Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr – Franz Friedrich

Franz Friedrich legt mit Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr einen komplexen und seltsam verstörenden Debütroman vor, in dem er eine Geschichte erzählt, die nicht nur mehrere Jahrzehnte umspannt, sondern auch den ganzen europäischen Kontinent. Im Zentrum des Romans steht ein unscheinbarer Singvogel und das Rätsel um dessen Verstummen.

franz friedrich

Franz Friedrich steht mit seinem Roman nicht nur auf der diesjährigen Longlist, sondern ist auch noch einer der jüngsten Teilnehmer dieses Jahrgangs. Seinem Roman merkt man jedoch an keiner Stelle an, dass es sich dabei um einen Debütroman handelt: hochkomplex erzählt Franz Friedrich mit leichter Hand eine Geschichte, die in einer Welt spielt, die nicht mehr die unsere ist. Der Autor verschränkt dabei mit großem Einfallsreichtum unterschiedliche Zeit- und Handlungsebenen.

Er stand hinter dem Projektor im Kabuff, der Vorführkabine des kleinen Kinos im Keller des Instituts. Es war mitten in der Nacht, und er war allein. Staub auf den Armaturen, der Geruch von eingetrocknetem Bier und ein gebündeltes Licht, das seine Hand, wenn er sie gegen den Strahl erhob, wie ein Feuer wärmte. Er hatte keine Ahnung von dem, was er hier tat, und mit dem Einsetzen des Ratterns wurde er von einer Aufregung ergriffen, wie ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts, der zum ersten Mal einen Film sah.

Erzählt wird in diesem Roman die Geschichte von drei Menschen, einer Insel und den Lapplandmeisen von Uusimaa, die jahrelang gesungen haben, bis sie dann plötzlich verstummt sind. Die Gründe für dieses Verstummen sind rätselhaft. An der Seite der Dokumentarfilmerin Susanne Sendler erkundet der Leser die finnische Insel. Es ist 1997 und Susanne Sendler ist nach Finnland gereist, um das Leben der Vögel zu dokumentieren. Während ihres Aufenthalts auf der finnischen Insel entsteht der Film Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr – es ist der einzige Naturfilm, den sie je gedreht hat.  Danach verschwindet sie spurlos. Zehn Jahre später begleiten wir die amerikanische Doktorandin Monika durch ein Berlin, das wenig mit der Stadt zu tun hat, die wir heute kennen. Die Welt befindet sich im Umbruch, Amerika hat den Krieg gegen den Irak verloren und amerikanische Schulen müssen schließen, weil die Kommunen sie nicht mehr finanzieren können. Monika hält sich in Deutschland auf, um ihre Doktorarbeit zu schreiben – und lebt damit in dem Land, in dem alle leben wollen. Einen Grund nach Hause zurückzukehren hat sie nicht, es wäre eine Rückkehr in die Armut und Mittellosigkeit. Mitten in Berlin trifft Monika auf einen mysteriösen Chor, der finnische Lieder singt und fühlt sich davon magisch angezogen. Es vergeht ein weiteres Jahrzehnt: 2017 lässt ein junger Vater und Filmemacher seine Familie zurück, nachdem er den Film von Susanne Sendler gesehen hat, um nach Uusimaa zu reisen. Die Meisen auf der Insel haben wieder angefangen zu singen.

Um ein digitales Bild zu erzeugen, musste das aufgenommene Objekt zerstückelt und letztlich ausgelöscht werden, ein Massaker an der Welt. Das analoge Bild hingegen war nichts weiter als ein höflich entnommener Abdruck, Licht gebannt durch Staub und Chemie.

Der Autor entwirft in seinem Roman eine Welt, die von unserer heutigen Welt abgerückt ist. Im Zentrum dieser Welt steht eine Insel, die es in der Realität nicht gibt: Uusimaa. Uusimaa ist eine Insel, die von Franz Friedrich im Bottnischen Meer verortet wird. Eine Insel, auf der Meisen leben, die ganz plötzlich aufgehört haben zu singen. Die Gründe für das Verstummen sind ebenso rätselhaft, wie die Tatsache, dass die verstummten Meisen zwei Jahrzehnte später plötzlich wieder lossingen.

Die Lapplandmeisen von Uusimaa sangen wieder. Vor einundzwanzig Jahren war es in den Brutgebieten still geworden. Von 1996 bis 2017 zwitscherte keine einzige Meise auf der Insel im Bottnischen Meer. Dieses Verstummen ereignete sich ausschließlich auf Uusimaa und an keinem anderen Ort in dem über das nördliche Russland bis nach Alaska reichenden Lebensraum des nordeurasischen Vogels.

Die drei Erzählstränge funktionieren wie drei eigenständige Erzählungen und sind doch auf eine lose Art miteinander verbunden. Der Roman lebt dabei von seiner offenen Form, die viel Spielraum für die eigene Phantasie lässt und wenig erklärt und deutet. Franz Friedrich spielt dabei immer wieder mit der Wirklichkeit, die er verzerrt, verbiegt und in eine neue Form presst. Am augenfälligsten geschieht dies beim Handlungsort des Romans, denn die Insel Uusimaa gibt es in der Realität gar nicht. Doch auch darüber hinaus, schraubt Franz Friedrich an der Welt und entwickelt dabei ein Szenario irgendwo zwischen Sciencefiction und Dystopie. Er erzählt von einer Welt, in der kaum noch Flugzeuge fliegen, weil die Kerosinpreise explodiert sind. Er erzählt von einem Kerneuropa (Kerneuropäische Union), zu dem Deutschland noch nicht gehört. Er erzählt von trojanischen Flaschen, für die man kein Pfandgeld bekommt, sondern Lebensmittelmarken.

Umgeben von Land ist das Wasser, umspült von Wasser ist der Himmel, umfasst von Himmel ist die Sonne, beherrscht von Sonne sind die Menschen, nur die Vögel hält nichts. (Sprichwort der Uusimaaer)

Franz Friedrich erzählt eine Geschichte von Suche und Getriebenheit. Alle seine Figuren werden beinahe schon magisch von der finnischen Insel Uuisimaa angezogen, ohne, dass klar wird, was sie dort suchen oder zu finden hoffen. Vielleicht geht es genau darum: um das Verlassen von gewohnten Pfaden, um Antworten auf Fragen zu finden, die man noch nicht einmal kennt.

 

15 Comments

  • Reply
    jancak
    August 28, 2014 at 3:08 pm

    Da klingt vor allem der Titel sehr spannend, auch ein mir bisher unbekannter Autor, wäre sehr interesant zu lesen, wenn man nicht so eine lange Leseliste hätte und damit schon im Rückstand wäre

    • Reply
      Mara
      August 28, 2014 at 3:12 pm

      Liebe Eva,

      ja, der Titel ist der Tat sehr außergewöhnlich (und auch ungewöhnlich lang).
      Franz Friedrich war mir bisher auch ein unbekannt Autor, sein Debütroman hat mich aber wirklich enorm beeindruckt. Den Druck von langen Leselisten kenne ich übrigens sehr gut, deshalb habe ich eine ganz flexible Liste, die sich immer wieder neu anpassen lässt, falls mir mal Bücher dazwischen kommen. 😉

      Liebe Grüße aus dem sonnigen Göttingen
      Mara

  • Reply
    Tom
    August 28, 2014 at 3:21 pm

    Liebe Mara, herzlichen Dank für Deine Rezi. Ich fürchte, dieses Buch muss ich auch noch lesen…. :-))))

    • Reply
      Mara
      August 28, 2014 at 4:04 pm

      Lieber Tom,

      du solltest den Roman in der Tat unbedingt lesen – ich fand die Lektüre sehr erfrischend, da Franz Friedrich in seinem Roman viel experimentiert und auch wagt. Ich wäre sehr gespannt, wie dir die singenden Meisen gefallen …

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Tom
        August 29, 2014 at 5:58 am

        Ich bin auch gespannt. Buch gestern erworben. 🙂 Nächste Woche weiß ich dann hoffentlich mehr.

        • Reply
          Mara
          August 29, 2014 at 11:49 am

          Dann lass mich unbedingt wissen, wie es dir gefallen hat, Tom! 🙂

          • Tom
            September 5, 2014 at 8:19 pm

            Liebe Mara, ich habe das Buch heute ausgelesen. Nochmals herzlichen Dank Dir, dass Du mich durch Deine Rezension so neugierig auf das Buch gemacht hast. Mich hat diese neue, junge Stimme in der deutschen Literatur sehr beeindruckt. Wie Du schreibst: Der Autor wagt viel. Aber es glückt ihm auch. Ich finde die einzelnen Teile seines Buches atmosphärisch dicht und in sich gelungen. Hinzu kommt, dass er durch die – scheinbare – Nebeneinanderstellung dieser Teile eine Spannung erzeugt, die er nicht einfach irgendwie auflöst, sondern in der Schwebe belässt. So habe ich den Eindruck, in eine Welt geführt zu werden, die mir sehr bekannt ist, die aber trotzdem viele Unbekannte enthält. Eine mögliche Welt hinter der Realität, wie ich sie kenne. Das Motiv der Insel, auf der die Meisen schweigen, ist dabei gleichermaßen phantastisch wie realistisch. Ein Buch, das geheimnisvoll bleibt, ohne dabei unbefriedigend zu sein und auch ohne an irgendeiner Stelle zu dick aufzutragen. Hut ab vor diesem Autor! Für mich ein Buch, das es verdient hätte, auf der Shortlist zu stehen.

            Einziger Wermutstropfen (der den Wert des Romans an sich aber nicht mindert): Das Korrektorat hat bei diesem Roman nicht sehr gut gearbeitet. Mir sind einige Klöpse aufgefallen, obwohl ich bestimmt nicht sehr gründlich gelesen habe. Aber Sternenkarte (statt Sternkarte), Diakonistin (wahrscheinlich statt Diakonisse/Diakonissin), Kirchenturm (statt Kirchturm) oder Fließen (statt Fliesen) sind nicht nötig. Und ein Satz wie ‘Sie weckten die Birken vor dem Fenster’ geht gar nicht. Entweder ‘Sie wurden von den Birken vor dem Fenster geweckt’ oder ‘Die Birken vor dem Fenster weckten sie’. Das sollte der S. Fischer Verlag besser können.

            Ich freue mich schon auf das nächste Buch dieses Autors!

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    August 28, 2014 at 4:57 pm

    Liebe Mara,

    das ist ja schon wieder ganz furchtbar mit Dir!!! Ich habe mir den Titel auf die Liste genommen, mal schaun, wann der dran kommt, aber vergessen will ich ihn auf keinen Fall. Das klingt ja ausgesprochen spannend und lesenswert – und insbesondere Dein letzter Satz hat der ganzen Sache dann den letzten Kick gegeben.. Vielleicht kannst Du in nächster Zeit solche Stelzten Sätze auslassen…

    Liebe Grüsse
    Kai

  • Reply
    mbautorin
    August 28, 2014 at 5:04 pm

    Das klingt wirklich gut. Und nachdem ich schon von deiner Empfehlung der Binewskis und ihrer radioaktiven Familie so begeistert war, werde ich mir das gleich besorgen.

    • Reply
      Mara
      August 29, 2014 at 11:52 am

      Ich freue mich sehr darüber, dass ich dich erneut mit einer Empfehlung anstecken konnte – die Binewskis waren toll, oder? Bei diesem Buch wünsche ich dir ganz viel Lesefreude und wäre schon gespannt darauf, zu erfahren, wie es dir gefällt. 🙂

      • Reply
        Maike
        September 8, 2014 at 12:16 pm

        Hab es gelesen – und nicht bereut. Am besten gefällt mir die Geschichte der Susanne Sendler. Finnland klingt geradezu exotisch und wirklich großartig. Davon hätte ich gern mehr gelesen. Auch der “futuristische” Aspekt hat mir gut gefallen. Insgesamt hätte ich mir aber etwas mehr Geschichte je Erzählperspektie gewünscht. So haftet dem Ganzen für mein Gefühl etwas Episodisches an.
        Die Geschichte der Meisen ist allerdings großartig. Ich schaue unsere Blaumeisen vor dem Küchenfenster seitdem mit ganz neuen Augen an. Bis jetzt singen sie noch.

  • Reply
    caterina
    August 28, 2014 at 6:45 pm

    Dieser Roman ist – an irgendeiner anderen Stelle sprachen wir bereits darüber – einer der wenigen auf der Longlist, die mich tatsächlich interessieren. Zwar wirkt er etwas verkopft und verstiegen, doch irgendetwas reizt mich an ihm, vielleicht ist es auch nur das hervorragende Cover. Dir jedenfalls einen herzlichen Dank für die Rezension, durch die ich dem Buch ein bisschen näher gekommen bin.

    • Reply
      Mara
      August 29, 2014 at 11:51 am

      Gerne, liebe Caterina – der Roman ist in der Tat etwas experimentell, ich finde es aber sehr spannend, dass Franz Friedrich auch mal ungewöhnliche Wege geht – es wird ja schon viel zu oft dieselbe Geschichte erzählt. Ich habe die Lektüre auf jeden Fall sehr genossen und würde mich freuen, wenn es der Roman auf die Shortlist schafft.

  • Reply
    Franz Friedrich im Gespräch! | Buzzaldrins Bücher
    July 19, 2015 at 11:41 am

    […] einmal Glückwunsch dazu, dass du mit deinem Roman „Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreis standst – wie hast du von der Nominierung […]

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    Liebe im Miniaturformat (5) | Buzzaldrins Bücher
    May 6, 2016 at 6:33 am

    […] Friedrich – Die Meisen von Uusima singen nicht mehr (23. […]

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