Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft – Florian Werner

Der 1971 geborene Florian Werner ist promovierter Literaturwissenschaftler und lebt als Autor, Journalist und Übersetzer in Berlin. Zuletzt erschien von ihm “Dunkle Materie: Die Geschichte der Scheiße”. Seine aktuelle Veröffentlichung “Schüchtern” erschien im vergangenen Jahr bei Nagel & Kimche.

In der heutigen Arbeitswelt sind immer häufiger offensive Verhaltensweisen gefragt: Eigenwerbung, Selbstdarstellung und das Talent sich gut verkaufen zu können. Schüchternheit ist da fehl am Platz und doch leiden immer mehr Menschen unter genau dieser Eigenschaft. In seinem Buch “Schüchtern”, das den Untertitel “Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft” trägt, wagt Florian Werner den Versuch eines Exkurses zur Schüchternheit.

In acht Kapiteln widmet sich der Autor allen möglichen Facetten der Schüchternheit, wobei für mich die Grenzen zwischen Schüchternheit und einem Verhalten, das auch andere psychische Ursachen haben kann, über das Buch hinweg etwas schwammig blieben. Ergänzt wird die Lektüre durch eine umfangreiche Literaturliste, die Schüchterne dazu einlädt, sich weiter mit diesem Thema beschäftigen zu können.

Zu Beginn meiner Rezension möchte ich gestehen, dass die Auswahl dieses Buches nicht zufällig geschah. Auch wenn ich glaube, dass ich die schlimmste Phase meiner Schüchternheit bereits überwunden habe, treiben einfache Telefonate mir doch immer wieder Schweißperlen auf die Stirn. Dies sorgt bereits auf der ersten Seite des Buches, das insgesamt gerade einmal 170 Seiten schmal ist, für einen Wiedererkennungseffekt:

“Selbst die harmlosesten Gespräche – mit meinem Steuerberater, mit der Hausverwaltung, einem Handwerker – stellen eine schier unüberwindliche Herausforderung dar. Natürlich schiebe ich solche Telefonate so lange wie möglich hinaus, wodurch die emotionale Last, die auf dem Gespräch liegt, immer größer wird.”

Bereits am Anfang bringt Florian Werner seine Schwierigkeiten mit denen er im Alltag zu kämpfen hat, auf einen einfach Satz: “Ich bin ganz einfach schüchtern.”

“Ja, ich bin schüchtern, und es liegt in der Natur der Sache, dass mich selbst ein solch unspektakuläres Bekenntnis einige Überwindung kostet. Mit einem mir unbekannten Menschen ein längeres Gespräch zu führen, womöglich mit Blickkontakt, womöglich ohne Alkoholeinfluss, fällt mir unsagbar schwer.”

Die Schüchternheit führt bei Florian Werner sogar so weit, dass seine hochschwangere Frau vor der Geburt der Tochter selbst den Krankenwagen rufen musste, weil es ihm “unhöflich schien, die Rettungsstelle mit diesem Problem zu belästigen.”

Florian Werner, der von seinen Freunden den Spitznamen “Schildkröte” verpasst bekommen hat, nähert sich dem Begriff und dem Phänomen der Schüchternheit in seinem Buch aus unterschiedlichen Perspektiven: zum einen beschäftigt er sich mit der semantischen Ebene des Begriffs und dessen Wortherkunft, zum anderen zeigt er aber auch die geschichtliche Entwicklung des Begriffs auf. Er widmet sich auch der Genderfrage – ist Schüchternheit etwas, das vielleicht viel eher bei Mädchen akzeptiert wird, als bei Jungen? Einen großen Raum in “Schüchtern” nimmt auch die Frage ein, ob Schüchternheit genetisch bedingt ist oder durch “Erfahrungen, Erziehung, Kultur” bedingt wird. Florian Werner hat einen Zwillingsbruder, der alles andere als schüchtern ist.

