Wie ich mir das Glück vorstelle – Martin Kordić

Martin Kordić wurde 1983 in Celle geboren und arbeitet heutzutage als Lektor bei einem Verlag in Köln. Er studierte in Hildesheim und an der Universität Zagreb. Mit “Wie ich mir das Glück vorstelle” legte er in diesem Bücherfrühjahr seinen ersten Roman vor.

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“Diese Geschichte ist mein Leben. Diese Geschichte darf nicht länger sein als das Heft, in das ich reinschreibe. Ich schreibe sie für dich. Ich schreibe sie für den einen, der sie liest.”

Vorweg muss gesagt werden, dass das Cover des Romans täuscht. Der niedliche Vogel und das Wort Glück suggerieren eine Leichtigkeit, die sich in den Worten – wenn man den Roman schließlich aufschlägt – nicht mehr wieder finden lässt. Martin Kordić verarbeitet in seinem lesenswerten Debütroman ein Stück der eigenen Vergangenheit. Sein Vater stammt aus Bosnien, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Mostar. Die Familie plante in den achtziger Jahren ihre Rückkehr nach Bosnien, doch dann brach dort der Krieg aus. Diese Ereignisse holt Martin Kordić in seinem Roman wieder zurück in das Bewusstsein, aus dem Vergessen zurück in das Gedächtnis.

“Ich habe einigen Schaden an meinem Körper. Als ich zur Welt komme, haben die Menschen gleich eine Menge mit mir zu tun. Maria, o Maria. Ich habe damals schon ein ordentliches Rückenproblem. Ich bin so schief und steif, dass die Oma und die Mutter mich wochenlang nur in Tücher wickeln können. Dass mit meinem Kopf was nicht stimmt, findet nie ein Doktor raus. Ich selbst weiß auch nicht, was mir da fehlen soll.”

Erst vor kurzem habe ich Aleksander Hemons Roman “Das Buch meiner Leben” gelesen, der Roman ist eine sehr bewusste Auseinandersetzung mit dem Bosnienkrieg und den politischen Hintergründen der damaligen Zeit. Martin Kordić wählt für seine Erzählung, die gerade einmal 170 Seiten schmal ist, einen anderen Weg. Er erschafft Viktor, einen Jungen, der das Kriegsgeschehen aus einer kindlichen Perspektive heraus wahrnimmt. Diese Perspektive ist dafür verantwortlich, dass es weniger um das wie und warum geht, denn die genauen politischen Kriegsprozesse können von Viktor gar nicht erfasst werden, sondern um den einzelnen Moment, den Viktor erlebt. Es ist eine Perspektive, die manchmal diffus erscheint, voller verwirrender zeitlicher Abläufe und mit reichlich rätselhaften Geschehnissen. Das Besondere der Perspektive ist die ständige Momentaufnahme, denn Viktor lebt in einem fortlaufenden Präsens und so ist das Buch auch geschrieben – auch Sequenzen, die rein formal in der Vergangenheit liegen müssten, werden in eine stetige Gegenwart gerückt.

“Als ich zur Welt komme, leben hier vier Erwachsene (die Oma, der Opa, der Onkel und die Frau vom Onkel) und fünf Kinder (die Kinder vom Onkel). Mit den beiden Nachbarhöfen zusammen sind im alten Teil vom Dorf ungefähr dreißig Menschen. Mit den neuen Häusern an der Straße weiter unten sind es ungefähr achtzig. Ich versuche manchmal alle aus meiner Familie auf ein Bild zu malen, aber immer vergesse ich einen. Zusammen sind wir ein Dorf, das alle das Dorf der Glücklichen nennen.”

