Das Leben ist groß – Jennifer duBois

Jennifer duBois wurde 1983 in Northhampton, Massachusetts, geboren und studierte Politik und Philosophie. Ihren Abschluss erwarb sie als Stipendiatin am Iowa Writers’ Workshop. Heutzutage unterrichtet sie an der Stanford University. “Das Leben ist groß” ist ihr erster Roman. Von der National Book Award Foundation wurde sie in der Rubrik “5 unter 35” als eine der besten fünf Nachwuchsautorinnen ausgezeichnet. Jennifer duBois betreibt eine eigene Homepage.

“Natürlich war jede Art von Katastrophe grauenerregend. Aber vielleicht waren die am schlimmsten, die man kommen sah und doch nicht verhindern konnte.”

Jennifer duBois erzählt in “Das Leben ist groß” die Geschichte von Irina Ellison und Alexander Besetow. Irina ist Anfang dreißig und  leidet an einer unheilbaren Krankheit. Bereits vor einigen Jahren erhielt sie die Diagnose Chorea Huntington. Die ersten Symptomen können jederzeit auftreten, Irina weiß nicht wann, nur dass dies bald der Fall sein wird. Den langsamen und schmerzhaften Verfall und Tod ihres Vaters hat sie von Beginn an miterleben müssen. Das möchte sie ihren Angehörigen ersparen. Irina ist erst zwölf Jahre alt, als ihr Vater zunehmend kränker wird.

“Ich war zwölf, als ich zum ersten Mal meinen Vater im Schach besiegte, und zuerst dachte ich, es läge an meiner überragenden Intelligenz.”

Alexander Besetow war ein Schachwunderkind, das sich mittlerweile vom Schach abgewendet hat, um sich politisch für ein neues Russland zu engagieren. Nicht nur in diesem biographischen Detail ähneln sich die Lebensverläufe von dem fiktiven Alexander Besetow und dem ehemaligen Schachspieler Garri Kasparow.

Das Verbindungsglied zwischen diesen beiden unterschiedlichen Menschen ist Irinas Vater, der kurz nach dem Auftreten der ersten Symptome einen Brief an Alexander Besetow schickt. Es ist vor allem eine Frage, die Irinas Vater am Herzen liegt: wie kann man würdevoll mit Niederlagen umgehen, die unabwendbar sind?

“Bei manchen dieser Spiele wiederum haben Sie sicher von vornherein gewusst, wie es ausgehen würde – Spiele, in denen Ihr Intellekt sich im Gegensatz zu sonst als beschränkt, schwankend und sterblich erwies. Wenn Sie so eine Partie, eine Begegnung, ein Turnier bestreiten, wie gehen Sie dann vor? Welche Geschichte erzählen Sie sich selbst, wenn Sie sich dieser absoluten Gewissheit gegenübersehen, wenn Sie das Gefühl haben, sich an den Grenzen Ihres Selbst wund zu reiben?”

Das, was Irinas Vater in diesem Brief beschreibt, ist auch das, was Irina nach ihrer Diagnose umtreibt. Wie stellt man sich einem solchen Urteil und wie geht man mit der Gewissheit um, bald sterben zu müssen, ohne etwas dagegen tun zu können? Wie soll man sich auf einen Menschen einlassen und ihn lieben können, wenn man weiß, dass dich dieser in wenigen Monaten wahrscheinlich füttern und betreuen muss?

“Ich bin nicht romantisch genug, um zu glauben, dass die Liebe so einen Frontalangriff überstehen kann. […] Ich hatte meinen Vater geliebt. Liebte ich auch den Menschen, zu dem er durch seine Krankheit geworden war? Ich weiß es nicht. Was war das für ein Mensch?”

Irina möchte sich nicht mehr auf das Leben und ihre Mitmenschen einlassen, denn ihre Zeit ist sowieso begrenzt, ohne dass sie daran etwas ändern könnte. Doch als ihr der Brief ihrer Vaters in die Hände fällt, dieser verzweifelte Brief, auf den ihr Vater nie eine Antwort erhalten hat, beschließt Irina nach Russland zu reisen. Sie möchte selbst eine Antwort auf diese Frage finden.

“Die Vorstellung, nach den Antworten auf die Fragen meines Vaters zu suchen, hatte etwas wohltuend Symmetrisches.”

