[5 lesen 20] Berlin liegt im Osten – Nellja Veremej

1924285668Nellja Veremej wurde 1963 in der Sowjetunion geboren. Nach einem Studium der Russischen Philologie in Leningrad, lebt die Autorin seit 1994 in Berlin. Beim Literaturwettbewerb Wartholz hat sie 2010 den Newcomer-Preis und den Publikumspreis gewonnen. Außerdem publiziert sie Artikel in der Wochenzeitschrift “Freitag”.

“Mit dem Alter jedoch rückt die Vergangenheit immer näher: Der lange Weg liegt nun hinter ihr, der große Bogen ist geschlagen und schließt sich da, wo er seinen Anfang nahm: an der Türschwelle zum schwarzen Abgrund.”

In “Berlin liegt im Osten” erzählt Nellja Veremej eine Geschichte, die rund um den Alexanderplatz spielt. Es ist die Geschichte von Lena, die einst mit ihrem Mann, dem gemeinsamen Kind und großen Hoffnungen aus dem kleinen kaukasischen Dorf Kema über Leningrad nach Berlin kam. Übrig geblieben ist davon nur ihre Tochter Marina, mit der sie eine kleine Wohnung bewohnt. Sowohl der Mann, als auch die Hoffnungen sind Lena, die als Altenpflegerin arbeitet, im Laufe der Zeit abhanden gekommen.

“Wir vergessen unsere Träume, schieben sie in eine entlegene Ecke, vernachlässigen sie, um sie zu bewundern und zu beweinen, wenn ihre Haltbarkeitsfrist abgelaufen ist.”

Lena erzählt von ihrem neuen Leben in Deutschland und von ihrem damaligen Leben in einem russischen Dorf, in dem sie in so ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, das Geld kaum eine Rolle gespielt hat – es gab einfach keines. Der Vater ist gestorben, als Lena im “Schulalter” gewesen ist, mit ihrer Mutter zieht sie zur Großmutter, doch Lena stellt schnell fest, dass sie aus diesen engen Strukturen ausbrechen möchte. Ihre einzige Chance auf ein anderes Leben, liegt darin, die Verhältnisse in denen sie lebt, hinter sich zu lassen. Sie geht weg, um nicht wie ihre Mutter zu werden – doch kann das überhaupt funktionieren? An der Universität in Leningrad lernt sie Alexander kennen, der von allen nur Schura genannt wird – sie wird schwanger und gemeinsam mit ihrer Tochter Marina zieht es die beiden nach Berlin. Doch die Verbindung hält nicht lange, Schura ist unbeständig und kann nicht mit Geld umgehen. Er hat immer neue Geschäftsideen, mit denen er jedoch in schöner Regelmäßigkeit scheitert.

“Ich setze die neue bunte Mütze auf und gehe raus, in die Stadt, die mir immer Zuflucht vor Kummer und Spleens bietet. Sie ist für mich das, was für die Romantiker Gebirge und Wälder waren. Die Häuser sind meine Felsen, die Menschen eigenartige Bäume, de Straßen eigensinnige Flüsse.”

In ihrer Tätigkeit als Altenpflegerin lernt Lena immer wieder andere Menschen und deren Lebensgeschichten kennen, die sie sich nicht nur anhört, sondern die sie in sich aufsaugt und dem Leser davon erzählt, als seien es ihre eigenen Geschichten. Seit sieben Jahren betreut Lena Ulf Seitz, der zu Beginn der Betreuung noch am Stock gehen konnte, doch mittlerweile im Rollstuhl sitzt. Ulf ist ein Übriggebliebener, denn der Rest seiner Familie lebt schon lange nicht mehr. “Hat er seine Familie verlassen, hat sie ihn verlassen, haben sie alle sich gegenseitig fallen gelassen?” Der mittlerweile gealterte Mann, der zwei Diktaturen erleben musste, erzählt Lena seine bewegte Lebensgeschichte, beginnend in der Kindheit, die er in der Zeit des Nationalsozialismus verbracht hat. Er erzählt von seiner Frau Dora und wie schwer es für ihn in der DDR gewesen ist, einen Platz für sich und sein Leben zu finden. Die Geschichte von Herrn Seitz schleicht sich in das Buch hinein und nimmt bald allen Raum ein, bis Lena die Nähe zu ihrem Klienten zu eng wird.

