Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau – Max Scharnigg

Max Scharnigg arbeitet nicht nur als Autor, sondern auch als Journalist. Der 1980 geborene Autor ist unter anderem tätig für die Süddeutsche Zeitung, Architectural Digest und Nido. Vor drei Jahren erschien sein Debütroman “Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe”. In diesem Literaturherbst erschien sein neuestes Buch “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau”.

“Die zwei Regeln meines Vaters. Führe ein Tagebuch. Sorge dich um die Hofstange. Die erste echte Erinnerung: Wie er an meinem sechsten Geburtstag ein schwarzes Büchlein auf den Tisch neben meinem Bett legt, bevor er den Hocker nimmt, um mir die Gutenmorgengeschichte zu erzählen.”

Max Scharnigg erzählt in seinem neuesten Roman, der den ungewöhnlichen Titel “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau” trägt, die ebenfalls ungewöhnliche Geschichte von Jasper Honigbrod. Jasper ist zu Beginn des Romans sechs Jahre und erzählt die Geschichte seiner leicht seltsam anmutenden Familie aus der Perspektive eines Kindes, es ist eine eigenwillige aber unheimlich liebenswerte Perspektive.

“Es ist wohl so, die Abenteuer, die wir zu Beginn unseres Lebens in jeder Hecke, an jedem Stein und jedem Hügel sehen, kommen uns später so gewöhnlich vor, wie das ganze Leben. Aber zuerst sind diese Dinge die Grenzposten alles Neuen, die Marksteine unserer ganzen Welt, und es ist möglicherweise wichtig, das nicht zu vergessen.”

Jasper wächst mit den beiden Opis, seinem Großvater und seinem Vater, in Pildau auf. Pildau ist ein Ort, den man nicht einmal mehr als Dorf bezeichnen könnte. Es ist ein Ort der Abgeschiedenheit und Einöde. Der Flecken Pildau bestand ehemals aus zwei Höfen, einer von beiden ist jedoch bereits verfallen und nur noch der Hof der Honigbrods wird bewohnt. Verbunden mit der Außenwelt (dem Hinterland) ist er durch eine einzige Landstraße.

“Pildau ist in der Flurkarte als Hofstelle eingetragen, das ist etwas mehr als ein Bauernhof, auch wenn es zu meiner Zeit schon etwas weniger war.”

Das geruhsame und gleichmäßige Leben der Honigbrods, das geprägt ist vom Anbau und Verzehr des Mangolds, gerät eines Abends aus den Fugen. Es ist der Abend, an dem Jaspers Vater auf einer seiner Wanderungen ein junges Mädchen aus einem Auto rettet und es mit nach Hause bringt. Lada lebt fortan in der Familie, statt offizielle Stellen zu informieren, wird sie in die Welt Pildaus und der Honigbrods integriert. Jasper, der bisher in einer Welt aufwuchs, die von Männern geprägt wurde – seine Stiefmutter Lene hat den Hof nur ab und an aufgesucht – ist angetan vom familiären Zuwachs. Lada bringt ganz viel Neues auf den Hof, vor allem auch einen neuen Duft:  “Frische Regenpfützen auf einer Juniwiese und darin ein Tropfen Benzin, das war ihr Duft.” 

Es ist das Leben in Pildau, von dem Jasper mit den Augen eines Kindes erzählt und Max Scharnigg gelingt es dabei eine bezaubernd märchenhafte Welt zu erschaffen. Eine Märchenwelt, die aus einer Hofstange besteht, die so weit in den Himmel ragt, dass das Ende für Menschenaugen nicht mehr zu erblicken ist. Eine Märchenwelt, die aus Fischen besteht, die tagtäglich gefüttert werden, doch schon lange nicht mehr gesehen wurden. Zu dieser Märchenwelt gehört auch eine eigenwillige Sprache, die dennoch wunderschöne Sprachbilder produziert, zum Beispiel in dem Moment, als Jasper statt verstorben, das Wort “verhimmelt” benutzt. Der Leser erhält auch Einblicke in die bewegte Vergangenheit der Hofbewohner, es wird die Geschichte der beiden Opis erzählt, die bis zurück in den Krieg reicht, aber auch die bewegende Lebensgeschichte von Lene. Es war wohl vor allem diese Geschichte, die mich am stärksten berührt und gepackt hat. Darüber hinaus ist “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau” aber auch ein Roman über Bücher, über das Lesen von Büchern und die Liebe zu Büchern, über Bibliotheken und das Schreiben von Büchern. Jaspers Vater liebt es sich in seine Bibliothek zurückzuziehen, in der er schreibt und liest. Seinem Sohn reicht er Romane weiter, die ganz sicherlich nicht seinem Alter angemessen sind, die ihm aber, in einer Welt, die nach der Ankunft von Lada immer stärker aus den Fugen gerät, Halt und Trost geben sollen.

