Leben – Karl Ove Knausgård

“Leben” ist der nunmehr vierte Band eines großangelegten autobiographischen Projekts: bereits in den ersten drei Bänden – “Sterben”, “Lieben” und “Spielen” – setzt sich Karl Ove Knausgård immer wieder neu mit seinem Leben, seiner Kindheit und seinen Dämonen auseinander.

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Während Karl Ove Knausgård in “Spielen” noch weit zurückblickte auf seine frühe Kindheit, blickt er in “Leben” auf eine Phase des Übergangs, des Umbruchs. Es ist eine Phase der Veränderung, die er durchläuft, als sein Leben, wie er es zuvor kannte, auseinander bricht. Die Eltern lassen sich scheiden, der Vater zieht zu seiner neuen Freundin, die bald darauf schwanger wird. Karl Ove Knausgård und seine Mutter bleiben zurück, der große Bruder Yngve ist schon lange ausgezogen. Dem Vater, der ihn seine ganze Kindheit lang drangsaliert und gequält hat, begegnet er nur noch selten – die Begegnungen sind häufig angespannt und enden zumeist in heftigen Wutausbrüchen oder Tränen. Bei dem Vater, der sich jahrelang kühl und zurückhaltend gegeben hat, brechen plötzlich alle Dämme: immer häufiger erlebt sein Sohn ihn betrunken, angetrunken oder mit einem Bier in der Hand.

“[…] so war es mit vielen in diesem Haus, in dem ich mit ihr lebte, und so musste es wohl auch sein: Manches wurde gesagt, kommentiert, beurteilt und zu verstehen versucht, anderes wurde verschwiegen, nicht erwähnt, nicht zu verstehen versucht.”

Für Karl Ove Knausgård ist dies eine Zeit, in der er versucht, sich freizustrampeln, sich von den Schrecken der Vergangenheit zu befreien. Auch er selbst greift dabei immer häufiger zum Alkohol, verbringt die Tage und Wochen vor seinem Abitur in einer Art ständigem Vollrausch und manövriert sich dabei von einer peinlichen Situation in die nächste. Für ihn ist der Alkohol eine Selbstmedikation, die ihn von seinen Komplexen und Ängsten befreit, unter denen er vor allen Dingen im Umgang mit Mädchen leidet. Dabei schwankt er ständig zwischen dem Leben im Rausch und dem Wunsch nach Normalität und danach, ein guter und strebsamer Schüler zu sein. Sein Leben driftet immer stärker auseinander, er selbst spaltet sich auf in zwei Persönlichkeiten, die kaum noch miteinander vereinbar sind. Auch nach dem Abitur kann er nicht damit aufhören, zu trinken, zu trinken und zu trinken. Die Schritte, die er hinein geht in das Leben eines Erwachsenen, sind unsicher – ohne Ziel und häufig auch ohne Verstand, regelmäßig gibt er mehr Geld aus, als er eigentlich besitzt. Er beschließt, ein Jahr als Aushilfslehrer in Nordnorwegen zu arbeiten, er ist gerade einmal achtzehn Jahre alt und ohne Ausbildung, doch dort oben in der Einöde werden Lehrkräfte händeringend gesucht.

“Ich! Ein achtzehn Jahre alter Kerl aus Kristiansand, der gerade das Gymnasium beendet hatte, gerade von zu Hause ausgezogen war, ohne jede Erfahrung im Arbeitsleben, außer einigen Abenden und Wochenenden in einer Papierfabrik, ein bisschen Journalismus in der Lokalzeitung und einem soeben beendeten einmonatigen Sommerjob in einem psychiatrischen Krankenhaus, sollte Klassenlehrer an der Schule von Håfjord werden.”

Es ist nicht überraschend, dass Knausgård um Anerkennung und Autorität bei seinen Schülern kämpfen muss. Doch eigentlich möchte er auch gar nicht Lehrer sein, er möchte Schriftsteller werden. Abend für Abend, wenn er nicht unterwegs ist und sich sinnlos betrinkt, sitzt er zu Hause an seiner Schreibmaschine und tippt, tippt, tippt. Immer mit dem vagen Wunsch im Hinterkopf, irgendwann ein berühmter Schriftsteller zu sein.

