Scherben – Ismet Prcic

Ismet Prcic wurde 1977 in Tuzla geboren, einer kleinen Stadt in Bosnien-Herzegowina. 1996 emigrierte er in die USA, um dort an der University of California zu studieren. Heutzutage unterrichtet er Theater am Clark College und lebt mit seiner Frau in Oregon. “Scherben” ist sein erster Roman und wurde von Conny Lösch übersetzt. Der Autor betreibt eine eigene Homepage, auf der man unter anderem erfährt, wie man seinen Namen richtig ausspricht: ISS-met PER-sick.

“Jeder ist der Held seiner eigenen Märchen, […]. Mach dir keine Gedanken, was wahr ist und was nicht, damit machst du dich nur verrückt. Schreib einfach nur. Schreib alles auf.”

“Scherben” erzählt die Geschichte eines jungen Mannes namens Ismet Prcic, der seine Heimat verlässt, die vom Krieg in ihre Einzelteile zerfetzt wurde. Über Umwege und als Teil einer Theatergruppe führt der Weg des jungen Mannes nach Kalifornien, seine Familie lässt er in den Wirren des Krieges zurück, dafür gelingt es ihm, sich selbst zu retten. Doch was ist das für eine Rettung, die gleichzeitig bedeutet, dass man seine Angehörigen und sein Zuhause verlassen muss, um ein neues Leben beginnen zu können? In Kalifornien wird aus Ismet Izzy, doch auch der neue Name kann nicht dabei helfen, die Erinnerungen an das Erlebte auszulöschen. Der Krieg ist überall, auch in Amerika: wenn ein Auto eine Fehlzündung hat, geht Izzy in Deckung und das Haus verlässt er nur noch mit einer Pistole. Auf seine Mitmenschen wirkt der verstörte junge Mann befremdlich, er selbst fühlt sich wie fehl am Platz. Er ist zwar in Amerika angekommen, fühlt sich aber so, als würde er sich in einem Film befinden, nicht in der Wirklichkeit.

“Genau genommen schlafe ich fast gar nicht. Wenn ich schlafe, träume ich, dass ich zum College gehe und die Leute mit einer Kalaschnikow niedermähe. Ich träume, dass ich Handgranaten aus meinem Autofenster werfe. Ich träume, dass ich erschossen werde.”

Ismet Prcic hat seinen Roman wie eine Collage komponiert, die sich aus ganz unterschiedlichen Bestandteilen zusammensetzt: der Leser erhält Einblicke in Ismets Notizbücher, in denen der junge Mann nicht nur über seine Kriegserfahrungen schreibt, sondern auch über sein neues Leben in Amerika. Unterbrochen werden die Notizbucheinträge durch Briefe, die Ismet aus Amerika an seine Mutter sendet, die er im Krieg zurückgelassen hat. Und dann gibt es da auch noch die Geschichte von Mustafa, die sich immer wieder in den Text hinein- und dazwischendrängelt – ist Mustafas Geschichte ein Gegensatz oder eine Spiegelung von Ismets Erinnerungen? Ismet Prcic spielt mit den Ebenen und mit der Realität, die im Laufe des Buches so stark verwischt wird, dass es immer schwieriger ist, zwischen Wirklichkeit und Fantasie zu unterscheiden. Wer erlebt was? Wer spricht, wer schreibt – am Ende des Romans lösen sich all diese Grenzen auf, parallel fällt auch Ismet auseinander, er zerbricht an den Erinnerungen. Der Auflösungsprozess wird auch in der Typographie gespiegelt, die zum Ende des Romas immer stärker aufweicht.

“Wie kann es sein, dass ich gleichzeitig in der Vergangenheit und der Gegenwart existiere, gleichzeitig Körper und Seele bin, gleichzeitig in der Realität und in der Fantasie lebe?”