“Wann immer mir die Bücher in der Hand weniger wurden, las ich langsamer und zögerte jede Seite hinaus, bis ich dazu überging, die Enden einfach gar nicht mehr zu lesen. Ich legte die Bücher vorsichtig zur Seite, sobald mir der Buchdeckel rechts zu nahe kam, und behielt die Geschichten so, wie sie waren, unvollendet und richtig.”

Einen Roman aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen, zu Beginn des Romans ist Jasper sechs Jahre alt, ist immer ein Wagnis und mit dem Risiko verbunden, zu scheitern. Doch in diesem Fall funktioniert die stellenweise ungewöhnliche Perspektive. Der Leser betrachtet die Welt aus den Augen eines Kindes und wird dadurch vielleicht wieder auch ein bisschen daran erinnert, die eigene Perspektive auf Ereignisse zu überdenken. So erging es zumindest mir.

Max Scharnigg ist mit “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau” ein lesenswerter Roman gelungen, der bewegt und berührt. Getragen wird er  von liebevoll beschriebenen Figuren und einer Geschichte, die einen, wenn man erst einmal anfängt zu lesen, nicht wieder loslässt. Max Scharnigg reizt die Grenzen der Realität aus, er nimmt den Leser an die Hand und man muss bereit sein, mit ihm mitzugehen – ich habe das sehr gerne getan.

8 Comments

  • Reply
    Christoph
    December 6, 2013 at 10:47 am

    Das Buch habe ich mir zu Weihnachten gewünscht und ich hoffe sehr, es auch tatsächlich unter dem Christbaum zu finden ;-).

    “Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe” habe ich vor einer Weile gelesen und das Büchlein hat mich sehr bezaubert. Wunderbar verschroben und mit liebenswert kauzigen Figuren. Ähnliches erwarte ich mir nun auch vom neuen Roman.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 9, 2013 at 10:40 am

      Hallo Christoph,

      ich drücke dir die Daumen, dass das Buch unter Weihnachtsbaum liegen wird. 🙂 “Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe” (ein herrlicher Titel) kenne ich bisher noch nicht, ich werde es aber ganz sicherlich lesen. Ich mag diese liebenswert exzentrischen und leicht verschrobenen Charaktere, die Max Scharnigg erfindet.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Photoraum
    December 6, 2013 at 11:33 am

    Hallo Mara,
    eine sehr schöne Rezension, bei der man meinen könnte, man hätte in dem Buch selber schon gelesen. Bevor ich dies aber wirklich tue, interessiert mich vorab sofort eine Frage – meinst Du, ob Jasper Honigbrod in seinem Pildau auf Dauer ein glücklicher Mensch ist, bzw. sein kann?
    LG Thomas

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 9, 2013 at 10:38 am

      Lieber Thomas,

      ich danke dir für deinen Besuch und deinen Kommentar, vor allem für dein Lob – es ist schön, dass ich dich mit meiner Besprechung erreichen konnte. Deine Frage ist auch eine Frage, die ich Max Schnarigg in meinem Interview gestellt habe – vielleicht hast du Lust einen Blick hineinzuwerfen, dann wirst du bestimmt fündig. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Max Scharnigg im Gespräch! | buzzaldrins Bücher
    December 9, 2013 at 10:03 am

    […] neue Roman von Max Scharnigg fällt bereits durch seinen ungewöhnlichen Titel auf, noch ungewöhnlicher ist […]

  • Reply
    guenterkeil
    December 28, 2013 at 5:10 pm

    Das ist wirklich ein toller Roman! Habe ihn gerade gelesen und bin begeistert!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 29, 2013 at 1:14 pm

      Das freut mich! 🙂 Ich fand ihn auch grandios und war überrascht, wie wenig Beachtung er im Vergleich mit einigen anderen Romanen in der Presse gefunden hat. Da kannst du ja nun Abhilfe schaffen … 🙂

  • Reply
    Nanni
    March 7, 2014 at 1:14 pm

    Hey,

    wieder einmal bin ich begeistert über deine Fähigkeit so großartige Rezensionen zu schreiben !!!

    Beim durchlesen deiner Rezi ist mir aufgefallen, dass man auch dieses Buch aus unterschiedlichen Perspektiven, mit dem Schewrpunkt auf unterschiedliche Merkmale, sehen und lesen kann. Ich liebe es, wenn das passiert und ich finde das spricht auch immer für ein Buch.
    Ich mag die Denkweisen der Opis so gern und auch die Art, wie Jasper die Welt betrachtet. Mit welcher Empörung manchmal seine Naivität dargestellt wird.
    Mein Freund hat gerade den Angelschein gemacht. Ich werde ihm sagen, dass ich auch unbedingt eine unsichtbare Schleie möchte 😉
    so, jetzt werde ich mal noch dein Interview mit dem Autor lesen.

    Liebe Grüße Nanni

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