[5 lesen 20] Der wahre Sohn – Olaf Kühl

Olaf Kühl wurde 1955 geboren und ist nach einem Studium der Slawistik, Osteuropäischer Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin heutzutage überwiegend als Übersetzer tätig. Für sein polnisch-deutsches Übersetzerwerk wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis ausgezeichnet. Seit 1996 ist er außerdem als Russlandreferent des Berliner Bürgermeisters tätig. Vor zwei Jahren erschien sein Debütroman “Tote Tiere”. Mit seiner aktuellen Veröffentlichung “Der wahre Sohn” wurde Olaf Kühl für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Konrad Krynitzki ist achtunddreißig Jahre alt und schlägt sich mit einer eher ungewöhnlichen Tätigkeit durch sein Leben: Versicherungen bezahlen ihn dafür, als gestohlen gemeldete Autos ausfindig zu machen und nach Deutschland zurück zu überführen. Als Quereinsteiger ist er in diesen Job reingerutscht, nachdem er ohne einen Abschluss zu erwerben sein Studium abgebrochen hatte.

“Er hat ihr nie gesagt, was er genau tut. Recherchieren, das klingt gut. Für wen, für eine Zeitung? Nein, für ein großes Unternehmen in Westdeutschland. Das erzählt er auch Freunden, das leuchtet am ehesten ein. Wenn er ehrlich ist, hat es weniger mit Diskretion zu tun als mit Scham. Denn gestohlene Autos zu suchen, dieser Job ist ihm peinlich, wenn er an die Pläne und Visionen der Studentenzeit denkt.”

Ein neuer Auftrag von seinem Chef Wolfgang Muschter, Leiter der Kfz-Schadensregulierung, kommt nun gerade zur rechten Zeit, denn bei Konrad geht gerade so viel schief, dass er sich freut, für eine Weile aus Deutschland, aus seiner Beziehung und aus seinem Leben fliehen zu können. Der Auftrag führt ihn nach Kiew, in die Hauptstadt der Ukraine.

“Er hat im Laufe der Jahre verschiedene Fluchten gewagt. Er wollte sich auf die Kehrseite des Lebens verdrücken. Hat lange als Nachtwächter gearbeitet. Ist für ein paar Wochen zu Günter gezogen, nach Prenzlauer Berg, tief in den Osten, hat sich dort versteckt. Es half alles nichts.”

Auf den ersten Blick scheint die Aufklärung des Falls auf der Hand zu liegen: Konrad soll aus Kiew eine verschwundene Luxuslimousine nach Deutschland zurückbringen, da die Versicherung einen Betrug vermutet. Doch als Konrad nach Kiew reist, muss er feststellen, dass der neue Halter des Mercedes ein hoher Beamter gewesen ist, der aber bereits seit einigen Monaten tot ist. Auf der Suche nach dem Auto verstrickt sich Konrad immer stärker in ein altes Familiengeheimnis: er lernt Svetlana kennen, die Witwe des Halters, die sich ebenso anziehend wie eigentümlich verhält. Seine Ermittlungen führen ihn bis in die psychiatrische Klinik in Kiew, in der Arkadij, der dreiundsechzig Jahre alte Sohn von Svetlana lebt. Ein erwachsener Mann, der doch nie ganz erwachsen geworden ist – er ist hochbegabt, aber auch schwer gestört und verbringt seine Tage in der Vergangenheit lebend. In einer Vergangenheit, die vor allem durch die Präsenz seiner Kinderfrau Olha geprägt gewesen ist, zu der er bis zu ihrem Verschwinden ein enges Verhältnis hatte.

“Nach meiner Erfahrung steht ein Auto selten für sich allein. Es bezieht seine Bedeutung aus einem Gespinst von zahlreichen, mehr oder weniger deutlichen, oft schwer erkennbaren Verbindungen zu seinem Besitzer, aber auch zu dessen ganzer Familie. Ein Auto zu suchen, bedeutet zuallererst, sich aufs engste auf die Menschen in der Umgebung dieses Autos einzulassen.”

