Philipp Blom – Über Sehnsucht, Träume und Geschichten

Bereits letzte Woche hatte ich von einer spannenden neuen Idee des elektrischen Lesens berichtet und seit heute gibt es sie nun, die ersten zehn Texte der Hanser Box: darunter finden sich Kurzgeschichten und Essays namhafter Autoren wie Javier Marías, Henning Mankell, T.C. Boyle und Thomas Glavinic. Ich habe einmal in die digitale Wundertüte gegriffen, habe mich jedoch für keinen dieser Autoren entschieden, sondern für Philipp Bloms Essay Über Sehnsucht, Träume und Geschichten.

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Ohne Geschichten wären wir blind und taub.

Philipp Blom ist Autor und Historiker. Er schreibt regelmäßig für unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften und hat bereits zahlreiche Bücher publiziert. Ich muss gestehen, dass es vor allem der Titel gewesen ist, der mich neugierig gemacht hat: Geschichten lese ich jeden Tag mit großem Vergnügen, ein Leben ohne wäre für mich nicht vorstellbar. Umso neugieriger war ich darauf zu erfahren, was Philipp Blom über Sehnsucht, Träume und Geschichten zu erzählen weiß.

Von Anfang an hatte unsere Sehnsucht nur eine Waffe gegen die Erfahrung der Sinnlosigkeit in unserem eigenen Leben: Wir haben uns Geschichten erzählt. Geschichten haben Anfang, