Winterjournal – Paul Auster

Paul Auster ist bereits seit langem nicht nur für seine Romane, die in regelmäßigen Abständen veröffentlicht werden, bekannt, sondern auch für seine essayistischen Werke. Die ersten Versuche, die eigene Biographie und Erinnerung mit literarischer Prosa zu verschränken, liegen bereits viele Jahre zurück: in “Die Erfindung der Einsamkeit” steht vor allem die Beziehung zwischen Paul Auster und seinem Vater im Mittelpunkt, während die sogenannte Chronik früherer Fehlschläge, “Von der Hand in den Mund”, sich mit Erinnerungen an seine  anfänglich prekäre finanzielle Situation als Schriftsteller beschäftigen. Mit seiner neuesten Veröffentlichung “Winterjournal”, die im Original im vergangenen Jahr erschienen ist und seit diesem Herbst in deutscher Übersetzung vorliegt, wendet sich Auster erneut der Erinnerungsliteratur zu.

“Du denkst, das wird dir niemals passieren, das kann dir niemals passieren, du seist der einzige Mensch auf der Welt, dem nichts von alldem jemals passieren wird, und dann geht es los, und eins nach dem anderen passiert dir all das genau so, wie es jedem anderen passiert.”

“Winterjournal” ist ein seltsames Buch. Angelegt ist es, als ein “Katalog von Sinnesdaten”, als eine “Phänomenologie des Atmens” und unter diesen Schlagwörtern versammelt Paul Auster eine Reihe an bunt zusammengewürfelten Erinnerungen, die von seiner frühen Kindheit bis in die heutige Gegenwart reichen. Den Rahmen der Erinnerungen bilden die beiden großen Themen Alter und Körper, doch ist dieser Rahmen mehr als brüchig und dehnbar – viele Sequenzen des Textes stehen nur in einem losen Zusammenhang mit den beiden Oberthemen. Stellenweise überkommt einen der Eindruck, Paul Auster habe zu Beginn des Buches selbst noch nicht gewusst, wohin er mit seinem Text möchte – das Spektrum seiner Erinnerungen reicht von schonungslos offenen Beschreibungen, bis hin zu seltsam indifferenten und abstrakten Anekdoten.

In seinen Erinnerungen, die in einer Art Selbstgespräch in der Du-Form erzählt werden, blickt Paul Auster zurück, bis in seine Kindheit. Er erzählt von seinem ersten Kuss im Kindergarten und bezeichnet sich selbst als “williger Sklave des Eros”. Trotz seiner Begeisterung für die Liebe und der Tatsache, dass er als Jugendlicher den amerikanischen Masturbationsrekord bricht, war es eine Prostituierte, an die er seine Unschuld verlieren sollte. Er erzählt von seiner Beziehung zu seiner Mutter, die liebevoll gewesen ist, doch zeitlebens unter den eigenen lähmenden Ängsten gelitten hat, bis sie im hohen Alter an den Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit und beinahe völlig mittellos, auf die finanzielle Unterstützung ihres Sohnes angewiesen ist. Er erzählt von den Schwierigkeiten, als Schriftsteller Fuß zu fassen, lange Zeit überlebt er lediglich durch die Rezensionen und Gedichte, die er in unregelmäßigen Abständen veröffentlichen kann. Paul Auster schreibt natürlich auch über die Beziehung zu seiner Frau Siri Hustvedt, die genauso wie er, als Schriftstellerin arbeitet. Die erste Ehe Austers, mit der Schriftstellerin Lydia Davis, scheiterte kläglich, doch mit Siri Hustvedt ist der Autor auch nach dreißig Jahren immer noch glücklich verheiratet.

  “[…] und du staunst, wie schön sie aussieht, wie jung sie aussieht, noch jetzt, dreißig Jahe nachdem du zum ersten Mal mit ihr geschlafen hast, nach dreißig Jahren unter einem Dach und in einem Bett.”