 

Konrad Krynitzki begibt sich bei seinen Ermittlungen hinein in einen dunklen Strudel aus Familiengeheimnissen, Verrat und einem undurchdringlichen Gespinst von Lügen und Halbwahrheiten und muss feststellen, dass das Schicksal von Olha und der Verbleib des Autos enger miteinander verknüpft sind, als er sich das jemals hätte vorstellen können …

Die Geschichte, die Olaf Kühl in “Der wahre Sohn” erzählt, spielt in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Autor beschreibt die osteuropäische Welt so lebendig und authentisch, wie ich das selten zuvor in einem Roman gelesen habe. Doch nicht nur das gegenwärtige Leben in der Ukraine spielt eine Rolle, sondern auch die von Gewalt geprägte ukrainische Geschichte. Der Krieg und die Hungersnot, Soldaten, Besatzer, Babi Jar – all das, wird thematisiert. Es ist vor allem Arkadij, den die Vergangenheit nicht los lässt und der in der Geschichte gräbt, um seine eigene Identität entdecken zu können.

“Er sagte, er wolle verschiedene Schichten untersuchen. Er wollte durch die scheinbaren Dinge, durch die Oberfläche zur Wahrheit vordringen, zum Grund. Und irgendwann taucht dann in den Protokollen dieser Begriff auf – der ‘Punkt des größten Bösen’, wie er das nannte.”

Olaf Kühl hat mit “Der wahre Sohn” einen Roman geschrieben, der, trotz der spannenden Elemente und der Jagd nach einem Auto, weniger Kriminalroman ist, als ein großer Familienroman, der einen Blick in die Abgründe der Familie und der ukrainischen Geschichte wirft. Es geht um Sehnsucht und darum, dass Sehnsucht sich irgendwann nicht mehr heilen lässt, wenn sie zu lange besteht. Es geht um Lücken, die sich nicht mehr schließen lassen. Es geht um traumatische Erlebnisse in der Kindheit, die man aufarbeiten muss, um weiterleben zu können. Es geht um Lügen und Verrat, Geheimnisse und Unwahrheiten. Es geht um die Rolle der Mutter, die hier in allen Facetten ausgeleuchtet wird. Die Geheimnisse der Familie von Svetlana und Arkadij hatten Jahrzehnte bestand, so lange, bis Konrad Krynitzki kommt und eher durch Zufall in eine ungeheure Geschichte hinein gerät und sich in dieser so tief verstrickt, dass er irgendwann nicht mehr weiß, wie er herauskommen soll … Das Ende des Romans ist fulminant, die Grenzen zwischen Wahrheit und Erfindung lösen sich auf den letzten Seiten immer stärker auf – es ist nicht immer leicht, diesem plötzlich rasanten Erzähltaumel zu folgen.

Olaf Kühl legt mit “Der wahre Sohn” einen vielschichtigen Roman vor, der vor allem durch eine unbändige Erzähllust und eine spannende Geschichte besticht. Literarisch konnte der Roman mich dagegen nicht durchgehend überzeugen, denn sprachlich wirkt der Erzählstil von Olaf Kühl doch häufig etwas holprig und ungelenk – die großartige Geschichte, die er erzählt, von der Gegenwart tief hinein in die ukrainische Vergangenheit, vermag aber darüber hinwegtrösten.

13 Comments

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    Eva Jancak
    September 10, 2013 at 2:47 pm

    Jetzt sind alle Bücher pünktlich vor der Vergabe der Shortlist besprochen, fleißig, fleißig, jetzt brauchen wir nur noch bis morgen warten und schauen, wie ich vielleicht schätzen würde, ob der Kehlmann, Meyer, Jirgl, Veremej, Glavinic und der Uwe Timm oben sind, aber vielleicht hat die Jury einen ganz anderen Geschmack. War jedenfalls auch dank dieser Aktion ein sehr spannendes Monat, wo ich sehr viel über die angeblich zwanzig besten Bücher der Saison lernte, morgen werden wir wissen, was die noch besseren sind und ich beschäftige mich gerade mit T.C. Boyles “America”, weil das die Stadt Wien heute hunderttausend Mal verschenkt und in den offenen Bücherschränken habe ich auch wieder sehr tolle Bücher gefunden.

