zeit des deutschen Widerstands bereits mehr als sechzig Jahre zurückliegt. Unheimlich interessant und erhellend ist in diesem Zusammenhang auch die Lektüre des Werkstattberichts, da die Autorin auch viele wichtige Orte, die in dem Buch eine Rolle spielen, besucht hat.

      Deine Frage zur Erzählweise ist sehr interessant und nicht leicht zu beantworten, aber ich will es versuchen: du hast natürlich Recht damit, dass die Autorin in der Tat nicht episodenhaft erzählt. Der Roman ist in zwei Teile geteilt: im ersten Teil geht es überwiegend um die mit der Roten Kapelle assoziierten Mitglieder, im zweiten Teil dann vor allem um das Stauffenberg-Attentat und den Kreisauer Kreis. Spannend finde ich daran, dass Sabine Friedrich im zweiten Teil dadurch manche Ereignisse noch einmal auf dieselbe Art und Weise erzählt, wie im ersten Teil, da der Leser Personen begegnet, denen er auch schon zuvor begegnet ist. Die verschiedenen Schicksale hängen natürlich nicht unmittelbar zusammen, doch die Autorin erzählt innerhalb eines Kapitels von vielen unterschiedlichen Figuren und Schicksalen, so dass man letztendlich den Eindruck erhält, dass alles auf irgendeine Form zusammengehört. Ich hoffe, ich konnte dies nun einigermaßen erhellend erklären. Ansonsten kann ich dir nur empfehlen, auf der Homepages des Romans einen Blick in die Leseprobe zu werfen, da erhälst du einen ganz guten Einblick in die Erzählweise. 🙂

    • Reply
      caterina
      March 1, 2013 at 4:28 pm

      Vielen Dank, liebe Mara, das beantwortet meine Frage schon ziemlich genau. Jetzt kann ich mir in etwa vorstellen, wie Friedrichs Erzähung funktioniert. Und ein Blick in die Leseprobe beseitigt bestimmt die letzten Zweifel, danke für den Tipp!
      Hab ein schönes Wochenende. 🙂

      • Reply
        buzzaldrinsblog
        March 4, 2013 at 2:28 pm

        Liebe Caterina,
        ich hatte ein wunderschönes, sonniges, Wochenende und hoffe, dass auch zu dir nach Frankfurt einige Sonnenstrahlen gekommen sind! 🙂 Bei mir im Buchladen lag ein kleines Heftchen mit der Leseprobe aus, dadurch konnte ich mir auch einen ersten Eindruck von dem Erzählstil der Autorin machen und wusste schnell, dass mir das Buch gefallen könnte. Die Kritiken für das Buch waren bisher wohl eher durchwachsen, was ich angesichts der Leistung die in diesem Werk steckt, schade finde. Aber wer weiß, ob ein professioneller Literaturkritiker überhaupt die Zeit hat, das ganze Buch durchzulesen. 😉

  • Reply
    Eva Jancak
    February 28, 2013 at 8:43 am

    Was ist eigentlich der Unterschied zwischen “Ich lese gerade” und dem “Auf dem Nachttisch”-Buch?

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 28, 2013 at 7:26 pm

      Liebe Eva,
      die Nachttisch-Bücher waren Bücher, die wirklich auch nur auf dem Nachttisch lagen, weil sie wirkliche Brocken waren und schlecht zum Rumtragen geeignet. Parallel dazu habe ich dann immer meine Unterwegsbücher gelesen. 😉

  • Reply
    Karthause
    March 1, 2013 at 7:21 am

    Bei jedem Besuch im Buchladen lese ich 1 – 2 Seiten dieses Romans. Als ich sah, dass du ihn liest, habe ich mich schon sehr auf deine Meinung gefreut und ich habe sie in etwa so erwartet. Da ich nun nicht ständig im Buchladen mit diesem Roman in der Hand herumlungern kann, werde ich demnächst mit 2000 Seiten im Gepäck nach Hause gehen. Zum Lesen werde ich dann aber wohl erst nach Ostern kommen. Hast du das Werkstattbuch zu diesem Roman auch gelesen? Danke für die umfangreiche und aussagekräftige Buchvorstellung. Heike

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 4, 2013 at 2:31 pm

      Liebe Heike,
      ich freue mich, dass ich mit meiner Besprechung vielleicht ein Stück weit zu deiner Entscheidung beitragen konnte, das Buch zu kaufen und lesen zu wollen. Ich habe mich auch lange schwer getan, bevor ich mich für die Lektüre entschieden hatte. Geholfen hatte mir dabei auch die Leseprobe, durch die ich einen guten Eindruck gewinnen konnte. Das Werkstattbuch habe ich im Anschluss gelesen – es ist unheimlich interessant, da die Autorin viele Orte, die im Buch eine Rolle spielen, besucht und auf Fotografien festhält. In dem Werkstattbericht wird auch sehr gut der Bogen geschlagen zu der heutigen Bedeutung, die der deutsche Widerstand immer noch hat. Für mein Empfinden ist es sehr empfehlenswert, sich das kleine Bändchen dazu zu holen.

  • Reply
    Cathrin
    October 1, 2013 at 5:20 pm

    Sehr schöne Rezension! Ich habe das Buch gestern beendet und heute noch den Werkstattbericht gelesen und ich kann mich deinem Eindruck voll und ganz anschließen. Zwischendurch hatte ich mal kleine Hänger, aber nun am Ende kann ich mich gar nicht recht losreißen.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      October 2, 2013 at 9:52 am

      Liebe Cathrin,

      ich finde es ganz große Klasse, dass auch du in der Zwischenzeit das Buch gelesen hast und dich sogar meinen Eindrücken scheinbar anschließen kannst. Hänger hatte ich bei der Lektüre übrigens auch, dann habe ich das Buch einfach zur Seite gelegt und andere Bücher dazwischen geschoben – andere Passagen haben mich dann wieder mehr gefesselt und ich konnte kaum aufhören zu lesen.

      Liebe Grüße
      Mara

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