Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie – Katherin Dunn

Obwohl der Roman mit dem ungewöhnlichen Titel bereits vor etlichen Jahren erschienen ist, besitzt er auch heute noch erschreckend viel Aktualität und zeichnet in einer bissigen und skurrilen Satire unsere heutige Welt der Schönheitsideale nach. Die Frage nach Normalität und Schönheit steht dabei im Mittelpunkt und lässt sich übertragen auf vieles, das  Teile unsere Gesellschaft heutzutage immer noch bestimmt: sei es der Wunsch, den Körper generalüberholen zu lassen oder die neueste Diät. Die Vorstellung, sich so zu akzeptieren, wie man ist, ist mittlerweile aus der Mode gekommen. Come as you areEs ist sicherlich kein Zufall, dass auch Kurt Cobain zu den prominenten Fans dieses Romans gehörte.

Binewski

“Was dumme Menschen für eine Behinderung halten könnten, ist in Wahrheit ein Riesengeschenk. Was Sie mit Ihrer Stimme geschafft haben, wäre vielleicht nie möglich gewesen, wenn sie normal gewesen wären.”

“Binewskis”, der Roman mit dem schönen Untertitel “Verfall einer radioaktiven Familie”. galt jahrzehntelang als unübersetzbar – zumindest behauptet genau dies der Klappentext. Im Original wurde das Buch bereits 1989 veröffentlicht, doch erst jetzt erscheint es auch auf Deutsch, verantwortlich dafür ist die Übersetzerin Monika Schmalz, die aus einem scheinbar unübersetzbaren Roman einen wahren virtuosen Lesegenuss gemacht hat.

“Arty stupste mich an, und ich meldete  mich zu Wort. ‘Erzähl doch mal von damals, als Mama der Geek war!’, sagte ich, und dann rutschten Arty, Elly und Iphy und Chick neben mich in eine Reihe auf den Boden.”

Katherine Dunn erzählt eine Familiengeschichte, doch die Familie, von der sie erzählt, ist anders, als alle anderen Familien. Den Binewskis gehört ein Wanderzirkus, den Vater Aloysius (von allen Al genannt) von seinem Vater geerbt hat. Seine größte Attraktion ist seine eigene Frau Crystal Lil, die er als Geek engagiert hat – sie beißt Hühnern die Köpfe ab und trinkt deren Blut. Finanziell durchlebt der Zirkus dennoch schwierige Zeiten, ein alter Löwe braucht teure Zahnprothesen und die dickste Frau der Welt verursacht steigende Lebenserhaltungskosten. Doch Al und Crystal Lil haben eine rettende Idee, sie beschließen, sich ihre eigene Freakshow zu züchten: mithilfe von illegalen Drogen, rezeptpflichtigen Medikamenten, Insektiziden und Radioisotopen zeugen sie keine normalen Kinder, sondern Kreaturen. Nicht alle Versuche glücken, die gescheiterten Experimente werden in Formaldehyd eingelegt im Familienmuseum ausgestellt. Es gibt jedoch auch geglückte Versuche, zum Beispiel Arty, der von allen nur Aquaboy genannt wird, weil er mit Schwimmflossen zur Welt kommt. Oder die siamesischen Zwillinge Electra und Iphigenia, deren Körper an der Taille miteinander verbunden sind. Chick hat keine sichtbare Behinderung, dafür aber eine innere Besonderheit: er verfügt über die Fähigkeit der Telekinese.

Erzählt wird der Roman von Olympia, die von allen nur Oly genannt wird und im Gegensatz zu ihren ungewöhnlichen Geschwistern fast schon eine Enttäuschung gewesen ist: Trotz einer ordentlichen Menge Kokain, Amphetaminen und Arsen während der Schwangerschaft, kommt Oly lediglich als kleinwüchsiger Albino auf der Welt, dessen einzige Besonderheit ein wenig bemerkenswerter Buckel ist.

“Das alles war viel zu alltäglich, als dass ich in gleichem Maße hätte vermarktet werden können wie meine Brüder und Schwestern. Immerhin stellten meine Eltern bei mir eine starke Stimme fest und beschlossen, dass aus mir ein geeigneter Ausrufer und Marktschreier für unser Geschäft werden könnte. Ein Albino mit Glatze und Buckel schien die Leute auf den Geschmack bringen zu können für die abseitigen Talente der restlichen Familie.”

Der Roman setzt sich aus zwei Ebenen zusammen: auf der einen Ebene erzählt Olympia die Geschichte ihrer skurrilen Familie, die im Laufe der Jahre immer stärker um ihren ältesten Bruder Arty kreist. Dieser vereint beinahe schon eine religiöse Fangemeinde an Anhängern hinter sich, die seien wollen, wie er: die Arturo-Sekte. Dieser Arturismus geht soweit, dass Fans sich Fingerglieder, Zehen und ganze Körperteile amputieren lassen, um ihrem Idol möglichst nahe sein zu können. Die zweite Ebene des Romans spielt viele Jahre nach den Wanderzirkuszeiten, der sich bereits lange zuvor aufgelöst hat. Oly ist einer Frau auf den Fersen, die ein skurriles Unternehmen betreibt: schöne Frauen werden von ihr verstümmelt und verunstaltet, damit möchte sie erreichen, dass die Frauen – losgelöst von ihrer Attraktivität, ihrer Schönheit – sich selbst entdecken und dadurch zu ihren wahren Talenten finden können.