“Winterjournal” ist ein in Einzelteile zerstückeltes Fragment; eine Aneinanderreihung von Listen und Aufzählungen. Listen der Lieblingsessen von Paul Auster, als er ein Kind gewesen ist. Listen von Dingen, die er mit den Händen macht. Der Höhepunkt der Listen ist die sicherlich fünfzig Seiten umfassende Aufzählung all jener einundzwanzig Wohnungen und Häuser, in denen Paul Auster bisher gelebt hat. Wer Lust dazu hat, hat nun die Möglichkeit auf eine Reise zu den Entstehungsorten der Romane von Paul Auster zu gehen – die genauen Adressen verschweigt der Autor nämlich nicht. Wo bleibt da das Thema Körper und Alter? Ach ja, es gibt auch ein Inventar der Narben – eine schöne, aber unausgereifte Idee, die sich nach wenigen Absätzen wieder verläuft. Dann beschreibt Paul Auster plötzlich über mehrere Seiten den Inhalt eines Films aus dem Jahr 1950 oder zitiert aus den Protokollen seiner Frau, die sie während Mieterversammlungen geführt hat.

Es gibt aber auch lesenswerte Passagen; die besten Stellen finden sich dort, wo Paul Auster vom Listenschreiber zum Erzähler wird: besonders die Erinnerungen an seine gescheiterte Ehe mit Lydia Davis, aber auch der schmerzhafte Verlust seiner Mutter, werden sehr berührend geschildert. Die Mutter von Paul Auster hat in jungen Jahren entschieden, einen Mann zu heiraten, der sie nicht glücklich machen kann – einen Mann, der mehr abwesend, als zu Hause ist. Sie verschreibt sich diesem häuslichen Leben so lange, bis sie eine Arbeit findet und damit die Möglichkeit, aus dem unglücklichen Gefängnis, in das sie sich begeben hatte, auszubrechen. Genauso beeindruckend sind die Erinnerungen an Paul Austers Zeit in Paris, die er in ärmlichen Verhältnissen verbracht hat und seine Metamorphose vom Dichter zum Literaten.

“Du bist vierundsechzig Jahre alt. Draußen ist alles grau, fast weiß, die Sonne nicht sichtbar. Du fragst dich: Wie viele Morgen bleiben noch? Eine Tür ist zugefallen. Eine andere Tür hat sich geöffnet. Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten.”

Paul Auster legt mit “Winterjournal” ein unheimlich ambitioniertes Buch vor, das jedoch an seinen eigenen Ambitionen scheitert.  Es scheitert vor allem an dem Versuch Austers, sich selbst als geheimnisumwitterten und großen Autor zu inszenieren – einem Autor, der ein “verwundeter und beschädigter Mann” ist, mit einem “verkrüppelten Ich”, das keine Bücher schreibt, sondern “Worte auf Papier” blutet. Es scheitert in dem Versuch ein Buch über das Alter zu sein, denn Auseinandersetzungen mit dem Alter hat es bei anderen Autoren und Autorinnen schon viel bessere gegeben – den Erinnerungen in “Winterjournal” fehlt es schlichtweg an Stringenz und Zusammenhang. Genauso scheitert das Buch dabei, dem Leser Paul Auster als Literat näher zu bringen. Statt der angekündigten Körperschau, hat man beinahe das Gefühl, einer Nabelschau beizuwohnen.

Die Erinnerungen, aus denen “Winterjournal” besteht, sind fragmentarisch und bruchstückhaft und vor lauter Fragment und Bruchstück, geht der Reiz beim Lesen der, mal mehr und mal weniger spannenden, Anekdoten leider verloren. Paul Auster gelingt es nicht, mit denen Themen, die ihn beschäftigen, Begeisterung oder gar Interesse zu wecken. Nach dem Körper, folgt im November übrigens bereits die Reise durch den Kopf , die unter dem Titel “Report from the Interior” veröffentlicht wird.

14 Comments

  • Reply
    literaturen
    September 27, 2013 at 11:02 am

    Schade! Klingt ganz danach als müsste man sich diesen Auster nicht unbedingt zu Gemüte führen. Und: Du kannst doch sehr fundiert kritisieren. 😉

  • Reply
    Karin Braun
    September 27, 2013 at 11:52 am

    Ich hatte schon meine Schwierigkeiten mit Sunset Park, diese langen Auflistungen von Baseball Ergebnissen. Das störte den gesamten Ablauf. Scheint der gute Paul hat ein kleines Listenproblem. Na ja, rein gucken werde ich trotzdem mal in Winterjournal. Alles Liebe Karin

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 30, 2013 at 2:29 pm

      Liebe Karin,

      auf deine Eindrücke wäre ich sehr gespannt. 🙂 Mich konnten die Listen von Paul Auster nicht wirklich erreichen, vor allem diese schier endlose Aufzählungen an Wohnungen und Häusern, in denen er gelebt hat – in meiner Besprechung wollte ich es ungern so deutlich formulieren, aber “Winterjournal” wirkt auf mich stellenweise wie das Buch eines Narzissten.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Karin Braun
        September 30, 2013 at 2:34 pm

        Liebe Mara, ich bin dran es zu bekommen. Bin auch gespannt. Sie früheren Einblicke ins eigene Leben, wie “Das rote Notizbuch” fand ich amüsant und recht beeindruckend. Schaun wir mal und ich berichte dann … Alles Liebe Karin

  • Reply
    guenterkeil
    September 27, 2013 at 12:29 pm

    Eine tolle Rezension! Mein Fazit ist allerdings positiver, denn mir gefällt gerade, dass Auster so unkonventionell erzählt und keine klassische Autobiografie vorlegt. Mehr bald in meinem Blog…

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 30, 2013 at 2:31 pm

      Danke für das Lob, über das ich mich sehr freue. 😀 Auf deine Meinung und deinen Blogbeitrag bin ich schon jetzt sehr gespannt; Auster erzählt in der Tat unkonventionell, doch das Buch krankt daran, dass das, was er erzählt einfach nicht interessant genug ist (die Protokolle waren noch am lesenswertesten und die waren ausgerechnet von Siri Hustvedt).

  • Reply
    Sonja | Zeilenkino
    September 27, 2013 at 12:48 pm

    Volle Zustimmung! Ich lese Paul Auster eigentlich sehr gerne, hatte aber mit dem “Winterjournal” einige Schwierigkeiten mit fast allen von Dir genannten Punkten. Da fühle ich mich doch gleich weniger alleine unter all den positiven Stimmen, die ich zuletzt gehört und gelesen habe. 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 30, 2013 at 2:33 pm

      Liebe Sonja,

      danke für die Solidarität, auch ich fühle mich nun gleich weniger alleine – als ich die Rezension im Spiegel zu dem Buch las, fiel ich erst aus allen Wolken. Wobei ich eh eine Tendenz sehe, dass das deutsche Feuilleton die Bücher amerikanischer Autoren etwas wohlwollender feiert. Wenn Daniel Kehlmann eine Autobiographie seiner 21 Wohnungen vorgelegt hätte, in denen er bisher gelebt hat, wäre das möglicherweise nicht ganz so begeistert aufgenommen worden. 😉

      • Reply
        Zeilenkino
        September 30, 2013 at 2:51 pm

        Ja, da herrscht oft eine bewundernder Respekt im Sinne von der “kann doch kein schlechtes Buch schreiben/keinen schlechten Film drehen”.

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          October 2, 2013 at 10:03 am

          Ja, ich empfinde das ähnlich – vor allem, wenn man sich dazu im Vergleich die englischsprachigen Besprechungen zu Auster ansieht, die deutlich kritischer sind, als das, was ich bisher im deutschen Feuilleton gelesen habe.

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    September 27, 2013 at 4:01 pm