Der Roman ist wie eine Schachpartie komponiert: die Kapitel werden abwechselnd aus der Sicht von Alexander und Irina erzählt. Die Erzählung beginn 1979 in der Sowjetunion. Der Leser begleitet Alexander durch seine Zeit an der Schachakademie und erlebt mit, wie dieser eher zufällig in die Arme einer Dissidentenbewegung gerät und damit beginnt, sich politisch zu engagieren. Irina führt uns in das Jahr 2006 und nach Cambridge, Massachusetts. Sie lässt den Leser an ihren Empfindungen teilhaben, die sie nach ihrer Diagnose überrollen, als sie sich mit Mitte zwanzig testen lässt – damals ist die junge Frau noch am College. Die Diagnose, die einem Todesurteil gleich kommt, zieht ihr den Boden unter den Füßen weg und stürzt sie in eine tiefe Depression.

“Es macht einsam, wenn absolut niemand über die Dinge sprechen will, die einen am meisten beschäftigen.”

Beide Erzählstränge werden zusammengeführt, als sich Irina und Alexander begegnen und feststellen, dass sie beide einer ähnlichen Situation ausgesetzt sind. Während Irina ihre Diagnose schon erhalten hat, schwebt über Alexander ein unausgesprochenes Todesurteil: die russische Regierung und seine politischen Gegner haben es auf sein Leben abgesehen. Beide leben mit der drohenden Perspektive von einem Moment auf den anderen alles verlieren zu können, beide vereint diese besondere Sicht auf das Leben und beide trennt diese gleichermaßen von anderen Menschen.

“Wenn man so darüber nachdachte, konnte man alles – das ganze Leben – als Abfolge unnützer Vorbereitungen ansehen. Warum treiben wir Sport, und warum essen wir jeden Tag die erforderlichen Unmengen Gemüse? Und warum sind wir so eitel, was unseren Körper oder unser Hirn angeht oder worauf wir uns sonst so viel einbilden? Und warum schluchzen wir eine Woche lang, weigern uns zu essen, liegen falsch herum im Bett und sehen das nekrotische Licht am Horizont heraufkriechen, bloß weil ein Junge, der uns nie geliebt hat, es immer noch nicht tut? Solche Qualen, so viel Narzissmus, so viel Geschichtsblindheit. All die großartigen Vorhaben sind am Ende doch nicht so groß. Es sind alles läppische kleine Anwandlungen, Stückwerk zur Abwehr des Unausweichlichen, müßige Versuche, uns abzulenken, die allein dazu da sind, diese eine Tatsache zu entschärfen – die zentrale Tatsache, die unglaubliche, unumstößliche Tatsache unserer Vergänglichkeit.”

Jennifer duBois, die gerade einmal dreißigjährige Autorin, ist mit “Das Leben ist groß” ein ganz besonderer und sehr lesenswerter Debütroman gelungen. Trotz des trostlosen Themas – wie soll man lernen mit der Aussichtslosigkeit und der eigenen Vergänglichkeit umzugehen? – durchzieht das Buch eine charmante und unterhaltsame Leichtigkeit. Irina ist eine bezaubernde Hauptfigur, die sich weigert, auf ihre Diagnose mit Pathos zu reagieren. Nebenbei lernt der Leser auch noch einiges über die russische Zeitgeschichte.

“Das Leben ist groß” ist ein großer und großartiger Roman, der literarisch anspruchsvoll eine berührende Geschichte erzählt, die dennoch von Heiterkeit und Humor durchzogen ist. Jennifer duBois ist eine Autorin von der wir noch einiges erwarten können!

11 Comments

  • Reply
    buechermaniac
    April 29, 2013 at 9:00 am

    Liebe Mara

    Allein die Auswahl deiner letzten Textpassage regt zum Nachdenken und Diskutieren an. Eine interessante Verbindung, die sich die junge Autorin da hat einfallen lassen. Es erstaunt mich immer wieder welche Ideen zu neuen Büchern führen – einfach toll!

