Doctor Sleep – Stephen King

Meine Annäherung an Stephen King – nach Jahren der Abkehr von den fantastischen Welten, in die er mich während meiner Jugend entführte – liegt mittlerweile ein halbes Jahr zurück. Damals schien noch die Sonne und “Joyland” fesselte mich so, dass ich es zu einem Tipp für sommerliche Tage erkor. Die hellen und sonnigen Tage sind längst vergangen, doch ich habe unlängst einen weiteren Roman von Stephen King gelesen. Eigentlich folgt das Fazit immer zum Abschluss einer Rezension, doch hier sei vorweggenommen, dass es sich bei “Doctor Sleep” um ein großartiges Buch für winterlich trübe und verhangene Tage handelt: es lässt sich damit im Dunkeln ganz herrlich gruseln!

Aber von vorn! Stephen King wurde 1947 in Portland, Maine, geboren und gehört damit nicht nur zu den literarischen Großmeistern, sondern auch zu einem Altmeister – doch gruselige und zündende Ideen, scheinen ihm auch im zunehmenden Alter nicht auszugehen. Er gehört zu den erfolgreichsten Schriftstellern Amerikas und scheint neue Bücher förmlich am Fließband zu produzieren. Erst im Juni erschien im Heyne Verlag sein Roman “Joyland”, der auch bei der seriösen Feuilletonkritik auf Begeisterung stieß. Während “Joyland” weniger ein Gruselroman als ein Krimi ist, kehrt Stephen King mit “Doctor Sleep” auf altbekannte Pfade zurück.

“Mach die Augen zu, […]. Wenn du etwas Schlimmes siehst, mach einfach die Augen zu, und sag dir, dass es nicht da ist, und wenn du sie wieder aufmachst, ist es fort.”

“Doctor Sleep” ist die Fortsetzung von “Shining”, dem Gruselklassiker, mit dem Stephen King vor mehr als 35 Jahren für Furore sorgte und mir vor vielen Jahren schlaflose Nächte bescherte – vielen dürfte “Shining” auch durch die grandiose Verfilmung mit Jack Nicholson bekannt sein.

Stephen King greift die offenen Fäden von damals auf und verfolgt die Lebensgeschichten seiner Figuren weiter. Damals, vor mehr als 35 Jahren, brannte das Hotel Overlook, das eine zentrale Rolle im Roman “Shining” spielte, bis auf die Grundmauern ab. Jack Torrance, der wahnsinnig gewordene alkoholkranke Vater starb, seine Frau Wendy und sein Sohn Danny überleben. Wendy wird schwer verletzt, während Danny beinahe ohne Blessuren davonkommt. Zumindest körperlich.

“Das Overlook war noch längst nicht mit ihm fertig. Mindestens einer der rachsüchtigen Geister aus dem Hotel war ihm bis nach Florida gefolgt.”

Das, was sich damals in dem kleinen Jungen bereits angedeutet hat, verfestigt sich im Alter: Danny, aus dem später Dan Torrance werden sollte, hat starke Ahnungen und Eingebungen. Die Menschen, die ihm bereits im Hotel begegnet sind, begegnen ihm nun auch Jahre später wieder, doch dem Jungen gelingt es, sie zum Schweigen zu bringen, sie in einem mentalen Schließfach wegzuschließen, aus dem sie hoffentlich nie wieder hervorkehren würden.

“Das dachte er damals jedenfalls. Natürlich dachte er auch, er würde niemals Alkohol trinken, nachdem er erlebt hatte, was der aus seinem Vater gemacht hatte. Manchmal kapieren wir es einfach nicht.”

Stephen King erzählt in “Doctor Sleep” zwei parallel verlaufende Handlungsstränge, die, Seite für Seite, dichter aneinander heran geführt werden. Da ist zum einen Dan Torrance, der wider besseren Wissens angefangen hat zu trinken und die Kontrolle über seine Dämonen verloren hat.

“Es wird nie aufhören, dachte Danny. Das Overlook ist abgebrannt, und die schrecklichsten seiner Untoten hab ich in Schließfächer gesteckt, aber mein Shining kann ich nicht wegsperren, weil es nicht nur in mir drin ist – ich bin es selbst. Wenn ich diese Visionen mit Alkohol nicht wenigstens betäube, werden sie weiterhin kommen, bis sie mich in den Wahnsinn treiben.”