“Bücher über junge Männer, die sich in der Gesellschaft nicht zurechtfanden und etwas mehr vom Leben wollten als Routine und Familie, kurz gesagt, junge Männer, die Bürgerlichkeit verabscheuten und die Freiheit suchten. Sie reisten, sie betranken sich, sie lasen, und sie träumten von der großen Liebe oder dem großen Roman. Alles, was sie wollten, wollte ich auch.”

Karl Ove Knausgård erweist sich in “Leben” erneut als erbarmungsloser und schonungsloser Chronist des eigenen Lebens. Detailliert und akribisch skizziert er den eigenen Absturz in den Alkohol, der mit einer erschreckenden Parallelität dem des eigenen Vaters folgt. Als ich die erste Seite von “Leben” aufschlug, konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Die Mischung von Knausgårds Lebenserinnerungen, die stellenweise hochnotpeinlich sind (besonders dann, wenn es um Mädchen geht), daneben aber auch voller Traurigkeit und lähmender Angst vor dem Leben stecken, entwickelt einen ungeheuren Lesesog. In dieser Peinlichkeit, in dieser Schonungslosigkeit entwickelt sich eine unglaubliche Kraft, eine faszinierende Macht, die mich beim Lesen vollständig im Griff hatte.

“Das ist es, was man wirklich braucht, ich meine wirklich, ich finde es wichtig, hier Prioritäten zu setzen. Alle legen Wert auf materielle Dinge. Alle wollen neue Jacken, neue Schuhe, neue Autos, neue Häuser, neue Wohnwägen, neue Hütten oder neue Boote. Ich aber nicht. Ich kaufe Bücher und Platten, weil das etwas über das Wesentliche aussagt, darüber, was es heißt, hier auf Erden ein Mensch zu sein. Verstehst du?”

Für mich gehört Karl Ove Knausgård in seinem gleichsam radikalen und schonungslosem Versuch, über sich selbst zu schreiben, um sich und seine Dämonen auf Papier zu bannen, zu den spannendsten Autoren unserer Gegenwart. Um sich selbst so sehr in den Mittelpunkt zurück, dass man beinahe 4000 Seiten über das eigene Ich schreibt, braucht es auf den ersten Blick ein ungeheures Ego und eine große Portion Eitelkeit und Selbstliebe. Doch Karl Ove Knausgård untergräbt dieses Ego auf charmante Art und Weise, in dem er keine Peinlichkeit unerwähnt lässt. Dabei entstanden ist ein faszinierendes Lektüreerlebnis, bei dem ich mich stellenweise fast schon als Voyeur gefühlt habe: Karl Ove Knausgård zieht sich aus, macht sich nackig. “Leben” ist ein Buch der Flüssigkeiten, es geht um Alkohol, Tränen und den männlichen Samen.

Knausgard

 

 

18 Comments

  • Reply
    saetzebirgit
    June 26, 2014 at 11:31 am

    Ich bin durch Espedal nun an diesen norwegischen Favoriten von Dir gestoßen – und hätte so große Lust, diese Bücher zu lesen (aber leider, leider keine Zeit). So lese ich gerne bei Dir Deine begeisterten und begeisternden Besprechungen mit. Danke dafür!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 26, 2014 at 11:34 am

      Wie schade, dass du keine Zeit hast – für mich gehört dieser norwegische Schriftsteller wirklich zu den spannendsten Autoren unserer Zeit. Vielleicht findest du irgendwann doch noch die Ruhe, ihn für dich zu entdecken.
      Espedal liegt hier übrigens noch ungelesen, ich habe mir das Buch vor einiger Zeit gekauft! 🙂

      • Reply
        saetzebirgit
        June 26, 2014 at 11:57 am

        Habs in einem Rutsch durchgelesen – ich finde es großartig. Und den Knausgard – ich überlege es mir. Aber es gibt soviel – die Donna Tartt, auch ein Riesenbrocken, liegt ja auch noch ungelesen rum. Und, und und – das stresst manchmal auch ganz schön 🙂 Ich muss mich, denke ich, auf ein, zwei Literaturregionen konzentrieren 🙂

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          June 29, 2014 at 2:03 pm

          Ich bin schon gespannt auf die Lektüre! 🙂 Es gibt einfach zu viele Bücher und zu viel Lesezeit, da muss man sich wahrscheinlich einfach beschränken, ansonsten besteht die Gefahr, dass man den Spaß verliert. Von Knausgard gibt es übrigens auch ein Buch außerhalb dieses Romanprojekts – “Alles hat seine Zeit” – das mir ausgesprochen gut gefallen hat. Vielleicht wäre das ja auch etwas für dich!

          • saetzebirgit
            June 29, 2014 at 5:01 pm

            Danke…vielleicht schau ich mir erst mal das zum Einstieg an!

  • Reply
    macg82
    June 26, 2014 at 12:52 pm

    Hallo Mara, wieder eine sehr ansprechende Besprechung zu einem der kuriosesten und spannendsten Buchprojekte, die mir in den letzten Jahren unter die Augen gekommen ist. Du machst mir diese Reihe immer schmackhafter, wenn es nur nicht wie bei Birgit wär 🙂 Jedenfalls schwirrt mir dieser Autor mit seinen Büchern schon seit deiner letzten Besprechung im Kopf herum und es wird wohl nicht mehr lange dauern und ich gehe dieses Mammutwerk mal an.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 29, 2014 at 2:06 pm

      Lieber Marc,

      für mich gehört dieses Romanprojekt auch zu den spannendsten literarischen Projekten unserer heutigen Zeit. Es ist ungewöhnlich und faszinierend. Besonders interessant finde ich die Frage, was die Menschen eigentlich so stark zu Knausgard und seinen Romanen hinzieht, den im Grunde beschreibt er ja “lediglich” seinen Alltag und sein Leben, was nun auch nicht so ungewöhnlich gewesen ist. Dennoch wird er ja mittlerweile wie ein Superstar gefeiert – das ist wirklich ein Phänomen für mich, auch wenn ich mich sehr für ihn und seine Bücher freue. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Elena Fernández del Valle
    June 26, 2014 at 1:45 pm

    Spannend, ja – Ich habe nur “Sterben” gelesen, da gibt es zwei hundert Seiten on how Knausgaard and his brother cleaned up the house, a very dirty house, after their father’s death. Never thought such a tale could pack such great dramatic tension.
    I’m sorry I can’t write well in German, I had to go on in English.
    Hertzliche Grüsse aus Mexico!

  • Reply
    Dina
    June 26, 2014 at 3:19 pm

    Wow, du kommst gut voran, liebe Mara! Ich habe gerade Klausbernd “Sterben”, “Lieben” und “Spielen” geschenkt, “Leben” war noch nicht zu kaufen vor 2 Wochen. Werde ich nachholen. Danke für deine tolle Rezension! Karl Ove Knausgård mutiert mehr und mehr zum Superstar, wer hätte das gedacht.
    Liebe Grüße von uns Vier in Cley,
    Dina
    inklusive viele Streicheleinheiten für Bandit! <3

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 29, 2014 at 2:01 pm

      Liebe Dina,
      oh ja, in der Literatur gibt es ja nicht unbedingt so etwas wie Superstars (im Vergleich zur Musik- oder Sportbranche), aber Knausgard wird gerade in der Tat wie ein Superstar gefeiert. Am schlimmsten ist für mich immer die Zeit zwischen den Bänden, denn die abschließenden zwei Bände sind noch nicht auf Deutsch erschienen und der nächste wird frühestens im Frühjahr erscheinen. Die Wartezeit ist immer so lang. Weißt du, ob Knausgard mittlerweile gar nichts mehr schreibt oder ist auf Norwegisch nach “Min kamp” noch mehr von ihm erschienen?

