Bäume reisen nachts – Aude Le Corff

Aude Le Corff wurde 1977 in Tokio geboren, zunächst studierte sie Psychologie und Wirtschaft, anschließend eröffnete sie den Blog Nectar du Net, der mit dem Prix ELLE ausgezeichnet wurde. “Bäume reisen nachts” ist ihr Debüt als Schriftstellerin, der Roman wurde aus dem Französischen von Claudia Steinitz übersetzt.

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“Er stellt sich vor, wie sich ganze Wälder von den Sternen geleitet durch ein Meer der Finsternis bewegen, er sieht sie vor sich, die entwurzelte Masse, die in betäubender Stille durch die Welt zieht, ihre Regungslosigkeit hinter sich zurücklässt und dann im Schutz der Dunkelheit vor dem Morgengrauen an ihren Platz zurückkehrt.”

“Bäume reisen nachts” wird von einem ganz und gar ungewöhnlichen Figurenquartett bevölkert. Da gibt es zum einen Manon, ein liebenswertes Mädchen, das jedoch nach dem Verschwinden ihrer Mutter fürchterlich einsam ist. Ihr Vater versinkt im Selbstmitleid, an manchen Tagen schafft er es kaum noch aus dem Bett – Manon bleibt sich selbst überlassen und verbringt ihre Tage am liebsten mit einem Buch unter einer Birke sitzend. Dazu gesellen sich zwei weitere exzentrische Hausbewohner: Anatole und Sophie. Anatole ist ein ehemaliger Lehrer, der seit seiner Pensionierung immer stärker vereinsamt und körperlich abbaut. Sophie ist die Tante von Manon, seit dem Verschwinden von Manons Mutter, findet sie keinen Zugang mehr zu dem jungen Mädchen. Die eigentliche Hauptdarstellerin des Buches ist abwesend – es ist die Mutter von Manon und die Ehefrau eines verzweifelten Mannes: Anaïs.

“Sie öffnet die Tür, die über den weißen Teppich schabt, jeden Tag mit der Hoffnung, ihre Mutter zu sehen. Die aber hat nur einen Stapel Bücher und ein Armband auf dem Nachtisch zurückgelassen. Sie darf auf keinen Fall nachlässig werden. Ihre Mutter kommt nur dann zurück, wenn Manon bestimmte Ausgaben gewissenhaft erfüllt.”

Aude Le Corff beginnt ihren Roman zu einem Zeitpunkt, als Anaïs bereits mehrere Monate verschwunden ist. Die Enge und Bedrückung in der kleinen, dusteren und immer häufiger ungelüfteten Wohnung, in der Manon und ihr Vater Pierre alleine zurück geblieben sind, ist förmlich greifbar. Es droht Erstickungsgefahr. Die Zeichen der Abwesenheit, die über alles andere einen schweren, dunklen Schleier legen, sind spürbar, An der Wand hängt das Bild eines einsamen Seglers, die Blumen sind vertrocknet, das Wasser schon lange verdunstet und die Blätter zerfallen im Staub. Es ist ein Sinnbild für das plötzliche Verschwinden von Anaïs, die sich in Luft aufgelöst hat, als wäre sie ein Blütenblatt, das in Staub zerfällt. Seit vier Monaten ist Anaïs verschwunden, seitdem interessiert sich Pierre nicht mehr für seine Tochter – die Rollen haben sich verkehrt, statt in ihrer Einsamkeit getröstet zu werden, übernimmt Manon die Pflege ihres gestrandeten Vaters.

“Das Mädchen steigt über die leeren Bierflaschen neben dem Sessel hinweg, geht zum Tisch und kontrolliert den Computer, wie eine Krankenschwester den Puls des Patienten. An manchen tagen vergisst er zu essen und zu arbeiten.”

Die vier Figuren, um die die Geschichte von Aude Le Corff kreist, bewegen sich in engen und festgefahrenen Grenzen. Die Stimmung ist gedrückt, als hätte jemand zeitgleich mit dem Verschwinden von Anaïs auf einen Pauseknopf gedrückt – der Alltag wirkt wie angehalten, die Figuren wie festgefroren. Anatole ist der Einzige der vier, der Anaïs zuvor nicht gekannt hat. Er ist ein alter Mann, der lediglich im selben Haus wohnte. Doch auch er lebte ein festgefrorenes Leben, in dem bereits der Gang zur Bäckerei wie ein “mit Steinen und Wurzeln übersäter Hochgebirgsweg” erscheint. Die Begegnung mit Manon, die er lesend unter einer Birke entdeckt, verändert nicht nur sein Leben, sondern vor allem die Sicht auf dieses Leben. Zuvor fühlte er sich gebrechlich und zum Alleinsein verurteilt, nun wagt er sich endlich wieder aus seinem selbstgezimmerten Gefängnis heraus.

“Und nun plötzlich, da er nichts mehr erwartet, setzt sich ein kleines Mädchen unter die Birke und fängt an, mit den Katzen, dem Wind und den Wolken zu sprechen.”

Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als sich aus heiterem Himmel Anaïs bei ihrer Familie meldet. Sie schickt jedem einen Brief, auch ihrer Schwester und ihrer Mutter und erzählt jedem von ihnen einen Teil ihrer Geschichte und einen Teil der Beweggründe, die sie dazu getrieben haben, Mann und Tochter im Stich zu lassen. Abgestempelt ist der Brief in Marokko. In Pierre und Manon wecken die Briefe Hoffnungen und Begehrlichkeiten, im Wunsch seine Frau zurück nach Hause zu holen, beschließt Pierre Hals über Kopf, ihr nach Marokko zu folgen – und genau zu wissen, was ihn dort erwartet. Pierre und Manon reisen jedoch nicht alleine, auch Sophie und Anatole kommen mit und plötzlich wird aus dem bedrückten Kammerstück ein rasantes Roadmovie, bei dem niemand der vier genau weiß, wie es ausgehen wird …

“Der Roman, der ganz Frankreich bezaubert hat”, steht auf der Rückseite des Buches. Auch mich hat dieser sanfte und feinfühlige Roman bezaubern können, doch nur stellenweise, denn die lesenswerte Geschichte nimmt sich durch ein leicht kitschiges Ende leider selbst ihre eigene Tiefsinnigkeit und Ernsthaftigkeit. Wie schade, habe ich beim Zuklappen des Buches gedacht. Aude Le Corff beginnt ihren Roman unheimlich vielversprechend, man taucht ein in diese Welt der Bedrückung, in dieses erstarrte Leben einer Familie, die sich vom Verschwinden der Mutter nicht erholen kann. Die Verzweiflung von Manon und ihr gleichzeitiger Glaube daran, selbst für die Rückkehr ihrer Mutter verantwortlich zu sein, haben mir beim Lesen immer wieder die Luft zum Atmen abgeschnürt. Es ist der Moment, in dem Anatole in ihr Leben tritt, der vieles verändern sollte – es ist der Moment, in dem er ihr aus Der Kleine Prinz vorliest, der dem Mädchen so viel Trost gibt. Der Autorin gelingt es mit leichter Hand fabelhafte Figuren zu erschaffen, die nicht nur liebenswert und warmherzig sind, sondern auch authentisch. Doch mit dem Aufbruch nach Marokko teilt sich der Roman in ein Davor und ein Danach und während mich das Davor bezaubern konnte, hat mich das Danach tief enttäuscht: das Ende ist zu gewollt, zu platt, zu kitschig und viel zu unglaubwürdig!

Aude Le Corff legt mit “Bäume reisen nachts” eine lesenswerte und nette Geschichte vor, der jedoch durch ein unpassend triviales Ende viel von ihrer Kraft und Wirkung genommen wird. Die erste Hälfte des Romans habe ich als ein warmherziges und bezauberndes Märchen empfunden, die zweite Hälfte hat diesen Erwartungen jedoch nicht mehr standhalten können. Was bleibt ist ein Roman, der Hoffnung, Zuversicht und Trost vermittelt – dabei jedoch Gefahr läuft, in eine nicht notwendige Banalität zu kippen.

8 Comments

  • Reply
    tinelesemomente
    March 21, 2014 at 4:17 pm

    Ja, es ist wirklich sehr schade, dass das Ende so ist, wie es ist. Ich mochte es trotzdem gerne, hätte es aber auch noch ein ganzes Stückchen lieber mögen können. 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 21, 2014 at 4:20 pm

      Liebe Tine,

      ach wie schön, dass es mir nicht alleine so geht mit dem Ende. Ich habe das Buch auch sehr gerne gelesen und ich hätte mir gewünscht, es noch mehr mögen zu können … es noch ein bisschen mehr ins Herz zu schließen. Doch mit dem Ende konnte ich mich leider nicht arrangieren, wirklich schade!

      Enttäuschte Grüße
      Mara

      • Reply
        tinelesemomente
        March 21, 2014 at 4:28 pm

        Also, enttäuscht war ich nicht, das ist zu viel gesagt, aber es hätte einfach noch besser sein können. Wie du sagst, es verliert dadurch ein bisschen an Ernsthaftigkeit.

        Liebe Grüße

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          March 21, 2014 at 4:33 pm

          Mein Enttäuschtsein bezieht sich vor allem auf das Ende, der Anfang hat mir wie gesagt gut gefallen. 🙂 Der Autorin würde ich bei einem nächsten Buch aber auf jeden Fall auch eine nächste Chance geben … wer weiß, warum sie sich für dieses Ende entschieden hat. 🙂

          Liebe Grüße
          Mara

  • Reply
    wildgans
    March 21, 2014 at 5:30 pm

    Das Außen ist hervorragend gestaltet, finde ich!
    Danke für die Rezension, dann weiß ich Bescheid!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 23, 2014 at 12:05 pm

      Gerne! 😀 Ich wollte nun aber keinesfalls abraten, andere empfinden das Ende vielleicht (ganz sicher) auch anders als ich das getan habe.

  • Reply
    seitengeraschel
    March 22, 2014 at 6:12 pm

    Das Buch hätte ich mir in Leipzig fast gekauft, dann meinte meine Freundin: “Das ist bestimmt irgendwie nicht gut…” Hm. Richtige oder falsche Entscheidung? Neugierig gemacht hast du mich trotz deiner Kritikpunkte ja schon…

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 23, 2014 at 11:56 am

      Schön, dass ich dich trotz meiner Kritikpunkte neugierig machen konnte – mir war es wichtig, das Buch nicht in Bausch und Bogen zu zerreißen, denn es hat mir auch sehr gut gefallen – abgesehen eben vom Ende. Ich könnte mir vorstellen, dass andere Leser und Leserinnen dieses Ende ganz anders empfinden werden – du solltest dich also auf jeden Fall noch einmal daran versuchen.

      Liebe Grüße
      Mara

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