Trotzdessen, dass Ismet Prcic in seinem Roman “Scherben” vor allem die Form in den Mittelpunkt stellt und durch den ständigen Ebenen- und Perspektivwechsel der Erzählung einen phantastischen Anstrich verleiht, verliert sich die Geschichte nicht in der formbetonten Ausgestaltung. Es sind vor allem die Passagen, die vom Krieg in Jugoslawien erzählen, die zu den berührendsten Stellen des Romans gehören und so viel Brutalität und Schrecken transportieren, dass das Lesen nur noch schwer auszuhalten ist. “Ich dachte, wir sind alle Jugoslawen” sagt der Erzähler zu seiner Mutter, als der drohende Krieg kurz bevorsteht. Er bricht unerwartet in einen Alltag hinein, um diesen in seine Bestandteile auseinanderzureißen. Ismet ist bei der Verarbeitung der Erlebnisse auf sich allein gestellt, sein Vater verschanzt sich hinter seinem Schweigen und seine Mutter verliert über die Kriegswirren hinweg ihren Verstand. Der kleine Bruder ist ihm keine Hilfe.

“Dann kamen die ersten Berichte: Belagerungen, zivile Opfer, Konzentrationslager, Flüchtlinge. Wo man auch hinsah, wurden Kroaten und Muslime von serbischen Paramilitärs und der jugoslawischen Volksarmee abgeschlachtet, die, wie sich jetzt herausstellte, wohl doch nicht die Armee aller Völker Jugoslawiens war.”

Ismet schreibt alles auf und geht zurück zu seinen frühesten Erinnerungen – mit drei Jahren, mit sieben Jahren, mit acht Jahren … -, um sich von ihnen befreien zu können. Die Erlebnisse in Tuzla sind erschreckend und von grausamer Brutalität, doch genauso erschreckend ist das Leben nach der Flucht. Nach der gelungenen Flucht sollte alles besser werden, doch nun schlagen plötzlich zwei Herzen in Ismets Brust: ein amerikanisches und ein bosnisches. Die Flucht macht den Erzähler zu einem zerrissenen Mann, der in einem fremden Land um seine Identität kämpft. Trotz der erdrückenden Schwere der Erinnerungen und dem Kampf Ismets in Amerika wird der Roman auch von einem ironischen Unterton getragen. Der Erzähler greift gerne zu einer Fäkalsprache, die den Roman durchzieht.

Ismet Prcic hat einen Roman geschrieben, der in Scherben zerbrochen ist: verworren, zersplittert und durcheinander, pulverisiert und verwirbelt. Oder, wie Ismet sagen würde: Alles war im Arsch. Aufgabe des Lesers ist es, die Scherben zusammenzusetzen, Verbindungen zu ziehen, nachzudenken und sich auf die ungewöhnliche Form des Romans einzulassen. Wenn all dies gelingt, erwartet einen eine außergewöhnliche und lesenswerte Lektüre. “Scherben” thematisiert nicht nur den Schrecken, mit dem ein junger Mann im Krieg konfrontiert ist, sondern richtet auch einen Blick auf das Leben danach. Wie kann man nach einer Flucht aus einem Kriegsgebiet mit den Erinnerungen und seelischen Narben weiterleben, ohne dass diese immer wieder aufplatzen? “Scherben” ist die kraftvolle und poetische Beschreibung eines nicht enden wollenden Krieges, im eigenem Heimatland und in sich selbst.

11 Comments

  • Reply
    muetzenfalterin
    August 9, 2013 at 12:08 pm

    er stellt ja nicht die form in den mittelpunkt, die form ist der inhalt, und der inhalt geht gar nicht anders zu erzählen als so. weil es nämlich keinen unterschied gibt, zwischen fantasie und fakten, wenn es um wirklichkeit geht.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 9, 2013 at 12:44 pm

      Liebe Mützenfalterin,

      ich danke dir für deinen interessanten Einwand und natürlich auch für den Hinweis auf meine Tippfehler. 🙂

      Ich weiß nicht, ob ich deiner Anmerkung zustimmen kann. Natürlich ist die Form gleichzeitig auch der Inhalt, und doch finde ich, dass sie hier eine zentrale Rolle spielt, denn der Roman ist im vergleich zu anderen Romanen schon sehr besonders komponiert und aufgebaut.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    muetzenfalterin
    August 9, 2013 at 12:09 pm

    ach, und nur so am Rande, du hast da am schluss einen tippfehler, zhematisiert…

  • Reply
    Sherry
    August 9, 2013 at 2:17 pm

    Danke für die Rezension, liebe Mara. Was ich dich noch fragen wollte: Was meinst du genau mit der Betonung der “Form”? Geht es um dieses zersplitterte Schreiben? Ich liebäugle seit Mützenfalterins Rezension ja mit dem Buch, konnte aber bis jetzt noch von niemandem erfahren, ob es sich auf Englisch oder Deutsch besser (und authentischer) liest. Vielleicht weißt du dazu mehr?