Viktor lebt in der Stadt der Brücken, bereits seine Geburt ist ungewöhnlich – auch Jahre später spricht man noch über diese blutigen Momente und die Schinkengabel. Viktor kommt mit einem krummen Rücken zur Welt, deshalb muss er ein Korsett und eine Rückenspinne tragen. Er lebt in einer Stadt, die geteilt wurde, verbunden wird sie nur noch durch Brücken, die jedoch häufig unpassierbar sind. Viktor lebt alleine, er hat keine Familie mehr, dafür aber Weggefährten: den Hund Tango, ein Mädchen, das als Prostituierte arbeitet, um zu überleben und einen passionierten Hütchenspieler, den er immer nur den einbeinigen Dschib nennt. Um in der zerstörten Stadt überleben zu können, bettelt Viktor nicht nur, sondern sammelt alles auf, was er auf seinen Streifzügen finden kann. Doch das Einzige, was Viktor wirklich zum Leben braucht, ist sein Heft und der Bleistiftstummel, mit dem er seine Geschichten aufschreibt. Die Geschichte seiner Geburt findet natürlich Erwähnung im Heft, aber er zeichnet auch viele Erinnerungen auf: Erinnerungen an die Zeit mit seiner Familie im Dorf der Glücklichen. Er erinnert sich an seine Großmutter, die ihn lehrt, Eier aus dem Hühnerstall zu stehlen, er erinnert sich daran, wie sie zusammen Teigschnecken machten, er erinnert sich an die Abwesenheit seines Vater, der in den Krieg auszog. Er erinnert sich an Tote, an Leid.

“Der Krieg fängt in den Dörfern an. Dort hört er auf. Krieger kontrollieren die letzten zwei Brücken der Stadt. Auf der einen Seite stehen die Mudschis, auf der anderen warten die Kreuzer auf uns.”

“Wie ich mir das Glück vorstelle” ist ein schmales Büchlein, das gerade einmal 170 Seiten umfasst. Doch es ist ein Buch, das eine solche Nach-Wirkung hat, dass man als Rezensentin fürchtet, dass die Länge der Besprechung, die Länge des Buches übertrumpfen könnte. Martin Kordić schildert einen Krieg, an den man als Leser jedoch nicht herankommt, denn er wird aus der verzerrten Perspektive eines Kindes geschildert. Als Leser erlebt man die Erschütterungen des Kriegs in der ewigen Gegenwart, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Diese Perspektive aus der heraus erzählt wird, gehört für mich zu dem wunderbarsten Aspekt des Romans, den dank dieser Perspektive kommt man dem Krieg vielleicht doch nah, nicht in seiner politischen Dimension und Bedeutung, doch in dem, was ein Krieg in der Seele eines Kindes anrichten kann. Die Perspektive bannt die Rästelhaftigkeit eines Krieges auf Papier und fängt die Orientierungslosigkeit und Verwirrung von Viktor ein. Es bleibt nicht aus, dass all dies stellenweise auch auf den Leser übergreift.

“Der Fluss trägt alles Leben und alle Toten und alle Geschichten. Aus allen Ländern und aus allen Völkern. Alles versinkt hier. Im Meer. Und wenn es irgendwann mal keine Geschichte mehr gibt, wenn keiner mehr was erzählt, wenn keiner mehr zuhört, ist das die Finsternis. Die Finsternis, aus der hier keiner mehr rauskommt. Auch du nicht. Egal wo du bist.”

Viktor ist ein besonders Kind, er wird als Kretin und Missgeburt beschimpft und von vielen nur als Krüppel gesehen, nicht als vollwertiger Mensch. Körperlich ist Viktor vielleicht eingeschränkt, doch sein Kopf funktioniert: er schreibt sein Heft voll mit Erinnerungen und es ist das Schreiben, das ihn überleben lässt, es sind die Worte, die ihm helfen. Erst der Prozess des Aufschreibens, ermöglicht es ihm, sich an das Glück seiner Kindheit zu erinnern.

Martin Kordić legt mit “Wie ich mir das Glück vorstelle” ein schmales Buch vor, das jedoch umso schwerer wiegt. Viktor ist für mich nicht nur eine Romanfigur; dieses seltsame Kind, voll von Ernsthaftigkeit und Traurigkeit, doch niemals den Mut verlierend, hat sich in mein Herz geschlichen. “Wie ich mir das Glück vorstelle” ist äußert lesenswert und herzzerreißend traurig.