“Während das 1907 erschienene Buch Schüchternheit, nervöse Angst= u. Furchtzustände sowie andere seelische Leiden und ihre dauerende Heilung noch vor allem individualpsychologische Gründe sowie Fehler in der Erziehung und Lebensführung für die Entstehung der Schüchternheit verantwortlich macht, wagt Die erfolgreiche Bekämpfung der Schüchternheit aus dem Jahr 1911 bereits eine gesamtgesellschaftliche Analyse.”

Das Buch kommt zu der Erkenntnis, dass die heutige Gesellschaft ruhig ein bisschen Mut zur Schüchternheit zeigen sollte: “Keine falsche Scham. Seien wir ruhig ein bisschen schüchtern.” Der Weg bis zur vollständigen Akzeptanz dieser häufig unterschätzten Eigenschaft ist wahrscheinlich noch weit, doch dieses Buch könnte ein erster Schritt sein. Denn was bedeutet Schüchternheit schließlich anderes als Bescheidenheit, Mitleid oder Feingefühl? Und das sind doch Eigenschaften, die man in unserer heutigen Gesellschaft gut gebrauchen kann.

Florian Werner ist mit “Schüchtern” eine lesenswerte Mischung aus Sachbuch und Erfahrungsbericht gelungen. Obwohl er viele seiner Ausführungen mit Fachbegriffen anreichert bleibt der Text doch auch für Laien lesbar und verständlich. Neben all dem fachlichen Ernst kommt aber auch der Humor nicht zu kurz, der das Buch zu einem amüsanten Leseerlebnis macht. “Schüchtern” ist ein kluges, amüsantes und wissenschaftliches Buch, das mir nicht nur ein spannendes Thema näher gebracht hat, sondern mich dabei auch noch unterhalten konnte.

18 Comments

  • Reply
    papercuts1
    May 13, 2013 at 1:20 pm

    Schön, dass mal einer eine Lanze bricht für die, die keinen lauten Auftritt brauchen. Zurückhaltung und Feinfühligkeit kann unsere polternde Welt gut mal gebrauchen.
    Allerdings gibt es auch Menschen, bei denen die Schüchternheit in soziale Angst übergeht und zum echten Problem wird. Wie du beschreibst, lässt der Autor den Unterschied da scheinbar nicht deutlich werden. Macht er es sich da nicht zu leicht, eine für viele tatsächlich belastende Eigenart zu positiv darzustellen?

    Gruß,
    papercuts1

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 14, 2013 at 1:38 pm

      Liebe Papercuts,

      du sprichst in deinem Kommentar einen ganz wichtigen Punkt an, der mir während der ganzen Lektüre des Buches auch Bauchschmerzen gemacht hat: Florian Werner geht sehr schwammig mit dem Begriff Schüchternheit um, es gibt kaum eine Unterscheidung zwischen einer Schüchternheit, mit der man Leben kann und einer Verhaltensweise, unter der man leidet. Den Ansatz des Buches, sich zu einer unterschätzten Eigenschaft zu bekennen, um diese wieder aufleben zu lassen, finde ich gut. Gewünscht hätte ich mir einen etwas differenzierten Umgang mit dem Phänomen Schüchternheit, denn dort wo Schüchternheit in eine psychische Erkrankung oder in ein Verhalten übergeht, die das Leben einschränken, ist die Eigenart sicherlich nicht mehr als positive Eigenschaft für unsere Gesellschaft zu bezeichnen.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        papercuts1
        May 15, 2013 at 12:38 pm

        Genau das sind die Gründe, warum ich das Buch wohl nicht lesen werde. Wenn man ein ganzes Buch über eine bestimmte menschliche Eigenart schreibt, dann muss man diese auch genau definieren bzw. abgrenzen von Extremformen. Das ist bestimmt nicht einfach, erwarte ich aber, da sonst die pro und contra Argumentation für diese Eigenschaft nicht wirklich funktioniert.

