Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens – Kelle Groom

Es wäre wohl falsch, “Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens” als Roman zu bezeichnen, denn es ist ein Buch, das eine Geschichte erzählt, die das wahre Leben geschrieben hat. Kelle Groom, die Autorin, machte bisher vor allem als Lyrikerin auf sich aufmerksam. In “Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens”, das von Susanne Höbel ins Deutsche übertragen wurde, findet sie den Mut und die Stärke ihre eigene Geschichte zu erzählen.

“Es ist, als wäre ich verschwunden, nachdem ich Tommy weggegeben hatte – ich kann mich selbst nicht sehen.”

Kelle Groom ist fünfzehn als sie anfängt zu trinken. Der Alkohol hilft ihr, Hemmungen zu überwinden und eine tiefsitzende Angst und Unsicherheit abzulegen. Trotz aller Versuche ihrer Eltern, ihr das Trinken wieder abzugewöhnen, rutscht Kelle immer tiefer ab.

Mit 19 Jahren wird Kelle schwanger. Einen Vater gibt es zwar, doch der drängt sie zu einer Abtreibung. Kelle glaubt, der Anforderung Mutter zu werden, nicht gewachsen zu sein. Kelle glaubt, dass ihr so etwas wie ein mütterliches Gen fehlt. Mit zwölf Jahren hat sie ein Kind geschlagen, auf das sie aufpassen sollte. Die Angst, dass ihr so etwas noch einmal passieren könnte, ist überwältigend groß. Sie entscheidet sich dazu, ihren Sohn abzugeben – sie überlässt ihn ihren Verwandten, ihrer Tante und ihrem Onkel, die kinderlos sind, sich aber schon immer Kinder gewünscht haben.

“Sie ist jünger als ich heute und wird gleich ihr erstes Enkelkind halten, wird gleich erlauben, dass ich es weggebe. Meine Mutter wird es nie wieder berühren. Sie wird das Foto, das meine Tante und mein Onkel uns schicken, vergrößern und rahmen lassen und auf die Kommode in ihrem Schlafzimmer stellen.”

Die Entscheidung, das Kind wegzugeben, lässt Kelle endgültig abstürzen, danach gibt es kein Halten mehr. Sie beginnt exzessiv zu trinken und es gibt kaum noch Tage, an denen sie nüchtern ist. Lebendig fühlt sie sich nur noch, wenn Männer sie berühren; fremde Männer, Männer, die sie gerade erst kennengelernt hat. Körperliche Aufmerksamkeit ist das Einzige, was die junge Frau noch mit der Welt verbindet. Sie trinkt bis zur Besinnungslosigkeit, schläft irgendwo ein und wacht in fremden Wohnungen wieder auf.

“Ich hatte nicht gewusst, dass ich jemanden, der meinem Sohn Schaden zufügen wollte, anfallen würde, dass ich Speer oder Axt gegen ihn erheben würde, dass ich mit Nägeln und Klauen versuchen würde, meinen Sohn vor Schaden zu bewahren. Aber da hatte ich schon die Entscheidung getroffen, ihn wegzugeben.”

Tommy, ihr Sohn, ist nur wenige Monate alt, als er an Leukämie erkrankt; er stirbt, ohne, dass Kelle ihn noch einmal sieht. Statt für ihn da zu sein, sitzt sie in einem Stuhlkreis mit fünfzehn alkoholkranken Männern, um ihre Sucht zu bekämpfen. Der Verlust des eigenen Kindes, mit dem ihr nur so wenig Zeit vergönnt gewesen ist, sitzt tief, auch wenn sie sich selbst noch nicht erlaubt, ihn sich einzugestehen. Statt zu der Beerdigung zu gehen, geht Kelle in eine Bar. Der selbstzerstörerische Strudel, in dem sie sich befindet, seit sie fünfzehn Jahre alt ist, nimmt immer destruktivere Formen an. Ihre Eltern stehen hilflos daneben, sie sind erschöpft und wollen ihr krankes Kind nicht mehr im eigenen Haus haben. Sie ertragen ihre eigene Tochter nicht mehr.

