Wunderlich fährt nach Norden – Marion Brasch

Eigentlich ist Wunderlich ein Mann im besten Alter und doch läuft gerade fast alles in seinem Leben schief. Als er dann auch noch von seiner großen Liebe Marie verlassen wird, entschließt er sich zu einem radikalen Schritt: er lässt allen Kummer hinter sich und reist einfach drauflos. Richtung Norden ist das einzige Ziel, das er hat.

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“Wunderlich war der unglücklichste Mensch, den er kannte. Er kannte zwar nicht viele Menschen, doch was spielt das für eine Rolle, wenn das Unglück größer ist als man selbst.”

Wunderlich, so heißt der Held des neuen Romans von Marion Brasch. Der Name kommt nicht von ungefähr, denn Wunderlich ist genauso kauzig und sonderbar, wie man sich wohl jemanden vorstellen würde, der diesen Namen trägt. Sein bisheriger Lebensweg war vor allem kurvig – selten lief etwas so, wie er es geplant hatte. Eigentlich wollte Wunderlich Bildhauer werden, doch diesen Traum musste er aufgrund einer chronischen Sehnenscheidenentzündung begraben. Die Beziehung zu seiner Jugendliebe ist irgendwann abgestorben, ohne Erklärung – wie ein Ast, der von einem Baum bricht. Den gemeinsamen Sohn hat er seit Jahren nicht besucht. Zu allem Überfluss hat sich nun auch noch sein größtes Glück in sein größtes Unglück verwandelt – Marie hat ihn einfach verlassen.

Im Moment der allergrößten Verzweiflung, alleine und verlassen auf dem Dach seines Wohnhauses sitzend, erhält Wunderlich ungewöhnlichen Beistand: sein Handy spricht zu ihm. Oder vielmehr: es schreibt ihm Kurznachrichten. Die erste Nachricht lautet: “Guck nach vorn”. Der Absender gibt sich nicht zu erkennen, auf dem Handydisplay steht lediglich Anonym – doch er schickt Wunderlich Nachrichten. Manchmal antwortet Anonym auf Fragen, die sich Wunderlich stellt, manchmal wirft er einen Blick in die Zukunft, erzählt Wunderlich wie das Leben von Menschen, denen er begegnet, in Zukunft verlaufen wird. Manchmal blickt er zurück in die Vergangenheit. Eines ist klar: Anonym weiß ziemlich gut Bescheid, über das Leben von Wunderlich, aber auch über das Leben an sich.

“Vielleicht habe ich einen Nervenzusammenbruch, dachte er. Oder ich werde wahnsinnig. Andere hören Stimmen, ich lese eben Kurznachrichten.”

Anonym empfiehlt dem bekümmerten Wunderlich eine Luftveränderung, eine kurze Reise, um sich von Kummer und Sorgen zu befreien. Wunderlich begibt sich auf eine wunderlich verwunschene Reise, er fährt ohne Plan und Ziel los, einzig, dass es Richtung Norden gehen soll, steht fest. Dirigiert von Anonym erlebt er allerhand Skurriles: Züge, die an stillgelegten Bahnhöfen halten. Bäume, an denen ein bläuliches Harz klebt, das nicht nur Wunden heilen soll, sondern auch das Gedächtnis auslöschen kann. Wie praktisch, wenn man gerade unter Liebeskummer leidet. Auf dieser Reise trifft er auch auf allerhand seltsame Gestalten, auf Menschen, die ähnlich gescheitert sind am Leben, wie er selbst. Auf Menschen, die scheinbar nur er sehen kann, aber niemand sonst und auf Menschen, die genauso plötzlich auftauchen, wie sie wieder verschwunden sind.

“[…] außerdem wollte er nichts von dem vergessen, was er erlebt habe, das Gute nicht und das Schlechte auch nicht, und man sei ja die Summe seiner Teile, also auch seiner Erfahrungen, und wenn man sich plötzlich an die blöden oder schlimmen oder traurigen Sachen nicht mehr erinnern könne, wäre man doch auch nur halb und könne sich gleich begraben lassen, weil man dann ja auch nicht mehr in der Lage sei, den Schmerz von anderen zu verstehen.”

Die Begegnungen werden begleitet von vielen anonymen Kurznachrichten, durch die Wunderlich einen Einblick in das Schicksal dieser Menschen erhält. Und plötzlich fängt er an, sich Fragen über das Leben zu stellen: über das Schicksal, über das Zerplatzen von Träumen, über Sorgen (“Ein großer Teil der Sorgen besteht aus unbegründeter Furcht […]”) und über den eigenen Schatten, über den man immer wieder springen muss, um nicht stehen zu bleiben. Zum ersten Mal kommt ihm der Gedanke, dass ein zerplatzter Traum auch immer eine neue Chance beinhalten kann – so lange man nicht aufhört, nach vorne zu gucken. So lange man nicht aufhört, zu leben. Aus dem zaudernden und zaghaften Wunderlich wird plötzlich ein mutiger Abenteurer, der sich Dinge traut, die er sich nie hätte vorstellen können.

“So ist das Leben, dachte Wunderlich. Und er fragte sich, warum er auf seiner Reise eigentlich immer nur verlorene Seelen traf und nie jemanden, der glücklich war. Doch was wusste er schon vom Glück oder Unglück der anderen.”

Marion Brasch legt mit “Wunderlich fährt nach Norden” einen beinahe märchenhaften Roman voller Leerstellen und Lücken vor. Sie deutet an, macht feine und leise Pinselstriche, doch die Zusammenhänge muss der Leser sich häufig selbst erschließen. Das, was offen bleibt, muss vom Leser selbst gefüllt werden – oder auch nicht. So entsteht ein herrlich doppelbödiges Leseerlebnis: der Roman kommt als positiver Stimmungsaufheller, als sommerliche und lockerleichte Lektüre daher, die jedoch niemals Gefahr läuft in die Trivialität abzugleiten. Unter dieser Oberfläche verbergen sich jedoch allerlei lebensphilosophische Weisheiten, viel Tiefgründigkeit und eine Menge Stoff zum Nachdenken. “Wunderlich fährt nach Norden” ist für mich ein wunderschönes Sommerbuch – mit ganz viel  Tiefgang.

13 Comments

  • Reply
    Andrea Strickliesel
    August 3, 2014 at 4:33 pm

    Wunderlich fährt nach Norden, steht schon auf meiner Liste! Schön wie du es beschrieben hast.
    Ich kenne Marion Brasch als Moderatorin von Radio eins und da höre ich sie schon so gerne. Weshalb ich mich gleich doppelt auf das Buch freue.
    Liebe Grüße
    Andrea

    • Reply
      Mara
      August 4, 2014 at 1:52 pm

      Liebe Andrea,
      für mich war es die erste Lektüre von Marion Brasch. Ihren Debütroman habe ich immer noch nicht gelesen, dabei steht er schon so lange ungelesen im Regal. Ich hole das nun aber auf jeden Fall nach!
      Auf das Buch freuen kannst du dich in jedem Fall, dir steht eine tolle Lektüre bevor! 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    madameflamusse
    August 6, 2014 at 6:53 pm

    Huch kaum ist man mal ne Weile weg aus dem Netz sieht es überall ganz anders aus…
    Ich muß ja sagen so einen nächsten Roman von Frau Brasch hätte ich nicht erwartet.
    Herzensgrüße <3

    • Reply
      Mara
      August 8, 2014 at 5:36 pm

      Ich hoffe, es gefällt! 🙂
      Hast du das Debüt von Marion Brasch gelesen? bei mir steht es ja noch ungelesen – dieses hier hat mir aber wirklich gut gefallen und ich kann es dir nur empfehlen.

      • Reply
        madameflamusse
        August 8, 2014 at 6:06 pm

        http://reingelesen.wordpress.com/2013/03/10/ab-jetzt-ist-ruh-von-marion-brasch/
        Ich fands gut – und dieses hier scheint was ganz anderes zu sein 🙂
        Bald kommt Frau Rennefanz zu uns in die Stadt – das ist wirklich ein Grund zu einer Lesung zu gehen. Ich freu mich schon, Sie hat Eisenkinder geschrieben. Ich habs ja mit Büchern zum Osten.
        Schönes Wochenende Dir

        • Reply
          Mara
          August 9, 2014 at 9:10 am

          Danke für den Link, da gucke ich gleich mal rein! 🙂 “Wunderlich fährt nach Norden” scheint in der Tat ganz anders zu sein, etwas lockerer, leichter und dennoch nicht trivial. Mit den Themen ihres ersten Romans hat dieser hier aber nicht mehr viel gemein …
          Bei der Lesung von Frau Rennefanz wünsche ich dir ganz viel Vergnügen – das wird sicherlich toll werden! 🙂

          • madameflamusse
            August 9, 2014 at 9:57 am

            Danke, muß mir vorher undbedingt noch das Buch kaufen damit ich mir nen Autogramm holen kann 🙂

  • Reply
    Christoph
    August 8, 2014 at 12:21 pm

    Ich hab mir das Buch heute zugelegt und bin schon sehr gespannt aufs Lesen…

    • Reply
      Mara
      August 8, 2014 at 5:30 pm

      Dann bin ich schon ganz gespannt darauf, wie es dir gefallen wird … berichte doch bitte! 😀

  • Reply
    braschen
    August 20, 2014 at 1:37 am

    Danke für die schöne Rezension…

    • Reply
      Mara
      August 20, 2014 at 6:04 pm

      Gerne, danke für das schöne Buch, das ich sehr gerne gelesen habe! 🙂 Über Ihren Besuch freue ich mich sehr!

  • Reply
    Liebe im Miniaturformat (3) | Buzzaldrins Bücher
    August 16, 2015 at 7:16 am

    […] Marion Brasch – Wunderlich fährt nach Norden (23.7.) […]

  • Reply
    [Rezension]: Marion Brasch – Wunderlich fährt nach Norden – Lesen macht glücklich
    May 4, 2016 at 3:48 am

    […] – Litetaturen – Lesevergnügen – Sounds&Books – Lottas Bücher – buzzaldrins – […]

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