Er muss zuerst einen bodenlosen Tiefpunkt erreichen, bevor er beginnt, sein Leben von Grund auf zu überdenken: er zieht in eine Kleinstadt, wo er fleißig Treffen der Anonymen Alkoholiker besucht und in einem Hospiz arbeitet. Die Gabe des Shinings, die in seiner Kindheit so häufig eine Last gewesen ist für ihn, nutzt er nun für positive Zwecke: er steht den Hospizbewohnern beim Sterben bei und spendet Trost. Schnell ist er im Hospiz nur noch unter dem Namen “Doctor Sleep” bekannt. Gleichzeitig ist auf den Straßen Amerikas eine übernatürliche Sekte unterwegs, die unter dem Namen der Wahre Knoten firmiert und in unscheinbaren Wohnwagen unterwegs ist. Die Mitglieder des Wahren Knotens sind ganz normale Menschen, zumindest äußerlich, doch sie verbergen ein düsteres Geheimnis: sie leben länger, als andere Menschen und um so lange leben zu können, brauchen sie ein besonderes Lebenselixier. Dieses Elixier wird auch als Steam bezeichnet und findet sich vor allen in Kindern und Jugendlichen. Kindern, die die gleiche Gabe besitzen, wie Danny. Kindern, die auch das Shining in sich tragen. Dieser Steam macht die Mitglieder des Wahren Knotens förmlich unsterblich, deshalb sind sie immer auf der Jagd nach möglichen Opfern. Ein solches Opfer, das Steam im Überfluss verspricht, ist Abra Stone  – ein junges Mädchen, das über übersinnliche Kräfte zu verfügen scheint. An dieser Stelle führt Stephen King beide Handlungsstränge zusammen, in dem er eine Verbindung zwischen Abra und Dan schafft. Dan, der seit mehr als zehn Jahren als trockener Alkoholiker lebt, muss in die Dämonenwelt seiner Kindheit zurückkehren, um Abra vor der mörderischen Sekte zu schützen. Es kommt zu einem finalen Showdown, aus dem nur ein Sieger hervortreten kann …

“In seinem Kopf lebte ein bissiger Hund. Wenn er nüchtern war, konnte er den an der Leine halten. Wenn er trank, verschwand die Leine. Früher oder später bringe ich noch jemand um. Womöglich hatte er das letzte Nacht schon getan.”

Mit “Doctor Sleep” hat Stephen King eine gelungene und sehr lesenswerte Fortsetzung von einem wahren Horrorklassiker vorgelegt. Mit über 700 Seiten ist der Roman lang, deutlich länger als das kompakte “Joyland”, und manchmal hätte ich mir etwas mehr Straffung gewünscht. Dicke Schmöker sind was Schönes, gerade an winterlichen Tagen, doch Stephen King gerät in diesem Roman ab und an in die Gefahr, die Geschichte zu sehr in die Länge ziehen zu wollen. Natürlich steht der Grusel im Vordergrund und Stephen King schafft in seinem neuen Roman eine Vielzahl an wahren Gänsehautmomenten, doch für mich ist “Doctor Sleep” nicht nur eine Gruselgeschichte, sondern auch eine persönliche Auseinandersetzung eines Schriftstellers mit seiner eigenen Alkoholsucht. Stephen King thematisiert seine überwundene Sucht nicht zum ersten Mal, doch noch nie hat er dies so ausführlich getan, wie in seinem neuen Roman. In dem erwachsen gewordenen Daniel Torrance steckt wohl eine ganze Menge von Stephen Kings eigener Geschichte, so liest sich “Doctor Sleep” nicht nur als ein Fortsetzungsroman, sondern ein kleines bisschen wie eine eigene Biographie.

“Doctor Sleep” ist ein wunderbares Winterbuch, das dazu einlädt, weggeschmökert zu werden und sich dabei ordentlich zu gruseln. Unter dieser Oberfläche verbirgt sich jedoch die berührende Geschichte eines Alkoholikers, dem es gelingt, trocken zu werden und trocken zu bleiben. Irgendwie ist es wahrscheinlich immer so im Leben, dass man sich Dingen stellen muss, um sie zu überwinden: Dan Torrance muss sich den Dämonen seiner Kindheit stellen, um nicht nur sie zu überwinden, sondern auch seine Sucht. Mit “Doctor Sleep” spendet Stephen King Kraft und Mut, indem er aufzeigt, dass es sich lohnen kann, sich seinen eigenen Dämonen zu stellen – auch wenn man manchmal vorher erst einmal einen Tiefpunkt erreichen muss.