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      buzzaldrinsblog
      September 12, 2013 at 5:05 pm

      Liebe Eva,

      schön, dass du meine Fleißigkeit betonst, ich musste mich in der Tat ganz schön sputen, nicht nur mit dem Lesen, sondern auch mit dem Rezensieren – das war doch alles sehr viel anstrengender, als ich es mir im Vorfeld vorgestellt hatte. Aber auch sehr bereichernd. 🙂

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    5 lesen 20 Romane der Longlist – Deutscher Buchpreis 2013 » Atalantes Historien
    September 10, 2013 at 3:15 pm

    […] • Olaf Kühl: Der wahre Sohn (Rowohlt, Ber­lin, Sep­tem­ber 2013) (Rezen­sion bei Buz­zal­d­rins) […]

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    dasgrauesofa
    September 10, 2013 at 5:21 pm

    Liebe Mara,
    Du beschreibst die Geschichte des Romans ja als sehr, sehr spannend, weil eine alte Familiengeschichte aufgedeckt wird. Da habe ich gleich solche Assoziationen, wenn ich auf den Titel schaue…. Du schreibst aber auch, dass er sprachlich nicht so überzeugen kann. Dann bin ich mal gesapnnt, ob er auf der Shortlist landet, was ich nach Deinen kritischen Anmerkungen ja nicht hoffe.
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 12, 2013 at 5:01 pm

      Liebe Claudia,

      auf die Shortlist hat es Olaf Kühl nicht geschafft, wie wir mittlerweile wissen. Es hätte mich auch außerordentlich überrascht, da ich die Sprache doch sehr ungelenk und holprig fand – auch im Vergleich zu den sprachlich ausgefeilten Büchern von Veremej und Bonné. “Der wahre Sohn” ist aber dennoch eine lesenswerte Lektüre, denn der Roman erzählt eine spannende Geschichte – wenn du es also noch lesen willst, dann nur zu! 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

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    atalante
    September 10, 2013 at 6:57 pm

    Liebe Mara, das klingt nach einer anstrengenden, aber auch interessanten Lektüre an. Das Zitat aus Deiner Mai, – vielleicht bringst Du es auch noch hier-, fand ich sehr beeindruckend, eine fulminante Metamorphose. Aber die von Dir genannten Themen interessieren mich eher nicht.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 12, 2013 at 4:59 pm

      Liebe Atalante,

      das Zitat fand ich ja weniger beeindruckend, als einfach anstrengend zu lesen. Vielleicht erschließt sich mir auch die detaillierte Beschreibung eines Autos einfach nicht, da ich nicht in Besitz eines Führerscheins bin. Die Lektüre ist auf jeden Fall interessant, sprachlich hat sich für mich das Buch aber nicht gerade hervor getan – was aber auch nur meine Einschätzung ist. Deshalb wäre ich auch sehr froh, wenn einer von euch, es auch lesen würde! 😀

      Liebe Grüße
      Mara

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    Eva Jancak
    September 11, 2013 at 8:23 am

    Und weil ich gerade Facebook gelesen habe, Sybille Berg stand 2009 mit “Der Mann schläft” darauf und ich glaube eigentlich, daß das was sie in dem Artikel, der mir gut gefallen hat, stimmt.
    Obwohl sie Verkauf mit Abverkauf verwechselt, was eigentlich sehr herrlich ist. Die Verlage, der Buchhandel, der Börseverein oder wer auch immer, will “das Buch” pushen, denkt die Aufmerksamkeit bis Weihnachten muß auf eins bzw. sechs zentriert werden, denn mehr lesen die Leute ohnehin nicht und ich denke, auch wenn ich nicht glaube, daß die Leute da wirklich in die Buchhandlungen rennen und die Buchhändler die Stapel vorbereiten, das ist ganz gut. Das dBp Buch wird zu Weihnachten gekauft und verschenkt, mit etwas Glück finde ich es dann noch im ‘Weihnachtspapier oder in der Folie verpackt im Schrank und der Abverkauf kommt zwei drei Jahre später, dann liegen die Bücher um 3.99 beim Thalia und kommen auf meine Liste.
    Was wirklich schlimm daran ist und das hat, glaube ich, auch schon Sigrid Löffler so montiert, die Suggestion, das ist jetzt das “beste Buch”, die Jury sagt es uns ja und alles andere, die vielen schönen Bücher, die Hegemann, der Hans Pleschinsky, der Peter Stamn, die Tanja Maljartschuk und und und fallen durch und werden vielleicht noch ein bißchen weniger beachtet als sonst und was 2013 betrifft, spannend spannend wie sehr ich mich da wieder verschätzte und eigentlich toll, daß zwei Bücher draufstehen an die ich gar nicht dachte und eines, das der Frau Poschmann hat mir in der Leseprobe sogar sehr gefallen, so daß ich mich freuen würde, wenn ichs finde oder es mir einer schenkt und das mit der Nellja Veremej ist natürlich schade, aber wir wissen ja, es ist ein sehr gutes Buch, was ich auch schon von vielen anderen hören konnte.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 12, 2013 at 4:57 pm