“Unsere Zweisamkeit lässt sich schwer einordnen, unsere Freundschaft hat vage Konturen, wie aufeinandergestapelte Dias: Samariterin und Verwundeter, Vater und Tochter, Deutscher und Russin, Siegerin und Besiegter – zwischen uns liegen Welten, Jahrzehnte, Flüsse, Gräber, Meilen, und die Seilbrücke über diesen Abgrund ist gespannt wie eine Saite, die seltsame und nur für uns wahrnehmbare Töne hervorbringt.”

Nellja Veremej verarbeitet in ihrem Roman eine Vielzahl an Themen, die sich überschneiden, überlappen und ineinander fließen. Eines der zentralen Themen ist das Leben von Menschen, die auswandern – von Menschen, die sich entscheiden, ihre Zelte in ihrem Heimatland abzubrechen und an einem neuen fremden Ort wieder auf zu stellen. Damit verbunden ist in den meisten Fällen die Hoffnung darauf, dass das Leben besser werden wird, als es bisher gewesen ist.

“[…] und sie sehnten sich aus unserem Fernen Osten nach Westen, wo man, wie sie meinten, nicht sät, nicht sichelt, nicht kränkelt und nicht stirbt. Da muss man sich nicht dutzendmal hinknien, um ein Bündel Kartoffeln aus der Erde zu gewinnen […] – das Paradies lag immer westwärts. Und der Westen fing für uns damals schon am Fuße der verwitterten Kette des Ural-Gebirges an.”

Bei Lena und Schura dauert es nicht lange, bis sich die freudigen Erwartungen und Traumbilder, in Luft aufgelöst haben. Als sie ankommen, sind sie “heimatlos, besitzlos, leicht und neugierig schwebend”, doch bereits nach kurzer Zeit legt sich eine bleierne Schwere über ihr Leben, die Mut und Euphorie im Keim erstickt. Lena ist dort, wo sie immer hinwollte, doch statt Glück darüber zu empfinden, sucht sie immer wieder das russische Lädchen von Larissa auf, um gemeinsam über die Tücken ihrer neuen Heimat und des deutschen Alltags zu lästern. Was ist Heimat und kann man diese überhaupt woanders finden, als in sich selbst?

“Wie viele Wörter gibt es, die ich mit niemandem teilen kann – ich bin voll davon.”

Eine wichtige Rolle spielt auch die Stadt, in der die Handlung angesiedelt ist: die Beschreibungen Berlins sind so lebendig und authentisch, dass man beinahe mit dem Buch in der Hand in diese flirrende und große Stadt reisen könnte, um die Wege Lenas nach zu gehen. Immer mit dabei ist Alfred Döblin, dessen Roman “Berlin Alexanderplatz” mehr als einmal erwähnt wird und die Protagonistin auf ihren Spazierwegen begleitet.  Neben der Immigration wird auch das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland thematisiert, genauso wie die Zeit des Krieges und die Nachkriegszeit eine Rolle spielt.

Nellja Veremej legt mit “Berlin liegt im Osten” einen beeindruckenden und sehr lesenswerten Debütroman vor, der nicht nur sprachlich überzeugen kann, sondern auch durch die intensive und bewegende Geschichte, die er erzählt. “Berlin liegt im Osten” ist ein Roman über Heimat, die Sehnsucht danach, anzukommen und Hoffnungen. Hoffnungen, die manchmal erfüllt und manchmal enttäuscht werden. Ich habe einen Roman gelesen, der mit Fug und Recht als neuer großer Berlin-Roman bezeichnet werden kann und der einen Platz auf der Shortlist mehr als verdient hätte.

18 Comments

  • Reply
    Eva Jancak
    September 6, 2013 at 1:19 pm

    Mir hat das Buch auch sehr gut gefallen und das mit der “Shortlist” habe ich auch schon von einigen gehört, die das Buch gelesen haben. Ich würde es auch darauftun, weil es ja, was ich sehr schätze, die Realität mit der schönen Sprache perfekt verbindet und wer weiß, dem “Jung und Jung” ist mit “Tauben fliegen auf” ja schon einmal ein Kunststück gelungen, was mich sehr überrasche.
    Ein spannendes Buch, von dem ich vorher noch nichts hörte, also fein, daß mich die Longlistnominierung darauf aufmerksam machte.
    Allerdings habe ich mit Tanja Maljartschuks “Biografie eines zufälligen Wunders”, vor kurzem auch einen Roman einer jungen in Wien lebenden Ukrainerin gelesen, der mich ähnlich beeindruckte und den ich auch gern auf der Longlist gesehen hätte.