    Liebe Mara,
    ich war sowohl auf Deine Besprechung als auch auf das Buch so gespannt, denn ich habe bisher alle Auster-Bücher, die ich gelesen habe ausgesprochen gern gelesen – und zumindest das Warten auf Deine Rezension hat sich mal wieder sehr gelohnt. Dazu mal wieder ein Kompliment für Deinen Text. Ich finde Deine Argumentation sehr gelungen und man kann nachvollziehen, was Dir an dem Text gefallen bzw. nicht gefallen hat. So stringent und klar würde ich das echt auch mal gerne können, statt dessen immer diese Abschweifungen….
    Nun sind wir Leser ja ganz unterschiedlich und rezipieren eben auch unterschiedlich, glücklicherweise, wie ich finde. Und bei diesem Auster-Buch habe ich nach Deiner Besprechung so ein bisschen den Verdacht, dass er, wenn es das denn gibt, eine Art Männerbuch geschrieben haben könnte.
    Mir scheint es jedenfalls eine sehr männliche, mag sein sogar männlich-einfältige Herangehensweise zu sein, diese anscheinend etwas chaotische Mischung aus Listen, Anekdoten, Geschichten, die Du beschreibst. Naja, über den Begriffe Männerbuch kann man streiten, ich mag ihn auch nicht wirklich (genau so wenig, wie Frauenbuch), aber in diesem Fall kam mir der Begriff in den Sinn.
    Ich muss auch zugeben, dass ich Sunset Park (s.o. Kommentar von Karin Braun) ausgesprochen gut fand, obwohl ich mich nicht die Bohne für Baseball interessiere – und die Ergebnislisten haben mich nicht gestört . Ich glaube, so wie es unterschiedliche Herangehensweisen gibt, gibt es eben auch unterschiedliche Arten, Geschichten wahrzunehmen (obwohl ich ja ehrlich gesagt Deinen Besprechungen meistens im Nachhinein total zustimme).
    Mir kam beim Lesen Deines Textes komischerweise ‘Rom, Blicke’ von Rolf Dieter Brinkmann in den Sinn. Darin beschreibt er einen Stipendien-Aufenthalt in der Villa Massimo und zwar ebenfalls auf sehr unkonventionelle, chaotische, sehr persönliche Weise. Und Listen kommen auch drin vor… eigentlich fast unlesbar, aber ich fand es faszinierend.
    Und so ist es in diesem Fall lustiger weise mal so, dass mir das Buch doch auf den Stapel legen werde, denn Deine, wenn auch ablehnende Besprechung, hat mich tatsächlich umso neugieriger gemacht.
    Danke nochmal und liebe Grüsse aus dem sonnigen Rheinland sagt der Kai

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 30, 2013 at 2:41 pm

      Lieber Kai,

      ich finde den Effekt, dass dich meine negative Besprechung dann doch zum Lesen anregt, sehr interessant und faszinierend. Ich fände es toll, wenn du dich für die Lektüre dieses Buches entscheiden würdest, denn wer weiß – die Wahrnehmung eines Buches hängt ja immer von ganz vielen Faktoren ab und vielleicht nimmst du das Buch ganz anders war, als ich es getan habe.
      Dein Eindruck, dass es sich bei “Winterjournal” möglicherweise um ein Männerbuch handeln könnte, finde ich eine spannende Vermutung. Eigentlich mag ich Männerbücher gerne, ich habe mich mit Begeisterung durch die Bücher von Richard Ford gelesen, die man wohl als solche bezeichnen kann. Aber wer weiß, hier ist der Funken einfach nicht übergesprungen – was zum einen am Inhalt lag, zum anderen aber auch daran, dass Paul Auster größtenteils um sich selbst und seine eigene Wahrnehmung kreist und dabei stellenweise schon fast narzisstische Züge offenbart. Es fiel mir schwer dafür Interesse und Begeisterung aufzubringen.

      Dein Hinweis auf Sunset Park beruhigt mich ein Stück weit, denn dieses Buch steht bei mir noch ungelesen im Regal und deine Worte machen mir Mut, es vielleicht doch noch mal in die Hand zu nehmen und mich daran zu versuchen. 😀

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    dasgrauesofa
    September 28, 2013 at 2:12 pm

    Liebe Mara,
    was für ein schöner Verriss! Ich habe sowieso schon Schwierigkeiten, mich in die Lobeshymnen für Paul Auster einzureihen, und so brauche ich es hier, dank Deiner deutlichen Besprechung, auch nicht zu probieren. Das entspannt dann doch meine LeseLISTE!
    Und warten wir mal, wie die Herren Paul Austers Buch finden. Ob die 50-Seiten-Liste der Wohnungen bei ihnen mehr Reiz entfalten?
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 30, 2013 at 2:20 pm

      Liebe Claudia,

      ja, ist so ein deutlicher Verriss nicht ganz ungewöhnlich für mich? 😉 Ich war selbst überrascht, als ich erst anfing zu schreiben, aber ich habe mich bei und nach der Lektüre einfach auch sehr geärgert – über jeden Cent, den ich für das Buch ausgegeben habe. Wer weiß, vielleicht hat Herr Auster in der Tat eher ein Buch für die männliche Leserschaft geschrieben – ich bin auf jeden Fall schon gespannt auf die Leserstimmen der Herren. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

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