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 9, 2013 at 4:46 pm

      Liebe Sherry, ich danke dir für deinen Kommentar. 🙂 Mit “Form” meine ich den Aufbau und die Komposition des Romans, die collagenhafte Gestaltung, die das Buch in die Briefe und Notizbücher aufteilt und die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen lässt. Wenn es zu den Bombenangriffen kommt, wird dies auch i Text hervorgehoben durch dicke und große Schriften …
      Zu der Frage, ob sich das Buch besser auf Deutsch oder auf Englisch lesen lässt, kann ich leider nicht wirklich viel sagen, da ich nur die deutsche Ausgabe kenne. Ich habe die Übersetzung von Conny Lösch aber als sehr gekonnt und passend empfunden und habe mich auch mit ihrer Sprache wohlgefühlt.

      Ich würde mich auf jeden Fall freuen, falls du dich entscheiden solltest, das Buch zu lesen. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    August 12, 2013 at 1:44 pm

    Liebe Mara,
    danke für die Besprechung dieses offensichtlich sehr besonderen und wichtiogen Buches. Was Form und Inhalt betrifft: nach der Lektüre Deiner Besprechung (das Buch hab ich noch nicht gelesen) dachte ich schon, dass hier die Form aus dem Inhalt hervorgeht, oder um es anders zu sagen, das Thema für den Autor nur und genau in dieser zersplitterten Form transportierbar war. So gesehen ist dann Form und Inhalt tatsächlich eins und gleich wichtig.
    Liebe Grüsse, Kai

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 13, 2013 at 12:27 pm

      Lieber Kai,

      ich danke dir für deinen Gedanken, aus dieser Perspektive betrachtend, wären Inhalt und Form in der Tat gleich wichtig und gleich bedeutend. Spannend, denn so hatte ich dies noch gar nicht betrachtet. Das Buch ist in der Tat besonders und wichtig und ich hoffe, es wird viele Leser finden. Der Krieg, der von Ismet Prcic beschrieben wird, findet in Deutschland und in Europa leider immer noch wenig Beachtung, da könnten solche Bücher helfen.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    caterina
    August 12, 2013 at 8:19 pm

    Jemand hat mir vor einiger Zeit diesen Roman empfohlen, leider habe ich vergessen, wer. Jedenfalls steht er seither auf meiner Wunschliste, gehört habe ich aber nie wieder etwas über uns. Kann es sein, dass das Feuilleton weitgehend ignoriert hat oder klaffen da einfach nur Lücken in meinem Gedächtnis? Wie dem auch sei: Ich will Scherben auf jeden Fall noch lesen, die Osteuropa-Thematik interessiert mich stark, und ich habe das Gefühl, dass es viele Autoren aus dieser Gegend gibt, die -inhaltlich, vor allem aber erzählerisch – sehr beeindruckende Texte hervorbringen. An Téa Obreht muss ich gerade denken, auch wenn ihr Roman offenbar ganz anders ist als der von Prcic. Merci, dass du mich an sein Buch erinnert hast.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 13, 2013 at 12:24 pm

      Gern geschehen, da ich dem Buch sehr viele Leser wünschen würde, freue ich mich, dich neugierig gemacht zu haben. In der Tat ging es mir ähnlich wie dir: Das Buch stand lange auf der Wunschliste, doch irgendwie schwieg sich sowohl das Feuilleton, als auch die Bloggerwelt zu “Scherben” aus. Ich hoffe, durch meine Besprechung vielleicht einen kleinen Beschäftigungsanstoß gegeben zu haben. Die Lektüre ist ungewöhnlich und man sollte offen sein, für Inhalt und Form des Romans – aber wenn man das ist, erwartet einen ein außergewöhnliches Leseerlebnis. 🙂

  • Reply
    Ilja
    August 18, 2013 at 7:51 pm

    Starke Besprechung, die wunderbar informiert und tatsächlich Lust auf mehr macht!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 19, 2013 at 10:15 am

      Freut mich, dass ich dich neugierig machen konnte, lieber Ilja! 😀 Auf weitere Meinungen zum Roman wäre ich sehr gespannt, würde mich also sehr freuen, falls du dich entscheiden solltest, das Buch zu lesen … 🙂

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