Kelle Groom erzählt in einer poetischen Sprache, aber gleichzeitig auch schonungslos und mit einer rückhaltlosen Offenheit von ihrem Absturz. Anhand der Sprache, die poetisch und lyrisch ist und aus vielen wunderschönen Sprachbildern besteht, merkt man, dass Kelle Groom ursprünglich aus der Lyrik kommt. Doch die Sprache verschleiert nichts von dem, was passiert ist. Sie beschönigt nichts; Kelle Groom liegt es fern, sich selbst zu verschonen. Dementsprechend schmerzvoll ist es, ihren Text zu lesen. Es ist unfassbar schmerzhaft und traurig, Kelle durch ein Leben zu begleiten, das geprägt ist von Alkohol, Rückfällen und einer schwer zu bekämpfenden Sucht. Sie zählt die Tage, an denen sie es schafft, nicht zu trinken und wirft dann doch alles, was sie erreicht hat, wieder weg. Die Spirale der Sucht, die so unheimlich schwer zu durchbrechen ist, wurde selten zuvor in der Literatur so beeindruckend und bewegend geschildert, wie in diesem Roman. Das Leben von Kelle Groom bestand jahrzehntelang daraus, einen Platz im Leben zu finden, an dem sie sich lebendig fühlen kann. Erst, als sie diesen findet, ist sie dazu in der Lage, einen Blick zurück in die Vergangenheit zu werfen und sich mit dem Tod ihres Kindes zu beschäftigen.

“Ich war gerade vier Jahre alt geworden. Meine Mutter fuhr mit mir nach Boston und kaufte mir ein wunderhübsches blaues Kleid, das sich in Wellen bis zum Boden ergoss – ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens.”

Kelle Groom hat ein herzzerreißendes und schmerzhaftes Buch geschrieben, das gleichzeitig auch ein starkes und mutiges Buch ist, da die Autorin sich nicht davor scheut, die dunklen Stellen und Schattenseiten ihres Lebens zu thematisieren. Doch neben all dem Dunklen, versprüht das Buch auch eine sanft glimmende Hoffnung. Es ist die Hoffnung darauf, dass es in all der Dunkelheit auch immer Licht gibt. Es ist die Hoffnung darauf, dass es auch aus ausweglosen Situationen heraus Auswege geben kann.

5 Comments

  • Reply
    Ulli
    December 4, 2013 at 7:17 pm

    diese Buchvorstellung allein berührt mich tief … wie viele Menschen, die, warum auch immer noch, gibt es die abrutschen und sich kaum aus dem Teufelskreis heraushebeln können … ich arbeite immer mal wieder mit Jugendlichen und bin manchmal wirklich fassungslos, wie früh sie in die Sucht abgleiten … es ist ein Vorurteil, dass alle aus miesen Elternhäusern kämen … ich kenne auch einige der Eltern, die selbst hilflos daneben stehen …
    ich werde das Buch auf meine Liste setzen und lesen, vielleicht kann ich damit auch dem einen oder anderen meiner Jugendlichen Mut schenken … schauen wir mal

    danke dir für die Vorstellung
    herzliche Abendgrüße
    Ulli

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 6, 2013 at 9:34 am

      Liebe Ulli,

      danke für deinen interessanten Kommentar. In der Tat kommt Kelle Groom auch nicht aus einem schlechten Elternhaus, es gibt Suchttendenzen in ihrer Verwandschaft, aber ihre Eltern waren eigentlich immer darum bemüht, dass Kelle ähnliches erspart bleibt. Um so fürchterlich ist dann auch die Entwicklung ihrer Tochter für sie. Mir taten die Eltern sehr leid, da ihnen nichts anderes blieb, als hilflos zusehen zu können und darauf zu hoffen, dass ihre Tochter irgendwann die Kurve kriegt – ich stelle mir das schmerzhaft vor.

      Ich freue, dass dich meine Besprechung so weit überzeugen konnte, dass du das Buch auf die Liste setzt und ich wäre sehr gespannt darauf zu erfahren, wie es dir gefällt, falls du es lesen solltest.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Ulli
        December 6, 2013 at 9:37 am

        liebe Mara,

        es kann zwar noch etwas dauern, aber ich werde es auf alle Fälle lesen!
        Sucht zeigt sich ja auf vielen Gebieten, aber immer ist sie zerstörerisch, schon lange interessiert es mich … danke dir nochmals und herzliche Grüße
        Ulli

  • Reply
    wildgans
    December 5, 2013 at 9:39 am

    Ohje, Vorschussheulen….

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 6, 2013 at 9:26 am

      Was für eine schöne Wortschöpfung: Vorschussheulen. Die Lektüre ist stellenweise in der Tat sehr traurig und schwer auszuhalten, ich habe sie aber auch als sehr lohnend empfunden.

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