“Die armen Kröten hinter mir sind verstummt. Ich habe sie besiegt. Sie haben gedacht, sie könnten mich benutzen und beschämen, aber ich gewinne von Natur aus, weil man zu einem echten Freak nicht gemacht werden kann. Ein echter Freak muss geboren werden.”

Die Autorin hat 17 Jahre an diesem Roman gearbeitet, er ist vor 25 Jahren erschienen und doch besitzt er auch heutzutage immer noch eine erschreckende Aktualität. “Bineweskis” ist skurril und grotesk, beinhaltet aber auch einen bitteren Wahrheitskern. Es geht um eine Gesellschaft, die sich im Schönheitswahn befindet, um eine Gesellschaft, in der alle gleich sein wollen und alle gleich aussehen. Es geht um Normalität, um Andersartigkeit. Es geht aber auch um die leichte Beeinflussbarkeit von Menschen, für die die Arturo-Sekte ein erschreckendes Beispiel ist. Gekonnt dreht Katherine Dunn die Verhältnisse in ihrem Roman um, denn im Wanderzirkus der Binewskis möchte niemand normal sein. Normalität ist langweilig und gewöhnlich, die Menschen möchten verstümmelte, verunstaltete Kreaturen sein.

Katherine Dunn schildert in “Bineweskis” auf eine komische, skurrile und immer wieder aberwitzige Art und Weise den Verfall einer radioaktiven Familie und legt dabei einen Roman vor, der als Satire auf den Schönheitswahn unserer Gesellschaft gelesen werden kann. Der Roman ist dabei gleichzeitig Familienroman, Gesellschaftskritik und Horrorgeschichte. Eine unbedingte und ganz außergewöhnliche Leseempfehlung!

12 Comments

  • Reply
    Claudia Schuster
    June 6, 2014 at 5:53 pm

    Liebe Mara,
    vielen Dank für diese aufschlussreiche Rezension. Ohne sie wäre ich vermutlich nie auf dieses schräge Buch aufmerksam geworden. Das hört sich so freaky an, dass ich es lesen will.
    Liebe Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 8, 2014 at 12:21 pm

      Liebe Claudia,
      klasse! 🙂 Ich freue mich sehr, dass ich dich begeistern konnte. Wenn du es gelesen hast, dann berichte doch bitte!

      Sonnige Grüße
      Mara

  • Reply
    madameflamusse
    June 6, 2014 at 7:02 pm

    Klingt wirklich verrrückt und so als könnte es ein Klassiker werden. Interessante Geschichte auch über das Buch… Dankeschön, Beste Grüße fürs Wochenende

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 8, 2014 at 12:19 pm

      In Amerika war es vor mehr als zwanzig Jahren ein Klassiker und natürlich würde ich dem Buch wünschen, dass es auch hier einen ähnlichen Kultstatus erreicht. 🙂

  • Reply
    masuko13
    June 7, 2014 at 7:22 am

    Das Buch liegt noch auf meinem Stapel “Weiterlesen” – danke fürs Erinnern! Ich glaube, ich mochte daran, dass es so gleichzeitig böse und witzig ist. Außerdem sehr sehr skurril – das hast du nun bestätigt. Schöne Besprechung.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 8, 2014 at 12:18 pm

      Ich danke dir, liebe Masuko! 🙂 Ich kann dich in deinem Wunsch, das Buch weiter zu lesen nur unterstützten, es ist eine faszinierende Lektüre!

  • Reply
    Kathrin
    June 8, 2014 at 8:41 am

    Das klingt nach einer herrlich skurrilen Geschichte – und damit ganz nach meinem Geschmack. Wieder ein Buch mehr auf der Wunschliste 😉

    Aber schon erstaunlich, dass es über zwei Jahrzehnte lang keine Übersetzung gab. Ich muss gestehen, dass ich auch noch nie von dem Buch gehört habe – danke also, dass du uns diesen neu entdeckten literarischen Schatz vorgestellt hast!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 8, 2014 at 12:13 pm

      Liebe Kathrin,

      wie schön, dass ich dich mit meiner Besprechung neugierig machen konnte – die Geschichte ist in der Tat unheimlich skurril und extrem abgedreht. Warum es nun in der Tat so lange gedauert hat, das Buch zu übersetzen, verstehe ich auch nicht wirklich … die Übersetzerin hat auf jeden Fall aber hervorragende Arbeit abgeliefert.

      Sonnige Grüße
      Mara

  • Reply
    [Die Sonntagsleserin] KW #23 – Juni 2014 | Phantásienreisen
    June 8, 2014 at 9:19 am

    […] Kurt Cobain überzeugte, bis vor Kurzem jedoch nicht in deutscher Übersetzung vorlag: “Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie” erzählt von einer surrilen Zirkusfamilie, die sich ihre eigene Freakshow […]

  • Reply
    mbautorin
    June 19, 2014 at 8:52 am

    Habe die ersten Absätze der Rezension gelesen und mir gleich das Buch besorgt. Bis jetzt (bin noch nicht fertig): großartig. Vielen Dank für den Hinweise. Wäre von alleine nie draufgestoßen.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 19, 2014 at 2:54 pm

      Gerne! 😀 Ich freue mich sehr darüber, dass es dir bisher so gut gefällt! Melde dich doch noch mal, wenn du durch bist … 🙂

  • Reply
    Ein Rück-, Aus- und Fernblick | Literatur-O-Meter
    January 5, 2015 at 1:46 pm

    […] Giese hat mich auf Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie von Katherine Dunn hingewiesen. Mit Sicherheit eines der ungewöhnlichsten Bücher, die ich seit […]

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