        LG,
        papercuts1

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          May 16, 2013 at 12:09 pm

          Liebe Papercuts,

          deine Entscheidung kann ich auch absolut nachvollziehen! 🙂 Es gibt so viele schöne Bücher, da sollte man seine Zeit nicht mit welchen vergeuden, über die man sich dann eh nur ärgern würde.

  • Reply
    Karo
    May 13, 2013 at 4:58 pm

    Sorry, aber ein Typ, der sogar zu schüchtern ist für seine hochschwangere Frau im Krankenhaus anzurufen, ist ein Waschlappen *aaahhhh*

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 14, 2013 at 1:30 pm

      Liebe Karo,
      😀 ja, da kann ich dir nur zustimmen! Das Beispiel ist vielleicht etwas überzogen und spricht für mich – wie gesagt – nicht für Schüchternheit, sondern für ein andersartiges Problem.

  • Reply
    dasgrauesofa
    May 13, 2013 at 5:34 pm

    Die Geschichte mit dem Krankenwagen hat mich zunächst einmal amüsiert – als wäre der Autor bei der Suche nach einem Beispiel über das Ziel hinausgeschossen. – Grundsätzlich stelle ich mir eine solche Auseinandersetzung mit dieser Charaktereigenschaft als interessant und spannend vor, auch, wie Mara ja beschreibt, da sich die Einschätzung dieser Eigenschaft im Zeitverlauf ändert. Ob sie in unserer Gesellschaft jedoch eine Renaissance erfährt, daran zweifel ich eher.
    Vielen Dank für das Vorstellen des Buches und viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 14, 2013 at 1:29 pm

      Die Geschichte mit dem Krankenwagen hat mich amüsiert, aber wenn sie der Realität entspricht, würde ich beinahe zu dem Schluss kommen, dass es sich hier nicht um Schüchternheit handelt, sondern um ein handfestes Problem. Und diese Unterscheidung bleibt für mich im Verlauf des Buches leider einfach ein bisschen wischiwaschi.
      “Schüchtern” ist aber eine sicherlich anregende und interessante Lektüre, ich habe mich bei der Lektüre häufiger wiedererkannt und war gleichzeitig froh, dass ich doch nicht so schüchtern bin, wie ich dachte. 😉

  • Reply
    caterina
    May 13, 2013 at 8:02 pm

    Dieses Buch sollte ich mir vielleicht mal zu Gemüte führen, vielleicht würde ich mich dann mit dieser (wie ich finde) schrecklichen Charaktereigenschaft anfreunden. Und meinem Chef drücke ich es auch gleich in die Hände :).
    Hast du für dich etwas aus dem Buch mitgenommen, liebe Mara? Du hast ja geschrieben, dass du selbst recht schüchtern bist? Weißt du das jetzt mehr zu schätzen? Fühlt man sich ein kleines bisschen besser – sprich: (selbst)sicherer – nach der Lektüre?

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 14, 2013 at 1:25 pm

      Liebe Caterina,
      ich musste über deinen Kommentar schmunzeln, weil du Schüchternheit als schreckliche Charaktereigenschaft bezeichnest. 😉 Da könntest du ja fast schon eine Replik zu diesem Buch schreiben. 😉 Ich glaube, dass es bei dem Thema “Schüchtern” nicht leicht ist zwischen einer Schüchternheit zu unterscheiden, mit der man leben kann und einem Verhalten, unter dem man leidet. Ich würde mich als schüchtern bezeichnen, wenn es brennt (bzw. meine Frau hochschwanger wäre) habe ich aber auch kein Problem damit, zum Höhrer zu greifen und irgendwo anzurufen. Vielleicht kokettiere ich einfach etwas mit meiner Schüchternheit, ohne, dass ich unter dieser wirklich leiden würde. Ich habe mich in dem Buch stellenweise wiedererkannt und war froh mit bestimmten Verhaltensweisen nicht alleine zu sein, war aber auch gleichzeitig erleichtert, dass es bei mir nicht ganz so schlimm ist mit der Schüchternheit. Also fühle ich mich nun auf jeden Fall etwas selbstsicherer. 😉

  • Reply
    Petra Gust-Kazakos
    May 14, 2013 at 3:33 pm

    Die Idee, der Schüchternheit ein Buch zu widmen, gefällt mir sehr. Aber diese mehrfach angesprochene Schwammigkeit … Ich bin nicht sicher, ob es sich lohnt …?