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Klausbernd
    June 26, 2014 at 3:29 pm

    Liebe Mara,
    auch von mir herzlichen Dank für deine Rezension. Ich habe gerade gestern begonnen, Knausgard zu lesen. Ich bin sehr gespannt. Er war vorigen Monate in Norwich zu einer Lesung, leider konnte ich jedoch den Termin nicht wahrnehmen.
    Knausgard wird ja mehr und mehr, zumindest hier in England, als literarischer Superstar gefeiert.
    Mit herzlichen Grüßen von der hochsommerlichen Küste Norfolks
    Klausbernd

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 29, 2014 at 1:59 pm

      Lieber Klausbernd,

      erst einmal: wie schön, dich zu lesen! 🙂 Schade, dass du die Lesung mit ihm verpasst hast – in diesem Jahr ist er so ausgebucht, dass er gar nicht nach Deutschland reisen wird, doch im nächsten Jahr kommt er wahrscheinlich auch hier her. Ich möchte auf jeden Fall eine Lesung von ihm besuchen, selbst wenn ich dafür weiter weg fahren müssen. Auch in Amerika ist Knausgard in den letzten Wochen zu einer Art Superstar aufgestiegen – ich freue mich sehr für ihn, finde das Knausgard-Phänomen aber auch sehr schwer zu begreifen. Irgendetwas fasziniert die Leute (und ja auch mich) einfach an seinen Büchern.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Klausbernd
        July 1, 2014 at 2:33 pm

        Guten Tag, liebe Mara,
        puh, ist es heiß hier und Dina und ich verbrennen dazu noch Gartenabfälle im Garten, was es noch heißer macht.
        Was mich an Knausgard fasziniert, ist die Beschreibung des Alltäglichen. Obwohl ich etwas über 20 Jahre älter als er bin, erinnert er mich an meine Jugend. Oftmals musste ich schmunzeln, wie treffend er die Stimmungen als Jugendlicher beschreibt. Allerdings habe ich erst die ersten 260 Seiten von “Sterben” gelesen. Ich habe gerade wenig Zeit, da ich mit Dina ein Gartenhäuschen baue.
        Ganz liebe Grüße dir vom hochsommerlichen Cley
        Klausbernd
        Gruß von Dina, Siri und Selma

  • Reply
    Dorte
    June 26, 2014 at 5:30 pm

    Hallo Mara,

    vielen Dank für Deinen Beitrag zum vierten Band von Knausgård. Aktuell lese ich den ersten Teil und während der Lektüre stellt sich mir immer wieder die Frage nach den Überschneidungen. Über die Alkoholexzesse des jungen Knausgård erfährt man dort beispielsweise eine Menge, auch über das Verhältnis zum Bruder und die Distanz zum Vater.
    Wie hast Du das empfunden? Wiederholt der Autor sich oder trennt er die Beschreibungen von Band zu Band?

    Liebe Grüße
    Dorte

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 29, 2014 at 1:56 pm

      Liebe Dorte,

      ich freue mich sehr darüber, dass du bei mir vorbeischaust. 🙂 Deine Frage nach Überschneidungen ist interessant, meine Lektüre von “Sterben” ist nun schon etwas her, deshalb kann ich diese Überschneidungen nicht ganz so vergleichen. Ich hatte jedoch nie das Gefühl, dass sich etwas wiederholt oder doppelt – ganz im Gegenteil, es wirkt eher so, als würde sich Knausgard von Buch zu Buch auf unterschiedlichen Wegen und aus unterschiedlichen Perspektiven seinen Lebensthemen nähern. Sein Verhältnis zum Vater spielt auch in “Spielen” eine zentrale Rolle, aber eben dann doch irgendwie auf eine ganz andere Art und Weise als in den anderen Bänden.

      Wie gefällt dir denn “Sterben” bisher?

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Literarischer Superstar | buzzaldrins Bücher
    July 5, 2014 at 2:15 pm

    […] auch da. Es ist das ungewöhnliche Romanprojekt “Min kamp” (Sterben, Lieben, Spielen, Leben), das ihn plötzlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses katapultiert […]

  • Reply
    Ein Jahr in Büchern - Buzzaldrins Bücher
    December 21, 2014 at 2:52 pm

    […] Karl Ove Knausgård – Leben […]

  • Reply
    Träumen - Karl Ove Knausgård | Buzzaldrins Bücher
    January 25, 2016 at 7:30 am

    […] Band von Karl Ove Knausgårds autobiographischem Projekt Min Kamp – zuvor sind bereits Leben, Spielen, Lieben und Sterben erschienen. In Träumen schreibt Karl Ove Knausgård mit großer […]

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