    LG buechermaniac

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 1, 2013 at 2:45 pm

      Liebe buechermaniac,

      mich hat vor allem das letzte Zitat beschäftigt, genauso wie der Umgang von Irina mit der Tatsache, dass sie weiß, dass sie sterben muss. Wie lebt es sich mit diesem Wissen weiter? Am Ende des Romans wird dieses Gefühl anhand eines Beispiels auf eine relativ leichte Formel gebracht, die mir aber dennoch gefallen hat: “Und so ist es, wenn man von einem großen weißen Auto verfolgt wird: Es bleibt einem nichts übrig, als weiterzufahren, selbst wenn man weiß, dass es hinter einem her ist.”

      Sonnige Grüße
      Mara

  • Reply
    literaturen
    April 29, 2013 at 4:10 pm

    Das klingt toll! Besonders der Satz “Es macht einsam, wenn absolut niemand über die Dinge sprechen will, die einen am meisten beschäftigen.” ..hat es mir angetan. Irgendwie habe ich das Gefühl, das dahinter steckt, sehr gut nachvollziehen zu können.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 1, 2013 at 2:42 pm

      Liebe Sophie,

      ich glaube, dass das auf jeden Fall ein Buch sein könnte, was dir gefällt und dass du wohl auch Irina mögen würdest – die Wahrnehmung des Buches steht und fällt sicherlich damit, wie man die Hauptfigur empfindet. Zumindest in diesem Buch kommt mir das so vor. Das Zitat was du ansprichst, hat es mir auch sehr angetan.

  • Reply
    Karo
    April 29, 2013 at 9:19 pm

    Diesen Roman kann man nur jedem ans Herz legen! Eine absolute Offenbarung.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 1, 2013 at 2:40 pm

      Liebe Karo,

      da kann ich dir aus ganzem Herzen nur zustimmen, mich hat der Roman auch unheimlich begeistert. Eine tolle Leseentdeckung und ich bin schon gespannt darauf, mehr von der Autorin zu hören.

  • Reply
    papercuts1
    May 1, 2013 at 4:33 pm

    Liebe Mara,

    das ist wirklich ein beeindruckender Debutroman. Ich habe ihn ja auch gelesen bzw. gehört, und wenn ich auch mehr Schwächen entdeckt habe als du, freue auch ich mich auf weitere Romane von DuBois.

    Ich hatte meine Probleme mit der Zusammenführung der beiden Charaktere und Erzählstränge. Den ersten Teil des Romans fand ich wesentlich stärker. Aber sprachlich und thematisch hat mir das Ganze sehr gefallen.

    Schöne Zitate hast du ausgewählt! Da war ja einiges drin, dass man in seine ‘Sammlung’ legen konnte.

    LG,
    papercuts1

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 3, 2013 at 11:08 am

      Liebe Papercuts,

      ich freue mich sehr über deinen Kommentar und wäre sehr interessiert daran zu erfahren, welche Schwächen du noch entdeckt hast? Die Zusammenführung der beiden Stränge habe ich nicht unbedingt als holprig oder schwierig empfunden, auch wenn ich dir in der Hinsicht zu stimme, dass der erste Teil des Romans stärker ist. Mich hat die Sprache des Romans genauso wie die Thematik so berührt und gepackt, dass mir viele Schwächen sicherlich auch gar nicht aufgefallen wären. Ich fände die Frage spannend, ob man beim Hören aufmerksamer auf solche Details achten kann, als beim Lesen.

      Beim Auswählen meiner Zitate musste ich mich sogar noch beschränken, da ich einige Stellen markiert hatte, von denen ich leider nicht alle unterbringen konnte. Aber besser so, als umgekehrt … 😉

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Mariki
    May 2, 2013 at 7:39 am

    Oh, ich freu mich, dass dir der Roman auch gefallen hat! Ich war sehr beeindruckt und gefesselt. Tolle Rezension von dir! http://buecherwurmloch.wordpress.com/2013/02/20/jennifer-dubois-das-leben-ist-gros/

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 3, 2013 at 10:56 am

      Liebe Mariki,
      ich danke dir! 🙂 Mir hat deine Besprechung damals auch sehr gut gefallen und besonders freue ich mich darüber, dass wir einmal bei einem Buch ähnlich gleich begeistert sind!

      • Reply
        Mariki
        May 4, 2013 at 3:34 pm

        Hihi, damit meinst du wohl, dass ICH auch mal von einem Buch begeistert bin 😉

Hinterlasse hier Deinen Kommentar ...

%d bloggers like this: