Falsche Papiere – Valeria Luiselli

Valeria Luiselli ist gerade einmal 31 Jahre alt, legte in diesem Frühjahr aber bereits ihr zweites Buch vor. Für ihr Romandebüt Die Schwerelosen war sie von der Kritik hochgelobt worden, mit “Falsche Papiere” erscheint von der Autorin, die auch als Journalistin, Dozentin und Lektorin arbeitet, nun ein Essayband. Und was für einer: poetisch, elegant und angereichert mit vielen spannenden und interessanten Gedanken.

Luiselli

“Falsche Papiere” versammelt zehn Essays, die allesamt um das Thema Bewegung kreisen: es wird gereist, geradelt, flaniert. Valeria Luiselli reist nicht nur durch die reale Welt, sondern auch durch die Welt der Literatur, die Welt der Gedanken. Sie reist zur Friedhofsinsel San Michele, um das Grab von Joseph Brodsky zu suchen, sie fährt mit ihrem Fahrrad quer durch Mexiko-Stadt, flaniert durch die Straßen – immer den Flüssen folgend. Die Gedanken treiben dabei in alle möglichen Richtungen, immer wieder landet sie bei der Literatur, bei der Sprache, bei der Welt der Bücher.

Ein Grab auf einem Friedhof zu suchen ist wie die Suche nach einem unbekannten Gesicht in einer Menschenmenge. Beides generiert in uns dieselbe Art zu sehen und zu sein: Aus einer bestimmten Entfernung könnte jede Person diejenige sein, die uns erwartet; jedes Grab dasjenige, welches wir suchen. Um auf die eine oder das andere zu stoßen, sollte man gemächlich zwischen den Menschen und den Mausoleen umherschlendern und mit aller Geduld auf diese Begegnung warten.

Alle Essays beginnen mit einem Grundgedanken, von dem ausgehend, Valeria Luiselli damit beginnt über ganz unterschiedliche Dinge zu sinnieren – Gedanke für Gedanke wächst eine Art Verästelung des Denkens heran, die in immer neue Richtungen weiter wächst. In ihrem ersten Essay, der sie auf die Friedhofsinsel San Michele führt, denkt sie über Joseph Brodsksys Biographie nach, denkt weiter nach über Ezra Pound und Igor Stravinsky, stellt Beninmregeln auf für den Besuch eines Grabes und denkt darüber nach, wie anders man sich selbst in einem Spiegel eines Hotelzimmers wahrnimmt – der Essay schließt mit der Begegnung einer skurrilen alten Dame. Zwischendurch fließen immer wieder Zitate von Brodsky in den Text ein.

Wenn wir eine Sprache nur halb verstehen, füllt die Vorstellungskraft den Sinn eines Wortes, eines Satzes oder Absatzes auf – wie in jenen Malheften, in denen es nur Punkte gab, die wir als Kinder mit einem Bleitstift verbinden mussten, um das Bild als Ganzes zu entdecken. Ich verstehe nicht Portugiesisch, oder ich verstehe es nur so lückenhaft wie jeder, der Spanisch spricht. Sage ich “saudade”, wie es immer so sein, als füllte ich die Lücken zwischen den fremden Punkten.

Auf genau diese Art und Weise nähert sich Valeria Luiselli auch den anderen Themen ihrer Essays: sei es die Kartographie Mexikos, das Eigenleben von Büchern oder die Herkunft des Begriffs saudade. Die junge Autorin lässt sich gedanklich treiben, reist von einem Gedanken zum nächsten. Erwähnung finden auch immer wieder ihre großen Vorbilder: Rousseau, Walser, Baudelaire, Kracauer und Benjamin.

Aus allen Essays spricht eine ungeheure Phantasie, eine ungeheure Lust an Sprache, an Literatur, an Wörtern und ein ungeheurer Spaß am Denken. Valeria Luiselli möchte ihren Blick nicht auf das richten, was sowieso jeder sieht, sondern auf das, was übersehen wird: auf die Lücken, die Leerstellen, auf abgerissene Häuser, leerstehende Straßenzüge und verlassene Kreuzungen. In Mexiko wurden diese urbanen Reste auf den Namen relingo getauft – diese Orte des Nichts, sind im übertragenen Sinne auch die Orte, an denen sich die Schriftsteller aufhalten: “Für die Prosa braucht es die Mentalität eines Maurers.”

Vermutlich ist ein Mensch nur in zwei Räumen wirklich zu Hause: im Haus der Kindheit und im Grab. Alle anderen Orte, die wir bewohnen sind bloß graue Fortsetzungen dieser ersten Wohnung.

Nach dem Lesen von Valeria Luisellis Essays müsste man diesen beiden Räumen noch einen dritten hinzufügen: die Literatur. Literatur, die man nicht nur liest, sondern Literatur, die Orte schafft, die ein Zuhause schafft, einen Raum, in dem man sich zu Hause fühlen kann. “Falsche Papiere” ist vielleicht weniger ein Essayband, als ein Band voller Gedankenreisen – phantasievoll, poetisch, spannend.

16 Comments

  • Reply
    dasgrauesofa
    August 8, 2014 at 6:29 pm

    Ha, es klappt wieder so mit dem Kommentieren! Ohne tausendunddrei notwendige Angaben. Und das Outfit Deines Blogs ist auch wieder ein bisschen anders. Gefällt mir auch gut. – Du machst ja wieder richtig neugierig auf die Gedankenreisen Luisellis, obwohl ich mit dem Zitat über die zwei Räume so – ohne natürlich den weiteren Kontext zu kennen – nicht ganz einverstanden bin. Vom letzten Jahr stehen noch die “Schwerelosen” hier, auch noch ein Buch, das dringend gelesen werden möchte. Es ist eines von den Büchern, das sich irgendwie immer unter den anderen neuen versteckt hat (wie Perlmans “Tonspuren”). Wahrscheinlich wandert es nun, nach Deiner Besprechung, im Stapel wieder etwas nach oben, jedoch fürchte ich die nächste Woche..
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      Mara
      August 9, 2014 at 9:06 am

      Liebe Claudia,

      nach euren Hinweisen, habe ich das natürlich gleich versucht umzustellen – nun scheint es für alle besser zu klappen, ohne den nervigen Umweg über das Formular. Am Outfit habe ich gestern noch geschraubt, ich freue mich, dass es dir gefällt! 🙂
      Viele Gedanken von Valeria Luiselli regen auch zu Widerspruch an, zu Nachfragen, dazu, zurückzublättern und Sätze noch einmal zu lesen – dies habe ich auch als Stärke der Essays empfunden. “Die Schwerelosen” habe ich bereits vor einem Jahr gelesen; sehr gerne damals. Genauso wie die “Tonspuren”, die du unbedingt lesen solltest.
      Aber für uns steht ab nächster Woche wahrscheinlich erst einmal anderes auf dem Programm … 😉

  • Reply
    Greta
    August 8, 2014 at 6:57 pm

    Oh, Essays – danke für diese spannende Besprechung! Nachdem ich Anne Fadiman gelesen habe, suche ich nach weiteren Essaybänden, die auch so klug und vergnüglich sind. Liebe Grüße Greta

    • Reply
      Mara
      August 9, 2014 at 9:03 am

      Liebe Greta,

      danke für die schöne Rückmeldung, darüber freue ich mich sehr! 🙂 Von Anne Fadiman gibt es einen Essayband über das Lesen, oder? Den habe ich – glaube ich – vor ganz vielen Jahren mal gelesen, aber auch heute immer noch sehr positiv in Erinnerung.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Greta
        August 9, 2014 at 8:25 pm

        Liebe Mara, ja, es gibt von ihr einen Band Essays über das Lesen – ganz toll – und noch einen Band mit gemischten Themen, der mir auch gut gefallen hat. Liebe Grüße! Greta

        • Reply
          Mara
          August 12, 2014 at 4:43 pm

          Ach, den Band mit gemischten Themen, den kenne ich – glaube ich – noch gar nicht! Muss ich mir gleich mal auf meiner Endloswunschliste notieren! 🙂

  • Reply
    buecherliebhaberin
    August 8, 2014 at 8:41 pm

    Ich gestehe, dass ich mich mit diesem Band sehr schwer getan und es auch nach kurzer Lektüre weggelegt habe. Ich nehms mal mit in meine Lateinamerikaliste auf 😉

    • Reply
      Mara
      August 9, 2014 at 9:02 am

      Lieber Bücherliebhaberin,

      und ich gestehe, dass Valeria Luiselli in der Tat eine besondere Stimme hat, die man wahrscheinlich mögen muss – ich mag sie sehr gerne, bereits ihr Roman hat mich beeindruckt.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    dj7o9
    August 9, 2014 at 7:33 am

    Klingt sehr spannend ! Das wird auf die Leseliste wandern denke ich 🙂

    • Reply
      Mara
      August 9, 2014 at 9:01 am

      Darüber freue ich mich sehr! 🙂 Valeria Luiselli hat eine ganz besondere Stimme, die ich aber sehr gerne mag – bereits “Die Schwerelosen”, das ich dir auch nur empfehlen kann, hat mir sehr gut gefallen!

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    August 11, 2014 at 3:11 pm

    Liebe Mara,
    der Essay ist eine literarische Gattung, die für mich nur lesbar ist, wenn jemand das Metier wirklich beherrscht, sprich Themen, die auf den ersten Blick auch in eine trockene Abhandlung münden könnten literarisch, vielleicht sogar poetisch und spannungsreich darzustellen.
    John Berger war so einer, Susan Sontag und im deutschen fällt mir eigentlich eigentlich bloss HME.
    Umso schöner, dass Du hier einen Essayband vorstellst, der anscheinend Einers dieser raren Exemplare ist. Kommt auf die Leseliste.
    Vielen Dank dafür und liebe Grüsse
    Kai

    • Reply
      Mara
      August 12, 2014 at 4:22 pm

      Lieber Kai,

      deine Anmerkung zu Essays finde ich sehr spannend und kann deinen Worten – glaube ich – nur zustimmen. Leider habe ich bisher viel zu wenig Essaybände gelesen, um mir wirklich ein Urteil erlauben zu können. Susan Sontag und auch John Berger stehen beide auf meiner Leseliste, doch bisher habe ich noch nichts von ihnen gelesen. Vielleicht sollte sich das mal änder, oder? 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        skyaboveoldblueplace
        August 13, 2014 at 2:19 pm

        Liebe Mara,

        ja, ich glaube schon. Das ist für den Leser eine zuweilen recht herausfordernde und Neugier fördernde Literaturgattung und ich vermute, dass könnte Dir Spass machen.

        Von John Berger bietet sich als Einstieg der Band ‘Begegnungen und Abschiede – Über Bilder und Menschen’ an, dann ist da der Band, mit dem er sich als Essayist (soweit ich das richtig mitverfolgt habe, das kann aber auch ‘Das Leb4n der Bilder oder die Kunst des Sehens’ gewesen sein) zuerst einen Namen gemacht hat, nämlich ‘-Das sichtbare und das Verborgene’ (Wahrnehmungen von Bildern, Menschen Landschaften und Städten) – und als Einstieg in seine essayistische Prosa der wunderbare Bändchen ‘Mann und Frau, unter einem Pflaumenbaum stehen’ ( “29 Porträts erzählen von Begegnungen und Freundschaften, von Reise, Verwandlung und Tod.” – zitiert aus dem Klappentext).

        Berger schriebt sehr bildhaft, sein Thema ist, wie man schon aus den Titeln entnehmen kann, das Sehen allgemein, das Sehen der Welt und insbesondere das Betrachten der Bilder grosser bildender Künstler.

        Susan Sonntags bekannteste Essaybände sind ‘Über Fotografie’, ‘Krankheit als Metapher / Aids und seine Metaphern’, Kunst und Antikunst’ und, quasi als Weiterführung des Bandes ‘Über Fotografie’ der Band ‘Das Leiden der anderen betrachten’, der, ausgehend von Robert Capris Bild des Soldaten im spanischen Bürgerkrieg (in dem Moment, in dem er von der tödlichen Kugel getroffen wird) sich eigehend mit Kriegsfotografie beschäftigt.

        Sorry für diesen Wortschwall, aber mit den Essays hast Du bei mir einen Nerv getroffen und ich kann nicht an mich halten…

        Liebe Grüsse
        Kai

        • Reply
          Mara
          August 16, 2014 at 9:25 am

          Lieber Kai,

          ich danke dir sehr für all die Lektüreempfehlungen! 🙂 Alle erwähnten Bücher kommen auf meine exorbitant lange Wunschliste. Von John Berger habe ich übrigens erst vor wenigen Tagen ein neues Buch im Buchhandel entdeckt, das auch recht spannend klingt, in “Vom Wunder des Sehens” erzählt er von zwei Augenoperationen, die er zur selben Zeit machen lassen musste.

          Auf Susan Sontag bin ich auch schon so lange gespannt, bisher kenne ich nur den Text ihres Sohnes, den er nach ihrem Tod veröffentlicht hat.

          Danke für deine Empfehlungen, ich werde berichten, wofür ich mich entschieden habe und von meinen Leseeindrücken erzählen! 🙂

          Liebe Grüße
          Mara

          • skyaboveoldblueplace
            August 17, 2014 at 1:46 pm

            Liebe Mara,
            da bin ich schon sehr gespannt…
            Liebe Grüsse
            Kai

  • Reply
    Gesehen, gelesen, gehört… im August | gretaunddasleben
    August 31, 2014 at 6:51 am

    […] Papiere”: Eine Besprechung dieses Buches bei Buzzaldrins Büchern hat mich neugierig gemacht. Und die Essays von Valeria Luiselli haben auch mir großes […]

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