9 Comments

  • Reply
    Papyrus
    December 26, 2013 at 12:50 pm

    Ich lese gerne King, auch wenn er einige Jahre geschwächelt hat mit seinen Büchern. Um so schöner ist es, deine Kritik zu lesen. Noch schöner, dass ich das Buch zu Weihnachten bekommen habe. So kann ich mich schon im Vorfeld auf die Lektüre freuen. 🙂

  • Reply
    Christoph
    December 26, 2013 at 5:20 pm

    Das Buch habe ich mir fürs kommende Jahr auch vorgenommen. Vorher müssen aber noch die Weihnachtsgeschenke gelesen werden und “Shining” möchte ich zur Einstimmung auf “Doctor Sleep” gerne auch noch einmal lesen…

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 28, 2013 at 11:43 am

      Lieber Christoph,

      ich wünsche dir ganz viel Vergnügen bei “Doctor Sleep”, es ist ein tolles Buch – “Shining” werde ich im Nachklapp vielleicht auch noch mal lesen, meine Lektüre liegt nun ja doch bereits einige Jahre zurück.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    macg82
    December 27, 2013 at 7:01 am

    Diese Rezension gibt das Stephen King Feeling ab einem bestimmten Punkt sehr gut wieder. Auch wenn es sicher noch ein Weilchen dauern wird, bis ich zu diesem Buch komme, freue ich mich schon darauf.
    Wenn dich das Stephen King- Fieber jetzt wieder so gepackt hat, dann solltest du für das Frühjahr unbedingt Der Anschlag vornehmen und dich einmal mehr vom Meister des Horror überraschen lassen 😉

    Gruß,
    Marc

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 28, 2013 at 11:35 am

      Lieber Marc,

      “Der Anschlag” liegt bereits hier, erst müssen aber noch ein paar Rezensionsexemplare abgearbeitet werden – auf die Lektüre freue ich mich aber schon. 🙂 Mit der Arena liebäugel ich auch noch – aber wer weiß, vielleicht hat Stephen King bis ich dahin komme, bereits wieder ein neues Buch veröffentlicht.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    perlengazelle
    December 27, 2013 at 2:43 pm

    Mein Sohn liebt Stephen King. Und hat “Doctor Sleep” vom Weihnachtsmann bekommen. Jetzt muss er vorerst darauf verzichten … fürchte ich … 😉
    MRR findet ja, dass Romane über 500 Seiten nichts taugen. Aber bei diesem Wetter ein dicker Schmöker mit Keksen – da hat was. 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 28, 2013 at 11:32 am

      Liebe perlengazelle,

      dein armer Sohn! 😉 Aber wenn es dir so ergeht, wie mir, wirst du nicht lange für dieses Buch brauchen – ich habe es ganz schnell weggeschmökert, so sehr hat es mich in den Bann gezogen.
      Was die Dicke der Romane anbelangt, finde ich, dass man das so pauschal, wie Marcel Reich-Ranicki es sagt, nicht formulieren kann – ich habe schon sehr viel schöne Wälzer gelesen. Dieser Spruch – “In der Kürze liegt die Würze” – ist eben nicht auf alles anwendbar. 😉

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        perlengazelle
        December 28, 2013 at 1:59 pm

        Ich mag’s lieber dick als dünn. Egal, was MMR sagte. 😉 Muss ja nicht gleich so umfangreich wie “Krieg und Frieden” sein. Da hab ich – oh Schande – einiges überschlagen. Mit Kurzgeschichten hadere ich dagegen oft. Kaum ist man “drin”, schon ist man wieder “raus”.

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          December 29, 2013 at 1:17 pm

          Kurzgeschichten sind in der Tat eins ehr schwieriges Genre, da lese ich häufig auch lieber dicke Wälzer als kurze Geschichten, deren Sinn sich mir häufig nicht erschließt. 😉 Ich bin schon ganz gespannt darauf zu erfahren, wie dir “Doctor Sleep” gefallen wird.

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