Das letzte Polaroid – Nina Sahm

Das Leben eines anderen Menschen leben – stellen wir uns das nicht alle manchmal vor? In ein fremdes Leben eintauchen, um das eigene nicht mehr leben zu müssen – wünscht sich das nicht jeder einmal? Nina Sahm lässt dieses Szenario Wirklichkeit werden und erzählt dabei von Freundschaft und davon, wie wichtig es ist, herauszufinden, wer man wirklich ist.

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“Zehn Jahre waren vergangen, seit ich auf den schmalen Wegen rund um unser Ferienhaus die Schritte zum See gezählt hatte.”

Während eines Familienurlaubs am Balaton lernt Anna, die behütet in München aufwächst, die wilde und lebenslustige Kinga kennen. Beide Mädchen sind fast gleich alt, doch es trennen sie Welten. Während Anna das Leben eines Kindes lebt, umsorgt von Eltern, die alles versuchen zu planen und Schlechtes zu verhindern wissen, lebt Kinga ein wildes Leben. Sie hat bereits Brüste und den ersten Sex, beim Kirschkernweitspucken gewinnt sie mit Abstand. Wenige gemeinsame Tage am Balaton genügen, um aus diesen ungleichen Mädchen ein eingeschworenes Team zu machen. Es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft.

“Ich stand auf dem Bahngleis, ein Polaroid von Kinga und ihren Eltern in den Händen, das ich bis zur Abreise zwischen dem fünften und sechsten Band meiner Enzyklopädie versteckt hatte.”

Jahre später erhält Anna die Nachricht, dass Kinga im Koma liegt. Ohne zu zögern, lässt die junge Frau ihr Leben zurück, um an das Krankenbett ihrer Freundin zu reisen. Ihr Leben lebt sie in München, dort macht sie eine Ausbildung zur Bäckerin – es ist ein beschauliches Leben, ohne Partner, Kind und Haustier. Ein Leben, das sie schon lange ohne Mutter führt, die die Familie kurz nach dem Urlaub in Ungarn verließ. Es ist ein Leben, das ihr so eng und erstickend erscheint, dass sie es ohne zu überlegen aufgibt. Doch als Anna in Ungarn ankommt und ein Zimmer im Elternhaus von Kinga bezieht, führt ihr Weg sie zunächst kaum an deren Krankenbett. Stattdessen streift sie das alte Leben Kingas über, wie einen warmen und bequemen Wollpullover. Sie taucht ein in die ihr unbekannte Stadt, nimmt Arbeit in einem Café an und knüpft ein zartes Band zu Kingas Freund, mit dem sie viel Zeit verbringt.

“Es war wie bei den Ritzen zwischen den Steinen, ich musste mich so vorsichtig wie möglich bewegen, um mögliches Unglück, so gut es ging, fernzuhalten.”

Kinga hat ein Leben gelebt, das ganz anders ist, als das von Anna, die als Tochter eines Arztes und einer Architektin in München aufwuchs: wild, lebenslustig, abenteuerlich, fröhlich. All das, macht Anna plötzlich zu ihrem eigenen Leben. Jahrelang hat sie die Polaroids angeschaut, die das Leben Kingas zeigten. Jahrelang las sie die Briefe ihrer Freundin, die so viel zu erzählen hatte, das Anna Freunde erfinden musste, um mit Kinga mithalten zu können. Plötzlich betritt sie ein anderes Leben, als würde sie Teil eines Polaroids werden – sie schummelt sich auf das Foto, drängt sich hinein, macht sich zu einem Teil eines Lebens, das nicht ihr gehört.

“Die Kinga, die ich suchte, steckte sich Pommes in die Ohren und war mir immer einen Schritt voraus. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit einer Kinga, die unter einem weißen Laken lag und mir nicht mehr weiterhelfen konnte, umgehen konnte.”

Nina Sahm erzählt eine Geschichte, die zunächst zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herspringt. Dabei wird nicht nur von einer ganz besonderen Freundschaft erzählt, sondern es entfaltet sich auch ein Panorama zweier Leben, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Der Leser erfährt davon, wie diese seltsame Freundschaft entstand und warum sich beide Mädchen auch zehn Jahre später noch Briefe schrieben. Nina Sahm verzichtet auf Pathos und Tragik, auf große Effekte. “Das letzte Polaroid” ist ein leiser, ein stiller Roman. Anna schleicht in das Leben ihrer Freundin hinein, macht sich das Wissen aus Kingas Briefen zunutze, um deren Freund an sich zu binden und doch ist es schwer, der jungen Frau böse zu sein. Anna hat kein Leben, in dem sie geliebt und geschätzt wird. Ihre Eltern waren vor allen Dingen mit sich selbst beschäftigt. Kingas Eltern schätzen sie, doch Anna kann nicht glauben, dass sie für das geschätzt wird, was sie ist – sie glaubt, etwas darstellen zu müssen, um geliebt zu werden.

