Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt – Navid Kermani

Der 1967 geborene Autor Navid Kermani lebt als freier Schriftsteller in Köln. Kermani hat Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaft studiert und sich im Bereich Islamwissenschaft promoviert und habilitiert. Für seine bisherigen Veröffentlichungen wurde der Autor bereits vielfach ausgezeichnet. Im Jahr 2011 erhielt er den Hannah-Arendt-Preis. Sein Roman “Dein Name”, der im Hanser Literaturverlag erschien, war 2011 für den Buchpreis nominiert. Doch der Autor ist nicht nur für seine Romane bekannt, sondern auch für seine Reportagen und wissenschaftlichen Werke, mit denen er auch immer wieder politisch Stellung bezieht.

Das Buch “Ausnahmezustand”, das den Untertitel Reisen in eine beunruhigte Welt trägt, versammelt Reportagen von Navid Kermani, die in gekürzter Fassung in den letzten Monaten bereits in einigen Zeitungen erschienen sind. Navid Kermani nimmt den Leser mit auf eine Reise, eine Reise durch neun Länder, die ganz unterschiedlich sind, doch eines gemeinsam haben: in ihnen herrscht ein Ausnahmezustand, der die Menschen zur Verzweiflung bringt. Es sind Länder, in die kein Übertragungswagen von CNN fährt, doch Navid Kermani hat sich aufgemacht, um genau diese Schauplätze zu besuchen und in zehn lesenswerten und mitreißenden Reportagen vorzustellen.

Die Reise führt den Leser über Kaschmir und Dehli nach Gujarat, über Pakistan nach Afghanistan, von Teheran nach Syrien, von Palästina nach Lampedusa. Navid Kermani reist als westlicher Beobachter in Länder, in die es nur selten Besucher verschlägt. Die Reportagen von Kermani sind keine nüchternen Kriegsberichterstattungen – dem Autor gelingt es stattdessen, einen ganz persönlichen Blick auf die Länder zu werfen, die er besucht. Seine Beobachtungen erwecken den Eindruck, als würde er die Gebiete, die er bereist, ganz unvoreingenommen bereisen. Offen, fragend und interessiert begegnet er der zivilen Bevölkerung, aber auch den politisch Beteiligten. Kermani beobachtet nicht nur, sondern befragt die betroffene Bevölkerung – es sind vor allem die Zitate der Menschen, die im Ausnahmezustand leben, die das Buch und die Reportagen so beeindruckend und lesenswert machen.

Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir Kermanis Reise nach Kaschmir. Kaschmir ist “eine Stadt im Krieg”. Während der Begriff Ausnahmezustand eigentlich einen vorübergehenden und plötzlichen Zustand suggeriert, hat sich Kaschmir bereits seit zwanzig Jahren in diesem Zustand eingerichtet.

“Die Teilung des indischen Subkontinents hat viele Wunden gerissen, eine Million Menschen, die starben, sieben Millionen, die ihre Heimat aufgeben mußten.” 

Aber auch die Reisen nach Afghanistan, über die es zwei Reportagen gibt, sind lesenswert, wenn auch zugleich erschreckend. Darauf deutet bereits der Titel der zweiten Reportage über Afghanistan hin: “Grenzen des Berichtbaren”. Es gibt Grenzen des Berichtbaren, in Afghanistan wird das, worüber berichtet werden kann, zusätzlich durch die Tatsache eingeschränkt, dass weite Teile des Landes so zerklüftet sind, dass sie kaum noch zugänglich sind. Doch Navid Kermani berichtet, er berichtet eindringlich und schmerzhaft von dem, was er sieht und erlebt. Er berichtet über Nur Agha, der auf einem Friedhof lebt. Er hat seine ganze Familie verloren.

“Als der Krieg vor zwanzig Jahren in die Straßen Kabuls schwappte, Kampf um jedes Haus und von den Bergen Raketen, fuhr er nach Jalalabad voraus, um der Familie eine Zuflucht zu besorgen. Nach Kabul zurückgekehrt, um die Familie abzuholen, hatte eine Bombe sein Haus zerstört, die Frau, alle fünf Kinder und eine Schwester tot.”

Kermani reist im September 2012 nach Syrien, besucht Orte, an denen keine fünfhundert Meter entfernt, der Krieg tobt und doch eine beinahe schon erschreckende Normalität herrscht. Auf diese Normalität trifft der Autor auch in Lampedusa, einem italienischen Ort an der Küste, in dem Flüchtlinge ankommen – zum Zeitpunkt der Reportage waren es bereits beinahe 20.000. 20.000 Flüchtlinge in nicht einmal einem Jahr – 20.000 Menschen, die ihr bisheriges Leben aufgeben, um in eine Zukunft zu reisen, von der sie nicht einmal erahnen können, wie diese aussehen wird. Trotz der existenziellen Situationen dieser Flüchtlinge, die Tag für Tag in Lampedusa eintreffen, hat die Stadt den Flair eines Urlaubsortes nicht verloren.