  • Reply
    kulturgeschwaetz
    September 6, 2013 at 4:25 pm

    Wenn du mal aufhören würdest, Bücher ständig so zu besprechen, dass ich sie unbedingt lesen will, hätte ich nicht so ein Lesezeitproblem.:(
    Na ja, gut, in Wahrheit hab ich das sowieso…..

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 8, 2013 at 11:01 am

      Tut mir leid, aber dieses Buch hier solltest du wirklich unbedingt lesen – mich hat die Lektüre immer noch nicht ganz losgelassen und die Geschichte von Lena und Herrn Seitz begleitet mich noch immer durch meine Tage. 🙂

      • Reply
        kulturgeschwaetz
        September 8, 2013 at 12:02 pm

        gnaaaaaah. Ich hab mir wegen Dir schon “Workuta” und “Flut” zugelegt, bald muss ich meine berufliche Zukunft an den Nagel hängen, damit ich mit dem Lesen hinterherkomm.:(

  • Reply
    dasgrauesofa
    September 6, 2013 at 4:50 pm

    Liebe Mara,
    von Veremejs Roman habe ich ganz viel erwartet und er liegt hier auch schon zum Lesen bereit, für die Zeit nach meinen vier Romanen. Nach Deiner Rezension freue ich mich nun noch viel mehr auf die Lektüre, weil Du so schön beschreibst, dass es um Heimat und Entwurzelung geht, einmal sicherlich für diejenigen, die auswandern müssen, aber vielleicht auch für die, die sich in ihrer Heimat plötzlich in problematischen politischen Verhältnissen wiederfinden. Ich denke, dass der Roman mit Blick auf seine ganz aktuelle Thematik, aber auch durch seinen schönen Blick in verschiedene Vergangenheiten – und wenn er dann noch “gut gemacht” ist – bestimmt auf die Shortlist wandert.
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 8, 2013 at 11:00 am

      Liebe Claudia,

      ach, du hast das Buch sogar schon bereit liegen? 🙂 Andererseits hätte ich es dir auch liebend gerne zugeschickt. Das Buch ist in der Tat wirklich ausgesprochen “gut gemacht” und trotz der Themenfülle, wirkt es an keiner Stelle beladen oder konstruiert. Es ist ein einfach rundes und sehr bewegendes Leseerlebnis. Für mich wäre es überraschend, wenn der Titel es nicht auf die Shortlist schaffen würde – die Themen, die Nellja Veremej beschreibt, sind einfach zu wichtig, um dem Roman einen Platz auf der Shortlist zu verweigern.

      Ich bin schon jetzt ganz gespannt auf deine Eindrücke von der Lektüre!
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    haushundhirschblog
    September 6, 2013 at 6:02 pm

    Danke Dir, liebe Mara!

    “Wie viele Wörter gibt es, die ich mit niemandem teilen kann – ich bin voll davon.”

    Trotz dieses feinen Zitats freuen wir uns, dass Du Deine Gedanken, Worte und Wörter auf Deine ganz eigene Weise mit-teilen kannst,

    herzlich, mb und dm

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 8, 2013 at 10:56 am

      Ein Hallo an euch beide – ich freue mich! 🙂

      Das Zitat war für mich auch ein besonderer Satz in diesem Buch, den ich in meiner Besprechung unbedingt unterbringen wollte. Bei manchen Büchern fällt es mir schwer, genug Zitate für meine Besprechung zu finden, bei diesem Buch fiel es mir schwer, eine Auswahl aus den ganzen möglichen Zitaten, die ich angestrichen und markiert habe, zu treffen.

      Liebe Grüße aus dem verregneten Bremen
      Mara

  • Reply
    glasperlenspiel13
    September 9, 2013 at 9:22 am

    So wie du das Buch beschreibst, klingt “Berlin liegt im Osten” eher nach einem leisen, melancholischen Roman: unaufgeregt und doch tiefgründig. Du schreibst es sei für dich ein großer neuer Berlin Roman. Kann man denn auf knapp 340 Seiten all diese Themen ausführlich bearbeiten: Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland, genauso wie die Zeit des Krieges und die Nachkriegszeit? Oder ist es am Ende eher ein “Streifen” der typischen Berlinproblematiken?

    Liebe Grüße von der Bücherliebhaberin

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 10, 2013 at 1:54 pm

      Liebe Vera,

      in aller Ausführlichkeit können diese Themen natürlich nicht behandelt werde, sie werden aber auf jeden Fall mehr als nur gestreift und es gelingt der Autorin all diese unterschiedlichen Themenstränge hervorragend zu einer ineinanderfließenden Geschichte zu komponieren. Ich würde dir empfehlen, den Roman wirklich selbst zu lesen – ich glaube, dass er dir auf jeden Fall gefallen könnte.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Muromez
    September 9, 2013 at 9:56 am

    Danke Mara, hast mal wieder mein Interesse wecken können – wie so oft bei deinen Besprechungen 😉

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 10, 2013 at 1:50 pm

      Freut mich! – Du solltest das Buch unbedingt lesen, für mich ein Favorit für die Shortlist unter den Büchern, die ich bisher gelesen habe. 🙂

  • Reply
    caterina
    September 9, 2013 at 9:14 pm

    Hurra, wieder ein Shortlist-Kandidat! Berlin, Emigration, ein Leben jenseits von (räumlichen, sprachlichen, kulturellen, emotionalen) Grenzen, Krieg – alles Themen, die mich sehr interessieren. Scheint, als wäre dieser Roman wie gemacht für mich. Schöne Sprache auch, zumindest in den von dir ausgewählten Zitaten.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 10, 2013 at 12:56 pm

      Liebe Caterina,

      oh ja, ich glaube auch, dass das Buch wie für dich gemacht sein könnte – mir hat es auf jeden Fall ausgezeichnet gefallen. Die Sprache ist in der Tat sehr ansprechend, “Berlin liegt im Osten” ist von den vier gelesenen Bücher, sicherlich das sprachlich schönste. Aber auch thematisch überzeugt die Autorin, auch wenn aufgrund der Fülle, nicht alle Themen natürlich bin in das feinste Detail ausgearbeitet werden können.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    geraldomat
    September 10, 2013 at 7:05 am

    Ein wirklich schöner Roman, und eine sehr gute Rezension. Ich habe selber darüber gebloggt und vom Verlag die Rechte erfragt, zusätzliche Textauszüge zu veröffentlichen. Falls es Dich interessiert, sieh es Dir mal an auf http://lesensehendenken.blogspot.de/2013/07/nellja-veremej-berlin-liegt-im-osten.html
    resp. auf http://lesensehendenken.blogspot.ch/2013/08/textauszuge-zu-nellja-veremej-berlin.html
    Übrigens: Alina Bronskys ›Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche‹ ist zwar ein ganz anderer Ansatz, touchiert aber auch das Thema Emigration: http://lesensehendenken.blogspot.ch/2013/07/alina-bronsky-die-scharfsten-gerichte.html

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 10, 2013 at 12:44 pm

      Hallo 🙂

      Ich freue mich sehr über deinen Besuch, herzlich Willkommen!, und deinen interessanten Kommentar. 🙂 ich danke dir auch für die Links, es war sehr interessant für mich, auch deine Gedanken und Eindrücke zu diesem Roman zu lesen, der mich bisher von den Longlist-Titeln wohl am stärksten beeindruckt hat. Danke auch für den Hinweis auf Alina Bronsky – ich kenne bisher erst ein Buch von ihr, das von dir angesprochene hört sich aber ausgesprochen interessant an.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    5 lesen 20 Romane der Longlist – Deutscher Buchpreis 2013 » Atalantes Historien
    September 10, 2013 at 4:57 pm

    […] • Nellja Veremej: Ber­lin liegt im Osten (Jung und Jung, Februar 2013) (Rezen­sion bei Buz­zal­d­rins) […]

  • Reply
    Endlich ist sie da, die Shortlist! | buzzaldrins Bücher
    September 11, 2013 at 11:56 am

    […] Ereignis des Bücherherbstes gefeiert wurde. Ganz persönlich fehlt mir auf der Liste der Roman “Berlin liegt im Osten” von Nellja Veremej, der mir nicht nur aufgrund seiner Themenvielfalt gefallen hatte, sondern mich […]

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