      Hallo Eva,

      ich kann Sibylle Berg in ihrem Artikel ganz sicherlich nicht zustimmen – sicherlich wird mit dem Preis auch Werbung gemacht, mit welchem Preis geschieht dies nicht? Ich sehe aber nicht, dass die Preisvergabe zu einer reinen Werbemaßnahme verkommt – dazu ist das Interesse viel zu gering, ich erlebe zumindest keine Maßen, die die häufig nicht einmal vorhandenen Tische zum Buchpreis stürmen. Die, die wirklich an Literatur interessiert sind und bereit sind, für Literatur Geld auszugeben, werden sich sicherlich nicht nur die Titel von der Longlist kaufen, sondern auch unter den anderen Veröffentlichungen schauen.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Eva Jancak
        September 13, 2013 at 7:19 am

        Die Auflagen werden aber doch erhöht und es wird sofort nachgedruckt, so bald das Buch auf den Listen steht, das weiß ich von den Aussagen des Jung und Jung und auch von Ludwig Laher, der vor zwei Jahren auf der langen Liste stand, daß die Durchschnittsleser, die besagten Schwiegermütter und auch so manche Buchhändler von dem Preis nichts wissen wollen, ist eine andere Geschichte und eine interessante Beobachtung habe ich beim Jirgl, den ich nicht so so streng beurteilen würde, auch gemacht. Da hat eine Bloggerin, die sonst wahrscheinlich etwas ganz anderes liest, den dBp besprochen und die zwanzig Bücher nach dem, wie sehr sie sie gerne lesen möchte, gereiht, der Jirgl lag ziemlich oben, Mars ist Phantasy, ganz klar, da habe ich geschmunzelt und mir gedacht, die wird Augen machen, wenn sie hineinsieht und das wollen die Veranstalter wahrscheinlich, die Neugier wecken, auch wenn die Bücher dann vielleicht nicht gelesen werden

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          buzzaldrinsblog
          September 14, 2013 at 2:02 pm

          Na ja, bei Nellja Veremej wird nachgedruckt, weil es keine Exemplare gab – das Interesse, dass durch die Nominierung für den Buchpreis ausgelöst wurde, scheint sehr groß gewesen zu sein. Bei Jirgl muss ich gestehen, dass ich bis auf Textausschnitte für ein Referat, ich nichts von ihm gelesen habe – aber allein das war bereits fürchterlich und nur scher verständlich und nachvollziehbar für mich … ich bin also vielleicht einfach jirglgeschädigt. 😉

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    Eva Jancak
    September 14, 2013 at 2:58 pm

    Ich würds lesen, wenn ichs finde, allerdings wird mir dann vielleicht das Gleiche passieren, wie bei “KAFF Mare Crisium”, wo ich in der Badewane lag, schon längst nichts mehr verstanden habe und mir dachte, wie werde ich das nur besprechen? Dann war ich ein Monat später bei der Präsentation der Neuausgabe von “Zettels Traum” und da gab der Vorstand der Arno Schmidt Gesellschaft Anweisungen, wie mans lesen soll. Nicht chronologisch, sondern am besten sich ein Jahr Urlaub dafür nehmen, dann wär ich wahrscheinlich ein Schmidt Fan, aber soviel Zeit wollte ich mir dafür lassen.
    Ich habe aber ein Sekundärbuch auf der Liste und freu mich schon darauf, vielleicht auf diese Art und Weise über den Autor mehr zu erfahren.
    Ein Leseprojekt hab ich jetzt aber, nur weiß ich auch nicht, auf welche Liste ich das bringe, nämlich den “Ulysses”, der inzwischen wieder zu mir zurückgekommen ist.

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    “Übersetzen ist für mich wie die Gymnastik nach dem Schreiben” – Olaf Kühl im Gespräch. | buzzaldrins Bücher
    November 20, 2013 at 10:06 am

    […] Kühl stand in diesem Jahr mit seinem lesenswerten Roman „Der wahre Sohn“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreis. Ich habe ihn auf der Frankfurter Buchmesse getroffen, […]

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