“Auf der ganzen Welt haben die Reichen ihre Methoden verfeinert, mit denen sie die Wirklichkeit aussperren, haben Zäune gebaut, Mauern, Feindbilder, um das Elend nur ja nicht zu sehen, aber daß es ihnen sogar auf Lampedusa gelingt, bei 19 820 Flüchtlingen allein in diesem Jahr und einer Bevölkerung von fünftausend, stellt jede gated community in den Schatten.” 

Beinahe genau so schlimm, wie die Zustände, die Navid Kermani beschreibt, ist die Tatsache, dass all dies in Regionen und Gebieten stattfindet, die von dem Rest der Welt vergessen scheinen. Die Welt kümmert sich nicht mehr um Kaschmir – berichtet wird erst, wenn es zu Anschlägen mit mehr als acht Toten kommt, vorher ist eine Meldung für die Medien weder interessant, noch relevant.

“[…] daß die Welt sich überhaupt nicht um Kaschmir kümmert, sich allenfalls noch dunkel an die Enthauptung eines westlichen Touristen erinnert.”
Navid Kermanis Buch “Ausnahmezustand” versammelt zehn Reportagen, die eindringlicher nicht sein könnten. In klarer Sprache und deutlichen Worten nähert sich Kermani Ländern, die von niemandem sonst mehr bereist werden wollen. Es gelingt ihm, den nüchternen Zahlen, die einem in den Medien präsentiert werden, ein Gesicht zu geben, einen Namen, eine Geschichte und einen Hintergrund. Statt kalt und nüchtern wirken seine Beschreibungen erschreckend authentisch. Auch wenn er die Länder als unvoreingenommener Beobachter und Berichterstatter bereist, scheut er sich nicht davor, auch seine eigenen Überzeugungen zu formulieren.

“Ausnahmezustand” ist ein mutiges Buch, eines mutigen Autors, dem es durch seine eindringlichen Worte hoffentlich gelingen wird, Leser und Leserinnen auf Orte unserer Welt aufmerksam zu machen, die drohen, aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verschwinden. “Ausnahmezustand” ist ein politisches Buch, ein wichtiges Buch und gleichsam ein sehr persönliches Buch, dessen Lektüre ich nur empfehlen kann. Eine sehr lesenswerte Besprechung findet ihr auch bei Kai.

16 Comments

  • Reply
    Karthause
    July 26, 2013 at 11:14 am

    Das Buch habe ich auch hier liegen, es wird eines der nächsten Bücher sein. Ich bin schon sehr gespannt.

  • Reply
    schifferw
    July 26, 2013 at 11:41 am

    Reblogged this on Wortspiele: Ein literarischer Blog and commented:
    Eine wichtige Empfehlung!

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    July 26, 2013 at 2:04 pm

    Hallo Mara,
    wunderbar, dass Du das Buch auch besprochen hast. Ganz komisch, ich konnte mich sofort wieder an die Stellen erinnern, die Du zitiert hast – und ja, die Reportagen über Kaschmir/Indien/Pakistan und über den auf dem Kabuler Friedhof lebenden Nur Agha haben mich auch besonders berührt. Es ist eben wirklich ein sehr intensives und, wie ich finde, wichtiges Buch, dem man möglichst viele Leser wünschen und nicht oft genug drauf hinweisen kann.
    Danke dafür und einen schönen Gruss, Kai

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 29, 2013 at 8:46 am

      Lieber Kai,

      oh ja, wichtig ist das Buch und unheimlich intensiv – zwischen manchen Reportagen musste ich auch immer wieder kleine Pausen einlegen, weil es einfach “zu viel” wurde. Es sind wirklich sehr lesenswerte und auch immer wieder berührende Reportagen. Über Nur Agha habe ich noch lange nachdenken müssen. Ich hoffe, dass die Reportagen die Aufmerksamkeit und Leser bekommen, die sie verdienen. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    dasgrauesofa
    July 26, 2013 at 7:32 pm

    Liebe Mara,
    Ich werde das Buch auf jeden Fall noch lesen, nachdem Kai und Du es so lobend beschrieben habt. Und aus Euren Besprechungen ist auch so schön deutlich geworden, welche wichtige Aufgabe und Funktion Reportagen haben, wenn sie dem Leser die Ereignisse in der Welt nach Hause bringen, die sonst keine Kamera erfasstt – und der Leser selber natürlich auch nicht. So kann die Reportage eindrücklich und anschaulich berichten – und bewerten – wie es in der Welt so zugeht und hilft so, unseren Blick zu erweitern.
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 29, 2013 at 8:38 am

