Flut und Boden: Roman einer Familie – Per Leo

Der Untertitel von “Flut und Boden”, dem Buch, mit dem Per Leo vor einigen Monaten zu den Nominierten des Leipziger Buchpreis gehörte, ist ein wenig irreführend. Per Leo, der 1972 in Erlangen geboren wurde, legt nämlich im engeren Sinne keinen Roman vor, sondern viel mehr ein Stück Autobiographie. “Flut und Boden” ist ein Stück seiner eigenen Geschichte, ein Stück Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Wirren des 20. Jahrhunderts.

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“Noch immer steht sein Bild am schwarzen Himmel. Doch allmählich wird es schwächer. Noch immer sind in meinem Kopf nur Wörter. Aber sie tönen nicht mehr so schrill. Sie stehen herum wie Bruchstücke eines Textes, die nur ein langer Kommentar wieder verbinden könnte. Familienwappen, Humanismus, Schiffbau, Villa, Heide, Scholle, Bücher, Blitzkrieg, Sturmbannführer. Da komme ich also her.”

Per Leo erzählt in seinem Roman zwei Geschichten, die seiner Familie und die eigene. Die eigene ist klassisch und schnell erzählt: als Student verliert Per Leo kurzzeitig die Orientierung im Leben, stellt sich die Sinnfrage, die sich wahrscheinlich viele junge Menschen stellen. In Freiburg, der Stadt, in der er studiert, sucht er die psychosoziale Beratungsstelle auf – geholfen wird ihm dort nicht, die Mitarbeiterin nimmt ihn nicht einmal wirklich ernst. Erst als er seinen verstorbenen Großvater erwähnt, dessen Vergangenheit er erforscht, wird die Frau hellhörig. Per Leo ist plötzlich nicht mehr nur ein verwöhnter Student, sondern auch ein Nazi-Enkel. Der Vergangenheit seines Großvaters ist er durch Zufall auf die Spur gekommen. Die Nazivergangenheit von Friedrich Leo war in der Familie ein offenes Geheimnis, ein Geheimnis, über das lieber geschwiegen wurde. Zeugnisse dieser Vergangenheit findet Per Leo nicht in einer verstaubten Kiste auf dem Dachboden, sondern im großelterlichen Bücherregal, an einer Stelle auch als Giftschrank bezeichnet.

“Natürlich wusste ich, dass Großvater ein Nazi gewesen war. Und ich wusste es nicht. Warum hatte mich das nie interessiert? Ich studierte Geschichte, ich hielt mich für links. Warum hatte ich meinem Vater, mit dem ich über fast alles stritt, nicht die Daumenschrauben angelegt? Warum hatte ich ihm nicht zugesetzt damit, dass er mit seinem Vater nie ins Gericht gegangen war? Warum hatte ich nie den Vorhang angehoben, der die beiden untersten Fächer des Bücherregals verdeckte?”

Per Leo, der den literarischen Kniff anwendet, nicht nur Autor zu sein, sondern auch der zurückhaltende Erzähler dieses Textes, beschließt, die Vergangenheit zu erforschen. Er erforscht nicht nur die Vergangenheit von Friedrich Leo, der als überzeugter Nationalsozialist Teil der SS gewesen ist, sondern spiegelt dessen Leben mit den Lebensläufen seiner drei Brüder. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf Martin, den ältesten Bruder – er ist neben Friedrich die zweite Hauptfigur dieses Buches. Martin wird Naturwissenschaftler, lebt ein Leben, in dem er für vieles offen und an vielem interessiert ist, nur politisch wird er – im Gegensatz zum Bruder Friedrich – nie aktiv.

“Ich musste erst sein Leben neben das meines Großvaters legen, um festzustellen, dass die beiden für mich zusammengehören wie zwei Hälften eines zerrissenen Bildes.

Exemplarisch an diesen beiden Männern macht Per Leo deutlich, wie unterschiedlich Leben verlaufen konnten in der damaligen Zeit. Die beiden Brüder hätten sich kaum konträrer entwickeln können. Der Autor zeichnet jedoch nicht nur die Lebensläufe nach, sondern setzt diese in ein Verhältnis zu politischen, aber auch zu geistigen, kulturellen oder religiösen Strömungen. Erwähnung finden Rudolf Steiner und Ludwig Klages, neben vielen anderen. Dabei entsteht jedoch keinesfalls ein überladenes Panorama, sondern ganz im Gegenteil: hochspannend und mit viel Gespür für das Detail und einen feinen Witz, geht Per Leo den Lebensströmungen des 20. Jahrhunderts nach.

Per LeoSchauplatz des Romans ist das beschauliche Bremen, dort hat Friedrich Leo in Vegesack ein Haus bewohnt – Orte wie die Weser, die ehemalige Vulkan Werft und das Weserstadion spielen eine wichtige Rolle und finden immer wieder Erwähnung. Es dürfte nicht überraschen, dass die Lektüre des Romans für mich einem Nachhausekommen gleich kam, ich habe viele bekannte Orte wiederentdeckt. Es gelingt ihm, Bremen so einzufangen, dass man beim Lesen glaubt, mit dem Buch in der Hand durch die Straßen wandern zu können. Eine wichtige Rolle in “Flut und Boden” spielt auch die Musik, es sind Nirvana und Tocotronic, die Per Leo auf seiner Reise in die Vergangenheit begleiten.

“Friedrich Leo, so sagt er, sei ein menschenverachtender Despot gewesen, ein Individuum mit vollständig deformierter Psyche, dem die nationalsozialistische Ideologie eine Legitimation geliefert habe, um die eigene Deformation zur Norm zu erklären.”

“Flut und Boden” ist weniger ein Roman einer Familie, als ein autobiographischer Essay. Romanhaft an diesem Buch ist lediglich der Erzählton, denn Per Leo holt weit aus und spannt ein Zeitpanorama, das sich über drei Generationen erstreckt – wie in den besten Familienromanen. Doch er kann genau das, erzählen! Er erzählt mit einer enormen Ernsthaftigkeit, die er jedoch stellenweise selbst mit Ironie und Humor unterläuft. Beispielsweise an der Stelle, an der er einem Kapitel die Überschrift “The making of a Nazienkel” verpasst.

Per Leo legt mit “Flut und Boden” ein konzentriertes Stück Familiengeschichte vor. Der Autor erzählt auf hohem literarischem Niveau und zeichnet dabei ein beeindruckendes Panorama des 20. Jahrhunderts. “Flut und Boden” ist keine einfache Sommerlektüre, doch wer die Mühe auf sich nimmt, die Welt der Leos zu betreten, der wird mit einer spannenden und unheimlich interessanten Lektüre belohnt.

10 Comments

  • Reply
    dasgrauesofa
    May 21, 2014 at 3:46 pm

    Liebe Mara,
    dann war das ja eine ganz besonderslohnende Lektüre für Dich: eine schöner Text und gleichzeitig noch die vielen Erinnerungen an besondere Bremer Orte!
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 25, 2014 at 8:19 am

      Liebe Claudia,

      oh ja! Es habe noch nicht viele Roman gelesen, die in Bremen spielen, so war diese literarische Reise etwas ganz besonderes. Wie der Zufall so will, spielt ein weiterer Teil des Romans in Dresden, dort habe ich während meines Studiums gelebt. “Flut und Boden” war also in der Tat eine ganz persönliche Lektüre für mich.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    macg82
    May 21, 2014 at 6:39 pm

    Hallo Mara, eine sehr schöne Besprechung zu einem Buch welches wohl nicht mehr allzu lange warten muss, bei mir einzuziehen, da ich es schon länger auf dem Merkzettel habe. Ich finde gerade den Aspekt der Verknüpfung von realer Geschichte mit der fiktionalen besonders interessant (hatte ja mit “Tage der Nemesis” vor kurzem etwas ähnliches gelesen). Mal sehen, wie es dann auf mich wirken wird. Liebe Grüße, Marc.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 25, 2014 at 8:22 am

      Hallo Marc,

      ich habe eine Weile gebraucht, bis ich Begriffen habe, dass Per Leo in der Tat seine eigene Geschichte erzählt, was dem Buch eine zusätzlich spannende Komponente gibt – der Untertitel “Roman” ist da etwas irreführend auf den ersten Blick. Ich freue mich auf jeden Fall, dass ich dich neugierig machen konnte und bin schon gespannt auf deine Lektüreeindrücke.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    May 22, 2014 at 2:42 pm

    Liebe Mara,
    eine schöne Rezension wieder mal, besonders gut gefällt mir der (Dein) persönlicher Bezug und die dazugehörende Musik. Thematisch finde ich das Buch zwar interessant, aber
    im Moment habe ich das Gefühl, dass mich andere Themen mehr interessieren.

    Abgesehen davon, dass ich mich mit diesem Thema seit meinem Studium schon so oft beschäftigt habe, dass ich manchmal ehrlich gesagt denke, oh nein,noch so ein Buch.

    Das ist ungerecht – und jedes gute Buch zum Thema hat seine Existenzberechtigung, aber tatsächlich habe ich für mich gedacht, dass wir das Thema doch in den 80ern in diversen Vaterbücher, angefangen mit Bernward Vespers Reise (schon 1977) über Ruth Rehmanns Mann auf der Kanzel, Peter Härtlings Nachgetragener Liebe, Christof Deckels Suchbild bis hin zu Ludwig Haigs Ordnung ist das ganze Leben – Roman meines Vaters schon lang und breit und in vielen Fällen auch sehr beeindruckend abgehandelt haben.

    Und schon wieder bin ich ungerecht, denn natürlich gehöre ich, das vergesse ich leider immer wieder, eben doch einer anderen Generation an, und natürlich sind Bücher wie das von Per Leo auch heute, aus heutiger Sicht von großer Wichtigkeit, einfach, um die Väter und nun inzwischen Großväter besser verstehen zu können.

    Liebe Mara, sorry für den Sermon, aber mal wieder hat eine Deiner Besprechungen bei mir ein paar Assoziationen ausgelöst – und nun hab ich sie einfach hier hin geschrieben…

    Danke auf jeden Fall für Deinen anregenden Text und leibe Grüße, Kai

    P.S.: Habe das Buch von Hanna Krall heitre bekommen und bin schon drin. Das ist die Geschichte von der anderen Seite der Welt des Kalten Krieges, wie wir sie eben nicht so gut kennen

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 25, 2014 at 8:16 am

      Lieber Kai,

      ich kann verstehen, dass man bestimmten Büchern überdrüssig wird. Mir ergeht es manchmal nicht anders und in diesem Fall stimmt es sicherlich, dass die Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit der eigenen Familie kein Thema ist, über das noch nie gesprochen wurde. Ich muss gestehen, dass ich wenig über “Flut und Boden” wusste, bevor ich anfing das Buch zu lesen. Als ich erst einmal drin war, war ich so gefesselt davon, Bremen zu bereisen, dass ich nicht mehr aufhören konnte. Wenn mir im Vorfeld klar gewesen wäre, womit sich dieser Roman beschäftigt, hätte ich das Buch möglicherweise erst einmal zur Seite gelegt und hinten angestellt. Dennoch glaube ich in der Tat, dass Bücher wie dieses ihre Existenzberechtigung haben, auch wenn vieles davon schon einmal dagewesen ist – ich glaube einfach, dass es unheimlich wichtig ist, diese Geschichte und die Wirkung, die diese auf alle späteren Generationen hatte, irgendwie im Kopf zu behalten.

      Vielleicht übermannt dich ja doch noch irgendwann die Lust, denn ich glaube, dass dir gefallen könnte, wie Per Leo erzählt! 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        skyaboveoldblueplace
        May 26, 2014 at 10:03 am

        Liebe Mara,
        nun habe ich mir das Buch auf jeden Fall mal auf meine Liste geschrieben. Genauer gesagt, Du hast es auf meine Liste geschrieben, aber wie gesagt, ob ich es so bald lesen werde…
        Du hast aber natürlich völlig Recht, dass Bücher wie dieses auch und vor allem (das hört sich ganz nach Politikersprech an, gurr) Ihre ganz dringende Existenzberechtigung haben. Ich glaube, ich habe wohl einfach nur meinen ganz persönlichen Überdruss daran ausgedrückt, nicht, weil das Thema nicht wichtig wäre, sondern weil ich im Moment einfach ganz andere Themen habe. Was nicht heißt, dass mich diese Vergangenheit nicht immer wieder aufwühlen kann (s. das erstaunliche Buch von Hanna Krall).
        Liebe Grüße, Kai

  • Reply
    Sonntagsleserin KW #21 – 2014 | buchpost
    May 25, 2014 at 8:28 am

    […] empfiehlt auf Buzzaldrins den Roman Flut und Boden von Per […]

  • Reply
    Die »Sonntagsleserin« – 25. Mai 2014 | Über den Kastanien
    May 25, 2014 at 9:35 am

    […] von »buzzaldrins« schrieb eine Rezension zu Peer Leos Buch »Flut und Boden – Roman einer Familie«. Der Autor beschäftigt sich darin mit der Nazivergangenheit seines Großvaters. Das ist ein Thema, […]

  • Reply
    Liebe im Miniaturformat (3) | Buzzaldrins Bücher
    August 18, 2015 at 3:03 pm

    […] Per Leo – Flut und Boden (31.7) […]

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