Leichtmatrosen – Tom Liehr

Tom Liehr wurde 1962 in Berlin geboren und hat bereits als Redakteur, Rundfunkproduzent und DJ gearbeitet. Seit 1998 ist er Besitzer eines Software-Unternehmens. Von Tom Liehr, der in Berlin lebt, erschienen bisher die Bücher “Radio Nights”, “Idiotentest”, “Stellungswechsel”, “Geisterfahrer” und “Pauschaltourist”. “Leichtmatrosen” ist sein neuester Roman. Mehr über Tom Liehr erfährt man auf seiner Homepage.

“Was auf dem Boot geschieht, bleibt auf dem Boot.”

Der Roman “Leichtmatrosen” wird aus der Perspektive von Patrick erzählt. Patrick ist mittelalt und lebt ein eigentlich ganz zufriedenstellendes Leben. Er arbeitet als Lektor bei einem Verlag und hat eine Freundin, um die ihn viele beneiden würden, denn Cora ist ein Popstar. Doch das Leben mit einem Star ist leider nicht immer so ganz einfach und Patrick ist sich mittlerweile sicher, dass Cora ihn mit ihrem Bassisten betrügt.

“Hab dich lieb. Das sagt drei Jahre altes Brüllfleisch zum Papa, das sagt man zur eigenen, inzwischen sechzigjährigen Mutter, die altersbedingt für so etwas empfänglich ist. Aber doch nicht zu dem Mann, mit dem man sechzig Stellungen aus dem Kamasutra ausprobiert, dessen Sperma man geschluckt, dessen feuchte, fleckig-dunkelgraue Socken man in die Waschmaschine gesteckt hat. Hab dich lieb. Diese Wendung hatte ich von Cora noch nie gehört. Aber sie war nur ein Symptom. Eines von vielen.”

Denn da gibt es auch noch Coras Kinderwunsch, der die beiden entzweit und so weit voneinander entfernt, dass Patrick eines Tages Cora dabei überrascht, wie sie mit einer Nadel Löcher in die Kondompackungen piekst.

Doch zum Glück gibt es da noch die dienstägliche Badmintonrunde, um sich abzulenken. In ouzogeschwängerter Stimmung beschließen Patrick und seine Badmintonfreunde Mark, Simon und Jan-Hendrik, der von allen nur Henner genannt wird, gemeinsam Urlaub zu machen. Plötzlich finden sich die vier auf einem Hausboot wieder, ohne jegliche Bootserfahrung zu besitzen und vor allem auch, ohne sich eigentlich wirklich zu kennen, oder überhaupt etwas voneinander zu wissen.

“Meine Bootserfahrungen beschränkten sich auf die Dampferfahrten mit meinen Eltern, in einer Zeit, als ich noch nach Kinderschokolade und nicht nach Mousse süchtig war und Mädchen für eine Tierart hielt, und außerdem auf die drei, vier Tretboottouren, die ich später – mit Mädchen, als ich sie nicht mehr für eine Tierart hielt – unternommen hatte.”

Zehn Tage lang wollen die vier die Havel entlangschippern und schnell wird klar, dass sich Patrick mit einer wahren Chaostruppe auf den Weg gemacht hat. Henner arbeitet als Pfarrer und schwitzt vor lauter Nervosität auf dem Boot bereits nach kürzester Zeit sein erstes T-Shirt durch. Zum Glück hat er genug gebügelte T-Shirts zum Wechseln dabei. Mark erweckt den Eindruck, als wäre er nicht nur äußerlich jung geblieben, sondern als würde in ihm noch ein kleines Kind stecken. Simon wird gerne Simme genannt und hat immer ein Handy griffbereit. Insgesamt besitzt er über zwanzig dieser Mobiltelefone, alle ausgestattet mit Prepaidkarten: eines für die Familie, eines für Mädels und einige weitere für Lieferanten und Bekannte, für die er arbeitet, mal gearbeitet hat oder einen Auftrag nicht zu Ende gearbeitet hat.

“Ich war auch dicht am Totalstrunz, fühlte mich diesen drei Typen aber plötzlich sehr verbunden und hielt es für eine irrsinnig tolle Idee, mit ihnen Urlaub zu machen. Nüchtern hätte ich es nicht einmal für eine tolle Idee gehalten, zufällig mit ihnen gemeinsam dieselbe kleinstadtgroße IKEA-Filiale aufzusuchen. Weil Henner verhaltensgestört war, weil Simon – ohne das zu wollen – gemeingefährlich war, weil Mark alles zuzutrauen war. Eine Mischung, aus der geschichtsverändernde Katastrophen entstanden. Außerdem kannten wir uns kaum.”