      Liebe Claudia,
      ich bin sehr gespannt, wie dir das Buch gefallen wird – ich war sehr angetan, wenn dieses Wort für diese Reportage überhaupt angemessen ist. Du beschreibst sehr schön, welchen Stellenwert und welche Bedeutung Reportagen haben können. Navid Kermanis Eindrücke unterscheiden sich von den Berichten in den Nachrichten auch einfach in so fern, dass sie durch seinen Blick und seine Fragen so genau und konzentriert einen Zustand in einem Land einfangen, der jenseits von irgendwelchen nüchternen Opferzahlen liegt. Wirklich sehr beeindruckend und auch mutig vom Autor, in diese Konfliktregionen zu reisen.
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Greta
    July 26, 2013 at 7:46 pm

    Liebe Mara, Deine Besprechungen sind so gut und anregend… Gerade die letzten drei gelesen, die machen mir alle Lust, diese Bücher – auf die ich alleine bestimmt nicht gestoßen wäre – auf meinen Lesestapel zu legen. Danke! Viele Grüße! Greta

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 29, 2013 at 8:33 am

      Liebe Greta,
      danke für dieses großartige Kompliment – für mich ist es immer die größte Freude, wenn ich andere Menschen auf Bücher neugierig machen kann, auf die sie sonst nicht gestoßen wären. Toll, dass mir das bei dir gelungen ist. Falls du dich entscheiden solltest, eines der Bücher zu lesen, wäre ich auf deine Meinung natürlich sehr gespannt! 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    haushundhirschblog
    July 27, 2013 at 2:20 pm

    Herzlichen Dank, liebe Mara!

    mb und dm

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 29, 2013 at 8:23 am

      Gern geschehen!

      Ich und Bandit grüßen ganz lieb und hoffen, dass ihr die Hitze auch gut übersteht! 😀

  • Reply
    kommentarblog
    August 4, 2013 at 6:27 pm

    Schöne Besprechung. Interessanter Autor. Ich kenne nur sein “Buch der von Neil Young getöteten” und fand das fantastisch. Kermani hat eine erstaunliche Spannweite. Das hier lese ich bei Gelegenheit. Dieses Mammutbuch von ihm, “Dein Name” würde mich ebenfalls interessieren.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 5, 2013 at 10:55 am

      Oh, ich freue mich, mal wieder hier von dir zu lesen! 🙂 Für mich war das Buch, meine erste Begegnung mit Navid Kermani, bei dem es sich in der Tat scheinbar um einen sehr interessanten Autor handelt. Das Buch, dass du erwähnst, habe ich gleich auf meine Wunschliste gesetzt. Sein Mammutbuch steht hier seit fast zwei Jahren im Regal – immer noch ungelesen. Ich hoffe sehr darauf, die Zeit finden zu können, um daran bald etwas zu ändern … 🙂

      • Reply
        kommentarblog
        August 11, 2013 at 4:59 pm

        Ja, ich bin nur manchmal aktiv und bemühe mich auch, mich nicht mit Gier nach Aufmerksamkeit zu stressen. Das Neil-Young-Buch macht bestimmt vor allem Sinn, wenn man zumindest ein bisschen Neil-Young-Fan ist, aber notfalls macht es einen auch dazu. Mit ungelesenen Büchern sollte man sich glaube ich auch nicht stressen. Die Bücher sind für uns da, und nicht wir für die Bücher. Genauso sollte es mit den Märkten sein, und der Buchmarkt ist einer davon. Da ist auch noch so viel Leben, das gelebt werden will. Finde ich ja am wichtigsten. Gerade die dicken Brummer und vor allem wenn sie gut geschrieben sind, können in der Beziehung ganz schön aufhalten. Gruß, Gruß …

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          August 13, 2013 at 12:32 pm

          Lieber Kommentarblog,

          Gier nach Aufmerksamkeit? Das klingt so negativ! 🙂 Ich stimme dir aber zu, dass das Leben gelebt werden sollte und dass dies am wichtigsten ist. Das sieht auch mein Hund so, der hier gerade schwanzwedelnd steht und hinaus in die Welt möchte.

          Liebe Grüße
          Mara

      • Reply
        kommentarblog
        August 18, 2013 at 8:22 pm

        Ein bisschen negativ oder zumindest kritisch sehe ich das auch. Für mich hat es etwas beängstigendes, wenn wir uns daran gewöhnen, dass jede Äußerung quantifiziert wird. Es verführt, daraus auf den Wert einer Sache zu schließen. Schwanzwedelnde Hunde sind eine feine Sache. Gruß zurück.

  • Reply
    Große Liebe – Navid Kermani | buzzaldrins Bücher
    July 5, 2014 at 8:39 am

    […] Auch seine letzte Buchveröffentlichung hatte primär eine politische Dimension, denn in “Ausnahmezustand” bereiste er Länder, die sich alle in irgendeiner Form im Ausnahmezustand befinden. Seit diesem […]

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