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 15, 2013 at 12:08 pm

      Liebe Petra,
      für mich hat sich die Lektüre in gewisser Hinsicht schon gelohnt, man muss nur beim Lesen dazu bereit sein, über gewisse Schwammigkeiten hinwegblicken zu können. 🙂

  • Reply
    Buchmanie
    May 17, 2013 at 8:51 am

    Ja, ja, “die Seele ist ein weites Land”, um einen Ausspruch Arthur Schnitzlers zu bemühen. Von daher finde ich es sehr gut, dass mal jemand das Wort ergreift für all die schüchternen, stillen und zurückhaltenden Menschen unter uns. Die ja in der Masse der lautstarken Selbstdarsteller völlig untergehen. Schade, dass der Autor offenbar nur an der Oberfläche gekratzt hat und bei der Definition dieser Charaktereigenschaft sehr schwammig bleibt. Denn wenn die Geschichte mit dem Krankenwagen stimmt, dann ist der gute Mann nicht schüchtern, sondern hat eher ein handfestes Problem.
    Aber wenn das Buch, wie du schreibst, klug und amüsant geschrieben ist, dann wird es ihm damit vermutlich gelingen, einigen schüchternen Lesern Mut zu ihrer vermeintlichen “Schwäche” zu machen. Vielleicht wagt der eine oder andere dann auch einmal, aus seinem Schatten herauszutreten und auf sich aufmerksam zu machen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass in unserer Gesellschaft ein Umdenken stattfinden wird.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 20, 2013 at 3:12 pm

      Liebe Buchmanie,
      wirklich daran glauben, dass in unserer Gesellschaft ein Umdenken stattfinden wird, kann ich leider auch nicht. Den Schüchternen wird wohl nur übrig bleiben, sich von ihrer Schüchternheit zu lösen und etwas “lauter” zu werden, um gesehen zu werden. Trotzdem finde ich grundsätzlich, dass mit Schüchternheit auch positive Aspekte verbunden sind, die unserer Gesellschaft sicherlich nicht schaden würden.
      Auch wenn Florian Werner uns mit seinem Ansatz in seinem Buch leider nicht ganz überzeugt, führt die Auseinandersetzung damit zumindest dazu, dass man sich mit dem Thema Schüchternheit in irgendeiner Form beschäftigt und allein das ist ja schon ein kleiner Sieg! 🙂

  • Reply
    Sonntagsleserin KW #08 – 2014 | buchpost
    February 23, 2014 at 7:32 am

    […] länger zurück, aber erst diese Woche habe ich von Mara auf Buzzaldrins Blog den Artikel zu  Florian Werners Buch Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft entdeckt, der mich außerdem […]

  • Reply
    Xeniana
    February 23, 2014 at 8:36 am

    Wir haben hier auch einen ausgesprochen schüchternen Vertreter in der Familie. Klingt doch nach einer guten Lektüre. Ich finde ja auch, dass Schüchternheit ihren ganz eigenen Charme hat…LG Xeniana

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 23, 2014 at 12:42 pm

      Liebe Xeniana,

      ich finde Schüchternheit auch charmant, ich mag lieber schüchterne Menschen, als Menschen, die allzu selbstbewusst sind. Kritisch wird es jedoch meiner Meinung nach, wenn Schüchternheit einen am Leben hindert …

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Xeniana
        February 23, 2014 at 2:23 pm

        Ja, auf jeden Fall ist es schade…

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