Lucy im Himmel – Daniella Carmi

Daniella Carmi wurde 1965 in Tel Aviv geboren und studierte Kommunikationswissenschaften und Philosophie. Heutzutage schreibt sie Theaterstücke, Drehbücher und Romane. Ihre Texte wurden bereits vielfach ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie für “Lucy im Himmel” den Ministerpräsidentenpreis für Hebräische Literatur. Übersetzt wurde der Roman von Anne Birkenhauer.

DSC_9672

“Hätten Nonnen heutzutage eine etwas höhere Moral, wäre das alles vielleicht nicht passiert.”

Nadja und Salim sind glücklich miteinander verheiratet. Dies zu erreichen, war gar nicht so ganz einfach, denn während Nadja einer christlichen Familie entstammt, gehört Salim der arabischen Kultur an. Von ihrem Vater wird sie verstoßen, als sie sich dazu entscheidet, einen Moslem zu heiraten. Nadja ist Sozialarbeiterin, doch eigentlich erledigt sie nur den nervigen Papierkram, erst als ihre Kollegin in den Mutterschutz geht, übernimmt sie die Betreuung einiger menschlicher Fälle. Auf diesem Weg lernt sie auch ein russisches Ehepaar kennen, das ihr Leben noch gehörig durcheinander bringen sollte. Salim ist Rechtsanwalt, doch in seinem Beruf arbeitet er aufgrund mangelnder Aufträge schon lange nicht mehr – stattdessen repariert er alte Autos und verdient sich auf diesem Weg etwas dazu.

Zur Vollendung ihres Glücks fehlt eigentlich nur noch ein gemeinsames Kind, doch weil es auf natürlichem Wege nicht klappt, beschließen Nadja und Salim ein Kind zu adoptieren. Drei Jahre lang stehen sie auf einer Warteliste, ohne einen einzigen Anruf zu erhalten. Schließlich erhalten sie völlig überraschend doch noch das Angebot ein Kind zu adoptieren.

“Hier ist ein Kind, das können Sie sofort mitnehmen, Frau Yassin, allerdings nur als Pflegekind. Sonst lassen wir die Sache gleich wieder fallen.”

Nadja kriegt einen Koffer in die Hand gedrückt und wird dann zusammen mit einem dreizehnjährigen Jungen aus der Tür geschoben. Netanel ist kein süßes Baby, kein niedliches Kleinkind, sondern ein schweigsamer Junge. Er spricht und isst nicht, seinen neuen Eltern schaut er nicht in die Augen und am Liebsten verbringt er seine Zeit hoch oben in der Krone des Feigenbaumes. Salim ist Nadja in diesen Tagen keine Unterstützung, er zieht sich immer stärker zurück – er hatte sich ein Baby gewünscht, keinen ausgewachsenen Jungen.

“Wenn ich hier schon einen tauben Jungen habe, dann habe ich jetzt auch noch einen stummen Mann.”

Nadja widmet sich diesem Jungen, der stumm und abweisend ist, mit viel Geduld und Fürsorge. Es ist eine Geduld, die sie bereits tagtäglich auf der Arbeit aufbringen muss; nun braucht sie diese auch für den Umgang mit ihrem schwierigen Mann und dem schweigsamen Netanel, der eigentlich ein pflegeleichtes und süßes Baby sein sollte und kein verstockter Teenager. Erst über die Musik gelingt es Nadja, einen Zugang zu Netanel zu finden, die Melodien, die der Junge ständig summt, sind Lieder der Beatles. Er scheint in einer Welt zu leben, die aus Musik und Noten besteht, aus Liedern und Gesang. Er möchte keine Mutter und kein Zuhause, sondern eine Traumwelt, in der er Figuren begegnen kann wie Eleanor Rigby oder denen aus “Lucy in the Sky with Diamonds”. Es ist ein Kassettenrekorder, der die erste Annäherung zwischen den fremdelnden Eltern und ihrem Pflegekind ermöglicht und ein alter Käfer, der in der Tradition der Yellow Submarines gelb gestrichen wird, der das zarte Band zwischen den dreien festigt.

“Abends hörten wir die Kassette, und wenn ich nicht zu müde war, war ich Lucy im Himmel, winkte zwischen den Zweigen, schwebte über den Knospen des Mandarinenbaums und zwinkerte. Ich gab mir solche Mühe, wie Diamanten zu funkeln. Ich leuchtete aus den Wolken, die im Marmeladenhimmel trieben, und die ganze Welt strahlte aus meinen Kaleidoskopaugen.”

Als Nadja und Salim mysteriöse Schreiben in ihrem Briefkasten finden und Nachts immer häufiger ein fremdes Auto in der Einfahrt parkt, müssen sie sich eingestehen, dass Netanel ein größeres Geheimnis umweht, als sie bisher angenommen hatten … als der Junge urplötzlich verschwindet, braucht es die Hilfe von Lucy im Himmel, um ihn wieder zurück nach Hause zu holen.

DSC_9668

“[…] unser Netanel bewegt sich unter uns mit all dieser Einsamkeit auf seinen schmalen Schultern. Wir wissen ja weiß Gott nicht viel von ihm. Auch nachdem er das erste Mal vom Baum gestiegen war und sich zu uns gesetzt hatte, hat er ja nicht gerade viel aus seinem Leben erzählt. Nur durch seine Lieder bekamen wir das Ende eines roten Fadens zu packen und konnten vielleicht ein bisschen verstehen, was er schon erlebt hatte.”