12 Comments

  • Reply
    Kef Khaos
    March 10, 2014 at 12:53 pm

    Hätte ich derzeit kein “Buchkaufverbot”, wäre das Buch wohl auch schon bei mir eingezogen. Nach deiner Rezension bin ich mir aber sicher, dass es nicht mehr lange auf meiner Wunschliste stehen wird, dafür bin ich nun einfach zu ungeduldig ^^

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 10, 2014 at 12:57 pm

      “Buchkaufverbot”? Hört sich ja fürchterlich an! 😉 Ich kann dir das Buch nur ans Herz legen, die Perspektive ist ungewöhnlich und manchmal rätselhaft, doch Viktor ist unheimlich liebenswert. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen.

  • Reply
    dasgrauesofa
    March 10, 2014 at 2:20 pm

    Liebe Mara,
    auf Deine Besprechung bin ich schon sehr gespannt gewesen! Da hast Du nun also auch das “Glück” gehabt, Martin Kordics Viktor kennezulernen, den kleinen Jungen, der am Rand der Gesellschaft durch allerlei Zufälle, Unglücksfälle und Glücksfälle durch den Krieg kommt, sich aber trotzdem seine Erinnerungen an glückliche Zeiten bewahren kann, seine Erinnerungen an seine Großmutter, an die Elefantenfamilie im Zoo – und das alles in seinem Heft notiert. Mir hat diese kleine, ruhige, aber bildgewaltige Geschichte auch sehr gut gefallen.
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 12, 2014 at 1:16 pm

      Liebe Claudia,

      ja, es war wirklich ein Glück, diesen bewundernswerten Jungen kennenzulernen. Besonders interessant empfand ich als zusätzlichen Hinweis noch deine Ausführungen zur Resilienzforschung, die ich gerade gelesen habe. Viktor überlebt, weil er sich erinnert und weil er schreibt. Vielleicht ist dies für mich das Schönste an diesem Buch: Wirte können einen überleben lassen.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    5 Fragen an Martin Kordić! | buzzaldrins Bücher
    March 10, 2014 at 4:36 pm

    […] Lektor bei einem Verlag in Köln. Er studierte in Hildesheim und an der Universität Zagreb. Mit “Wie ich mir das Glück vorstelle” legte er in diesem Bücherfrühjahr seinen ersten Roman […]

  • Reply
    bookwives
    March 11, 2014 at 9:00 am

    Wieder mal hast du mir hier ein außergewöhnliches Buch schmackhaft gemacht, an dem ich sonst vorbei gelaufen wäre. 🙂
    Danke!

    Grüßly
    SaCre

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 12, 2014 at 1:07 pm

      Liebe SaCre,

      darüber freue ich mich doch sehr. Bei dem Buch wünsche ich dir viel Vergnügen, wenn man das denn so sagen mag.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Mariki
    March 13, 2014 at 2:33 pm

    Ich hab ja schon bei Sophie von dem Buch gelesen und wusste nicht, ob ich mich drübertrauen soll … aber jetzt bekomme ich es von Dorota und bin gespannt.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 14, 2014 at 2:25 pm

      Ich bin auch gespannt, wie es dir gefallen wird! 😀

  • Reply
    Vier Fragen an Martin Kordić |
    June 16, 2014 at 4:45 pm

    […] Ausnahmsweise möchte ich meine Gedanken dazu nicht mitteilen, sondern auf Sophie und Mara verweisen, deren Besprechungen mir sehr […]

  • Reply
    Martin Kordić – Wie ich mir das Glück vorstelle | Lesen macht glücklich
    December 10, 2014 at 7:10 pm

    […] – Mara von buzzaldrins […]

  • Reply
    Martin Kordić: Wie ich mir das Glück vorstelle | SchöneSeiten
    October 8, 2015 at 8:23 am

    […] Literaturen » dasgrauesofa » Buzzaldrins Bücher […]

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