“Evà lachte und warf einen Blick auf den Kuchen im Ofen, der langsam aufging und sich nach oben wölbte. In Wirklichkeit hatte meine Entscheidung nichts mit ihr zu tun. Aber ich mochte sie, und es schadete niemandem, wenn ich die Sachen ein wenig verdrehte, im Gegenteil. Vielleicht bedeutete Zuneigung gerade, dass man sich dem anderen zuliebe auch mal verstellen konnte.”

Nina Sahm hat einen Roman geschrieben, der wie ein Polaroid ist. Ein Polaroid fängt einen Moment ein, doch es dauert, bis sich das Bild entwickelt, bis man alles darauf erkennen kann. Man knipst, wedelt, wartet – auch “Das letzte Polaroid” setzt sich Stück für Stück zusammen, bis sich schließlich das ganze Bild entfaltet. Was dann darauf zu sehen ist, handelt von Freundschaft, dem Platz im Leben, den man finden muss und davon, herauszubekommen, wer man eigentlich wirklich ist und sein möchte.

13 Comments

  • Reply
    Susanne Haun
    June 9, 2014 at 11:50 am

    Nein, ich möchte mein eigenes Leben leben.
    Ich wünsche mir kein Zurück sondern nur ein Voran und im Voran immer das Beste geben…..

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 11, 2014 at 4:30 pm

      Liebe Susanne,

      das hast du schön gesagt, so wie dir, geht es sicherlich auch vielen. Dennoch glaube ich, dass dieser Wunsch für kurze Zeit in das Leben eines fremden Mitmenschen eintauchen zu können, schon verlockend sein kann.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Lara
    June 9, 2014 at 4:53 pm

    Danke für diese Buchvorstellung, das Buch wandert sofort auf meine Wunschliste.
    Liebe Grüsse
    Lara

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 11, 2014 at 4:28 pm

      Liebe Lara,

      wie schön, dass ich dich neugierig machen konnte! 🙂 Falls du das Buch wirklich lesen solltest, wäre ich sehr auf deine Meinung gespannt.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Anne
    June 10, 2014 at 6:52 am

    Du hast mir wirklich Lust auf das Buch gemacht. Muss ich mir merken.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 11, 2014 at 4:23 pm

      Freut mich sehr, liebe Anne! Das Buch hat mir wirklich gut gefallen! 🙂

  • Reply
    Nina Sahm im Gespräch! | buzzaldrins Bücher
    June 11, 2014 at 11:40 am

    […] Sahm hat in diesem Frühjahr den lesenswerten Roman “Das letzte Polaroid” vorgelegt – eine Geschichte über Freundschaft und davon, wie wichtig es ist, herauszufinden, […]

  • Reply
    Mariki
    June 12, 2014 at 10:37 am

    Wirklich ein nettes, lesenswertes Buch, fand ich auch! http://buecherwurmloch.wordpress.com/2014/02/25/nina-sahm-das-letzte-polaroid/

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 13, 2014 at 4:33 pm

      Ich glaube sogar, dass ich das Buch ursprünglich bei dir entdeckt hatte, Mariki! 😀 Schön auf jeden Fall, dass wir uns mal einig sind! 😀

      • Reply
        Mariki
        June 15, 2014 at 6:06 pm

        Oh, tatsächlich! Umso cooler 😉

  • Reply
    Karo
    June 12, 2014 at 12:13 pm

    Oooh ja, dieser Roman liegt hier auch noch ungelesen rum – ich dachte, ich spar ihn mir als Urlaubslektüre auf 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 13, 2014 at 4:32 pm

      “Das letzte Polaroid” ist sicherlich eine ganz passende Urlaubslektüre … ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen! 🙂

  • Reply
    Neu im Regal: März im #jdtb16 neue Begeisterung und alte Schätze
    March 31, 2016 at 3:47 pm

    […] mich steht fest, dass ich „Das letzte Polaroid“ lesen muss, seitdem Mara so begeistert darüber berichtete. Für mich steht aber auch fest, dass ich es im Sommer lesen muss, einfach weil das zum Gefühl […]

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