Daniella Carmi wirft in ihrem ungewöhnlichen Roman “Lucy im Himmel” einen einzigartigen Blick auf die schwierige Lebenswelt in Israel. Sie erzählt eine Geschichte der unterschiedlichen Kulturen, die Israel heutzutage prägen – besonders im Fokus steht dabei die arabische Welt. Nadja und Salim holen Netanel in ein Leben, das geprägt ist von den unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Erwartungen, die an beiden ziehen und zerren und dennoch gelingt es ihnen, Netanel in dieser Welt einen Halt zu geben. Das Besondere an “Lucy im Himmel” ist sicherlich der beißende Humor: die Geschichte wird in einem schnodderigen Ton erzählt. Die Sprache ist dabei nüchtern gehalten, manchmal sogar ein bisschen spröde.

Genauso schräg, wie das Cover des Romans, ist auch die Geschichte, die in “Lucy im Himmel” erzählt wird. Doch hinter dieser Schrägheit verbirgt sich ganz viel Liebe und Wärme für die Figuren, von denen Daniella Carmi erzählt. Es sind Figuren, die sich am Rand der Welt bewegen und denen es schwer fällt, eine Sprache für ihr Erleben zu finden. “Lucy im Himmel” ist ein lesenswerter Roman voller Humor und Musik, über die Liebe und das Leben und über die heilenden Kräfte, die Lieder manchmal haben können.

 

14 Comments

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    February 21, 2014 at 4:36 pm

    Liebe Mara,
    eine sehr einfühlsame Besprechung eines Buches und einer Autorin, die ich überhaupt nicht kannte – aber Du hast mich sehr neugierig gemacht. Das Thema spricht mich an und schon der erste von Dir zitierte Satz (ist es der erste Satz des Buches, das würde mir gefallen) hat mich begeistert.
    Liebe Grüße, Kai

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 22, 2014 at 8:18 pm

      Lieber Kai,

      ja genau, es ist in der Tat der erste Satz des Buches – das wäre auch ein Kandidat für mein damaliges Video zum ersten Satz gewesen. Ich finde ihn auch einen klasse Einstieg in diesen Roman.

      Wie schön, dass ich dich neugierig machen konnte! 🙂
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    masuko13
    February 21, 2014 at 5:58 pm

    Genau mein Buch! Habe es aus meinem Bücherstapel hervorgezerrt, den ersten Satz gelesen, den zweiten und den dritten auch. Dann noch das, was im Klappentext steht: schräg, unkonventionell, voller Humor und menschlicher Wärme. Danke, dass du wiedermal dafür sorgst, dass die besten Bücher nicht verloren gehen.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 22, 2014 at 8:19 pm

      Liebe Masuko,

      ja, das Buch ist so schmal, dass es wohl Gefahr läuft, bei dem ein oder anderen vom Stapel zu rutschen. Dem möchte ich gerne vorbeugen, schön, dass ich dich gleich so neugierig machen konnte. Ich freue mich sehr! 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        masuko13
        February 23, 2014 at 11:32 am

        Das Buch wird meine heutige Sonntagslektüre….
        Liebe Grüße auch an dich,
        Masuko

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          February 23, 2014 at 12:37 pm

          Liebe Masuko,

          wie schön. Ich hoffe, dein Sonntag ist genauso sonnig, wie meiner! 😀

          Liebe Grüße
          Mara

  • Reply
    mickzwo
    February 22, 2014 at 6:56 am

    Genau diese Platte habe ich mal geschenkt bekommen. Da mußte ich dem Bericht ja Lesen. Und jetzt muß ich dieses Buch unbedingt lesen. Danke für diese Rezenension. Sehr einfühlsam geschrieben. LG, mick.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 22, 2014 at 8:20 pm

      Lieber mick,

      danke für dein Lob. Das Buch hat mich sehr berührt, deshalb fiel es mir leicht einfühlsame Worte zu finden. Ich wäre gespannt darauf zu erfahren, wie es dir gefallen wird. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        mickzwo
        February 22, 2014 at 8:28 pm

        In der Bibliothek haben sie es noch nicht. Ich mache erstmal einen Anschaffungswusch. Sonst kaufe ich es mir. LG, mick.

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          February 23, 2014 at 12:47 pm

          Ich wünsche dir viel Erfolg, lieber mick! 😀

  • Reply
    Sonntagsleserin #KW8 | Wörterkatze
    February 23, 2014 at 1:43 pm

    […] stellt “Lucy im Himmel” vor. Daniella Carmis Charaktere “sind Figuren, die sich am Rand der Welt bewegen und […]

  • Reply
    Daniella Carmi. Lucy im Himmel. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer | masuko13
    February 26, 2014 at 7:57 am

    […] doch dann las ich vor einigen Tagen glücklicherweise (!!) Maras vielversprechende Rezension auf Buzzaldrins Bücher. Und es machte […]

  • Reply
    (Die Sonntagsleserin) KW #09 – März 2014 | Bücherphilosophin.
    March 2, 2014 at 7:05 am

    […] mir da entgangen!” Und auch mir fiel das quietschbunte Cover schon mal auf, und zwar bei buzzaldrins Bücher. Damals konnte ich es noch ignorieren, aber nun lasse ich es mir nichts mehr entgehen – […]

  • Reply
    wederwill
    July 8, 2015 at 12:20 pm

    Liebe Mara, Lust habe ich bekommen, dieses Buch einmal zu lesen – nicht zuletzt deswegen, weil meine älteste Tochter Nadja heisst 🙂
    Liebe Grüße an dich und vielen Dank für deine gleichbleibend wunderbaren Anregungen 🙂
    herzlichst,
    Marlis

Hinterlasse hier Deinen Kommentar ...

%d bloggers like this: