Kastelau – Charles Lewinsky

Charles Lewinsky hat es mit seinem Roman Kastelau bereits vor Erscheinen auf die Longlist des Deutschen Buchpreis geschafft. Für die Shortlist hat es jedoch leider nicht gereicht. Doch kann man in diesem Fall überhaupt von einem Roman sprechen? Kastelau liest sich wie eine Mischung aus historischem Sachbuch und Tatsachenbericht, angereichert mit einer gehörigen Portion Spannung. Klingt verwunderlich, ist aber verdammt gut.

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Wer sich die Welt als Film ansieht, akzeptiert überraschende Wendungen.

Es ist Winter im Jahr 1944 und die bayrischen Alpen sind noch einer der wenigen friedlichen Orte in Deutschland. Während der Krieg anderswo seinen Höhepunkt erreicht, sucht eine Filmcrew einen Ort, um weitab von Berlin überleben zu können. Die Angst davor, eingezogen zu werden, treibt sie nach Kastelau – mitten hinein in die bayerischen Alpen. Dort wollen sie einen kriegswichtigen Film drehen. Bereits die Anreise nach Kastelau ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden, denn es kommt zu einer fürchterlichen Verwechselung. Weil die Wehrmacht alle Fahrzeuge eingezogen hat, fährt die Filmcrew in bemalten Autos. In sogenannten Dekorationen. Die Bemalung der Autos führt dazu, dass sie fälschlicherweise angegriffen werden. Diesem Angriff fällt ein Großteil der Crew zum Opfer: Drehbuchautor, Regisseur, Produzent, Kameramann und vier Schauspieler bleiben übrig. Einen Tontechniker – wenn auch einen gehörlosen – finden sie für ihren Film zum Glück auch in den Alpen.

Große Zeiten sind ein guter Boden für Geschichten. Die man erst wird schreiben können, wenn die Zeiten wieder klein sind.

Angekommen in Kastelau muss das Drehbuch erst einmal umgeschrieben werden, denn eigentlich fehlt nun das Personal, um überhaupt drehen zu können. Auch das Schloss, das im Film eine wichtige Rolle spielen sollte, gibt es vor Ort gar nicht.  Doch die Filmcrew bleibt. Den kriegswichtigen Film voller Durchhalteparolen, den können sie nicht mehr drehen, doch solange sie so tun, als würden sie etwas drehen, gelten sie als unabkömmlich. Dass es diesen Film eigentlich gar nicht gibt, ist kein Problem: Schauspieler sind im Erfinden geübt. Die Filmcrew tut so, als ob. Als ob sie einen Film drehen würde, als ob dieser Film kriegswichtig sei. Man dreht irgendwelche Szenen im verzweifelten Versuch weit weg vom Krieg überleben zu können. Tagtäglich wird am Drehbuch geschrieben, tagtäglich werden Szenen gedreht – all das, um vor den Dorfbewohnern und dem nationalsozialistischen Bürgermeister den Eindruck zu erwecken, als würde es diesen Film wirklich geben. Im Versuch ihr Leben zu retten, kommt es in den bayrischen Alpen zu allerlei Verwicklungen: von Mord, über Liebe bis zu Verrat ist alles dabei. Im Zentrum all dessen steht der Schauspieler Walter Arnold.

Kastelau. Ich habe den Namen nie vorher gehört. Es soll dort ein altes Schloss geben, für die Innenszenen. Hoffentlich mit einer Halle, die groß genug ist für den Aufmarsch der Soldaten.

Was Kastelau von vielen anderen Romanen über den Zweiten Weltkrieg unterscheidet ist die Erfindungsgabe des Autors und sein faszinierendes Spiel mit Fakten, Fiktion und Authentizität. Charles Lewinsky gibt seinem Roman eine ganz besondere Erzählstruktur, denn er erschafft im Vorspann die Figur Samuel Saunders, Besitzer der Videothek Movies Forever. Im Jahr 2011 wird er von Polizisten erschossen, als er auf dem Hollywood Boulevard in Los Angeles mit einer Spitzhacke versucht den Stern des Schauspielers Arnie Walton zu zerstören. Charles Lewinsky bringt sich  an dieser Stelle selbst ins Spiel: er behauptet, in einem Archiv in der East Melnitz Street, ein Konvolut aus Briefen, Listen, Notizen, Ausdrucken und Tonbändern gefunden zu haben (alles rein fiktiv natürlich). Aus diesem Konvolut hat er im Sinne einer Rekonstruktion einen Text erstellt, darunter befinden sich Tagebuchaufzeichnungen von Drehbuchautor Werner Wagenknecht, ein Interview mit der Schauspielerin Tiziana Adam und immer wieder Aufzeichnungen von Samuel Saunders, in denen er voller Hass über den Schauspieler Arnie Walton schreibt, der vor vielen Jahren noch unter dem Namen Walter Arnold in den bayrischen Alpen einen Film gedreht hat.

Für die Filmequipe war der begehrte Aufenthalt in Kastelau nur so lange gesichert, als sie dort tatsächlich einen Film drehten, oder  da sie den Film aus den erwähnten praktischen Gründen gar nicht drehen konnten – zumindest den Eindruck erweckten, mit Dreharbeiten beschäftigt zu sein.

Der Handlungsort Kastelau ist fiktiv, doch Charles Lewinsky erzählt eine Geschichte, die durch eine scheinbare Authentizität besticht. Der Text besteht aus ganz vielen Fragmenten, aus Ausdrucken und Transkripten, es gibt auch Fußnoten und Hinweise auf Wikipediaartikel. Und doch, auch wenn man es zwischendurch kaum glauben mag: all das ist erfunden. Charles Lewinsky erzählt in all diesen Fragmenten Bruchstücke einer Geschichte, die zu Beginn so schwammig ist, dass sie kaum zu erkennen ist und im Laufe des Romans dann immer deutlicher Kontur annimmt. Das kongeniale Element dieses Romans ist, dass es eigentlich der Leser selbst ist, der aus diesen Fragmenten eine Geschichte macht, der all die Leerstellen und Lücken schließt. Charles Lewinsky liefert das Material, aus dem der Leser sich eine faszinierende Geschichte erfinden kann. Auf den ersten Seiten war ich skeptisch, zu groß erschienen mir die Lücken zwischen den Fragmenten und zu viele Zusammenhänge fehlten mir, doch mit zunehmender Dauer ist die Skepsis einer großen Begeisterung und einer ungeheuren Spannung gewichen.

Ich könnte mich auf dem Grab von Arnie Walton erschießen. Forest Lawn, natürlich, darunter macht er es nicht. Ein Wunder, dass sie ihn nicht auf dem Heldenfriedhof von Arlington beerdigt habe. So ein dramatischer Selbstmord wäre ein passender Abschluss für die Schmierenkomödie seines Lebens.

Charles Lewinsky brilliert in seinem neuen Roman Kastelau als herausragender Erzähler, der mit großer Kunstfertigkeit eine spannende Geschichte erzählt. Doch dieser Roman ist nicht nur spannende Unterhaltung, sondern auch ein beeindruckendes literarisches Experiment und Wagnis. Lewinsky legt keine vorgefertigte und zu Ende erzählte Geschichte vor, sondern führt den Leser an seinen Schreibtisch, auf dem all die Materialen ausgebreitet liegen. Wenn es einem gelingt, beim Lesen den Erzählfaden zu finden, dann erhält man als  Leser die Möglichkeit, diesen selbst zu weben und in eine wunderbare Mischung aus Illusion und Erfindung einzutauchen. Was man dann daraus macht, liegt in der eigenen Fantasie, der eigenen Vorstellungskraft und in den eigenen moralischen Grundsätzen.

15 Comments

  • Reply
    jancak
    September 16, 2014 at 1:10 pm

    Das Buch habe ich auch gerade gelesen, ein Buch und ein Autor von dem ich vorher keine Ahnung hatte und dann ein spannendes Leseerlebnis. Ich kenne mich bezüglich Holocaust und zweiten Weltkrieg relativ gut und habe auch schon sehr viele Bücher darüber gelesen und natürlich noch keinen Roman, der eigentlich keiner ist, sondern eine raffiniert zusammengestellte Recherchesammlung. Das ist sehr spannend, wenn vielleicht am Beginn der Lektüre ein wenig anstrengend und man denkt, das kann nicht funktionieren und es funktioniert.
    Ich habe, das habe ich in meiner Besprechung geschrieben, auch nachgegooglet, ob es den Samuel Saunders nicht doch gibt, spannend also das Spiel mit der Wirklichkeit und der Erfindung und was ich, eine furchbare Spoilerin wahrscheinlich, besonders faszinierend fand, ist die Erzählweise von vorn nach hinten. Da rennt einer mit einer Hacke in Los Angeles herum, dann erklärt C.L. was er angeblich mit dem gefundenen Material gemacht hat und dann wird etwas angedeutet, da war etwas mit dem Sohn des Bäckers, beispielsweise und in der nächsten Sequenz wird das dann genau erklärt und man kommt in die Geschicte hinein. Ich habe jetzt das Gefühl, ich habe noch ein bißchen besser verstanden, was da Ende 1944/ 1945 in der der Nähe von Berchtesgarden passiert ist, obwohl das, was da geschildert wird, ja nur ein kleiner Teil des damaligen Geschehens ist. Man merkt den Filmfachmann und als ich mit dem Buch fast fertig war, habe ich mir “Jud Süß- Verfilmung” von 2010 mit Tobias Moretti angesehen, wo ja auch ein bißchen mit der Wirklichkeit und der Erfindung jongliert wird.

    • Reply
      Mara
      September 20, 2014 at 2:52 pm

      Liebe Eva,

      ich möchte mich ganz herzlich für deinen interessanten Kommentar bedanken, ich bedanke mich so spät, da mich eine Erkrankung lahmgelegt hat. Deinem Kommentar entnehme ich, dass wir diesen Roman ganz ähnlich gelesen haben. Ich mag das Wort Recherchesammlung, genau das ist dieses Buch wohl, aber genau das hat mir auch gut gefallen. Ich glaube, klassisch erzählt, hätte mich diese Geschichte vielleicht nicht ganz so beeindruckt.

      Danke auch für den Hinweis auf die Verfilmung mit Tobias Moretti, die war mir noch nicht bekannt und werde auf jeden Fall mal einen Blick reinwerfen.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    September 17, 2014 at 6:56 am

    Liebe Mara,
    von Charles Lewinsky habe ich noch nie etwas gelesen – aber das hier klingt außergewöhnlich und lesenswert. Wenn ich endlich mit meiner Köhlmeier-Besprechung zu Potte gekommen bin werde ich mich bestimmt mal in der Buchhandlung meines Vertrauens mit ihm bekannt machen.
    Liebe Grüsse
    Kai

    • Reply
      Mara
      September 19, 2014 at 3:02 pm

      Lieber Kai,

      ich habe vor vielen Jahren Charles Lewinskys Roman Melnitz gelesen, der mich damals tief beeindruckt hatte. Vor einiger Zeit habe ich dann Gerron verschlungen, ein Roman, der auch mit Fakten und Fiktion spielt. Ich kann dir das Buch nur ans Herz legen und glaube, dass es dir gefallen könnte … falls es beim nächsten Einkauf in den Beutel springen sollte, dann gib unbedingt Bescheid!

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        skyaboveoldblueplace
        September 20, 2014 at 5:04 pm

        das werd ich tun, liebe Mara! Der Beutel ist übrigens tatsächlich einer, Blau und mit einem Leuchtturm drauf (nun ja, Apothekerwerbungstasche, mal irgendwo aufgegabelt. Ich kann mich nicht davon trennen, auch wenn meine Iris das Ding irgendwie unselig findet…)
        Liebe Grüsse
        Kai

  • Reply
    dasgrauesofa
    September 17, 2014 at 7:35 am

    Ach, Mara, noch ein Buch, dass Du uns als unbedingt lesenswert so überzeugend ans Herz legst. Hmmm. Ein bisschen erinnert mich die Kastelau-Geschichte ja auch an Köhlmeiers “Zwei Herren” – ein bisschen nur. Aber bei Köhlmeier ist es auch ein Leser, der sich durch Notizen, Artikel und Briefe arbeitet, um eine Geschichte zu rekonstruieren, die auch, wie Kastelau, in den Wirren des Krieges spielt (allerdings nicht in Deutschland), die aber auch mit Filmen zu tun hat. Wie bei Kastelau entsteht ja auch bei den “Zwei Herren” beim Leser der Wunsch, “mal schnell” nachzugucken, was denn davon wahr ist, was Fiktion. Das ist doch spannend, dass es zeitgleich so ähnliche Romanprojekte gibt.
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      Mara
      September 19, 2014 at 3:00 pm

      Liebe Claudia,

      die Ähnlichkeiten mit Köhlmeiers Romans sind in der Tat augenfällig, ich finde es sehr spannend, dass es in diesem Jahr zwei ganz ähnliche Roman auf die Longlist geschafft haben, die nicht nur erzählen, sondern auch etwas wagen und experimentieren. Ein bisschen fallen da auch die Meisen von Franz Friedrich rein, der in seinem Roman Authentizität suggeriert, obwohl es die Insel gar nicht gibt, auf der die Meisen leben.
      Auch bei Kastelau habe ich – du beschreibst es ja so schön – immer mal wieder Namen bei Wikipedia eingegeben, nur um feststellen zu müssen, dass das wirklich alles erfunden ist. 😉 Großartig! Von Charles Lewinsky empfehlen könnte ich dir übrigens auch seine beiden Romane Melnitz und Gerron … also, nur falls du mal nicht wissen solltest, was du lesen willst.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    vonsamstag
    September 17, 2014 at 1:47 pm

    Das hört sich ja interessant an, danke für die schöne Rezension! Ich habe vor Kurzem “Melnitz” von Lewinsky gelesen und war begeistert. Die gute Erfahrung und dein Bericht sorgen dafür, dass ich mich auch bald an “Kastelau” heranwage!
    Liebe Grüße
    Hannah

    • Reply
      Mara
      September 18, 2014 at 5:45 pm

      Liebe Hannah,

      Melnitz habe ich auch sehr gerne gelesen, genauso wie Gerron. Kastelau ist eine wirklich sehr lohnende Lektüre, auch wenn Melnitz wohl mein Lieblingsroman von Charles Lewinsky bleiben wird – erst einmal, mal schauen, was da von diesem Autor noch so kommen wird.

      Berichte doch bitte, wenn du dich an die Lektüre wagen solltest! 🙂
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Mina
    September 17, 2014 at 6:43 pm

    Das klingt ja wirklich sehr interessant. Auf die Idee, den Leser quasi mit an den Schreibtisch zu nehmen, statt ihm die Geschichte vorzusetzen, muss man erst einmal haben. Ich werde mir mal die Leseprobe besorgen, da ich jetzt doch recht neugierig bin, was es damit auf sich hat.

    • Reply
      Mara
      September 18, 2014 at 5:44 pm

      Liebe Mina,

      ich fand dieses Experiment auch sehr spannend. Wenn Charles Lewinsky die Geschichte einfach wie eine stinknormale Geschichte erzählt hätte, wäre das sicherlich auch lesenswert gewesen, so erhält das Buch aber ein zusätzliches hochspannendes Element. Ich bin gespannt, wie dir der Blick in die Leseprobe gefallen wird.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Mina
        September 18, 2014 at 8:17 pm

        Liebe Mara,
        ich sitze gerade hier mit der Leseprobe. Das liest sich ja genial an! Ich bin ganz begeistert.
        Danke für den Tipp!
        Mina

  • Reply
    Petra Gust-Kazakos
    September 21, 2014 at 7:49 pm

    Das klingt ja wirklich großartig, liebe Mara! Von Melnitz war ich übrigens auch ganz begeistert. Kastelau kommt auf die Liste : )

    • Reply
      Mara
      September 22, 2014 at 11:19 am

      Liebe Petra,

      es ist auch großartig, wenn auch ganz anders als viele herkömmliche Romane. Melnitz fand ich auch einen tollen Roman, genauso wie Gerron. Charles Lewinsky ist ein unheimlich spannender Schriftsteller und ich würde mich sehr freuen, wenn das Buch den Weg zu dir finden sollte.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Liebe im Miniaturformat (4) | Buzzaldrins Bücher
    December 9, 2015 at 7:16 pm

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