Die vier Männer steuern ihr Hausboot mit dem Namen “Dahme”, das sie jedoch schnell in “Tusse” umbenennen, über die brandenburgischen Gewässer. Zu Beginn machen sie sich, begleitet von einigen größeren und kleineren Katastrophen, mit der Steuerung ihres Bootes und mit der trickreichen Durchquerung von Schleusen vertraut und sammeln schnell die ersten Erfahrungen mit anderen mal mehr oder weniger übel gelaunten Hausbootbesitzern. Die Abende verlaufen zumeist alkoholgetränkt und die Morgende entsprechend kopfschmerzlastig. Mehr als einmal bekommen die vier weiblichen Besuch und erleben eine Reihe weiterer amüsanter und brenzliger Situationen. Trotz der anfänglichen Distanz zwischen den vieren, beginnen sie im Laufe der zehn Tage, sich anzunähern und intensive Gespräche zu führen.

Durch die Annäherung der vier Badmintonfreude und das Zusammenleben auf engem Raum, offenbaren sich so einige Geheimnisse der Männer. Es sind nicht nur Dinge, die sie voreinander geheimgehalten haben, sondern auch Dinge, die ihnen vor Antritt der Reise gar nicht bewusst gewesen sind. All das wird Stück für Stück ans Tageslicht befördert und sorgt nicht nur für eine Veränderung des Verhältnisses zwischen den vieren, sondern auch für eine innere Entwicklung der Charaktere. Der gemeinsame Männerurlaub, entpuppt sich Seite für Seite immer stärker als Selbstfindungstrip, denn als leichtes Schippern auf dem Party Boat. Es ist der Urlaub, der dafür sorgt, dass die vier aus ihrem bisherigen Alltag ausbrechen müssen und der sie zwingt, sich, abseits von ihrem sonstigen Leben, mit sich selbst und dem, was sie sein wollen auseinanderzusetzen.

“So ein paar Tage unter sehr ungewohnten Bedingungen lassen die Realität, die man daheim gelassen hat, in einem anderen Licht erscheinen. […] In diesem Augenblick bemerkte ich abermals, dass ich an Land ein Schwanken spürte, auf dem Boot aber nie. Eine fast metaphorische Wahrnehmung.”

“Leichtmatrosen” kommt auf den ersten Blick als leichte Lektüre daher, als ein typisches Männerbuch, in dem typische Männer typische Männerdinge tun. Hinter diesem ersten Eindruck verbirgt sich jedoch mehr: eine Coming-of-Age-Geschichte, die von Männern erzählt, die auf dem Papier.schon längst erwachsen sein müssten, die aber alle noch etwas mitschleppen, das sie daran hindert. Es ist vor allem Angst: Angst vor den eigenen Wünschen, den eigenen Bedürfnissen und dem Leben. Die innere Reise der vier Leichtmatrosen, die sich umgeben von Wasser und Natur, sich und ihrem Leben stellen, ist stellenweise amüsant, aber vor allem auch sehr lesenswert und eindrücklich.

Tom Liehr ist mit “Leichtmatrosen” ein seltsames Buch gelungen. Seltsam, weil es unheimlich facettenreich ist und sich jeglicher Kategorisierung verweigert: leichter Urlaubsroman, humorvolles Männerbuch, gemeinsame Sinnsuche mit Tiefgang – irgendwie ist “Leichtmatrosen” von allem ein bisschen und nebenbei erfährt der Leser auch noch, wie wunderbar ein Urlaub mit Hausboot eigentlich sein kann.

5 Comments

  • Reply
    Nanni
    May 9, 2013 at 6:39 am

    Mmh, scheint so, als müsste ich “Leichtmatrosen” doch noch lesen … ich habe von Tom Liehr bisher “Sommerhit” gelesen, fand es an manchen Stellen aber leider etwas langatmig. Deine Rezi klingt jedoch sehr interessant und hat mich nun doch neugierig gemacht …

    LG Nanni

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 10, 2013 at 2:53 pm

      “Sommerhit” kenne ich noch nicht, liebe Nanni – “Leichtmatrosen” war mein erstes Buch von Tom Liehr und ich kann es dir nur ans Herz legen. Du musst nur damit rechnen, dass die Lektüre teuer werden wird, weil du direkt danach unbedingt Urlaub auf einem Hausboot machen musst. So ist es zumindest mir ergangen! 🙂

  • Reply
    Beatrix Alfs
    May 17, 2013 at 4:21 pm

    Ein wenig seltsam mutet das Buch schon an – das war auch mein erster Eindruck. Sehr schön hat er herausgearbeitet, wie völlig unterschiedliche Menschen zu wahren Freunden wurden, indem sie auf dem Hausboot aufeinander angewiesen waren. Hat mir sehr gut gefallen!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 20, 2013 at 3:09 pm

      Liebe Beatrix,
      dieser Aspekt hat mich auch sehr angesprochen, zum einen, die Annäherung der vier Freunde, die vor der Hausboottour praktisch Fremde für einander gewesen sind und zum anderen die Entwicklung der vier als Einzelpersonen. Ein wirklich lesenswertes Buch und ich freue mich schon darauf, andere Bücher von dem Autor entdecken zu können!

  • Reply
    Liebe im Miniaturformat - Buzzaldrins Bücher
    February 20, 2015 at 2:26 pm

    […] Liehr – Leichtmatrosen (am […]

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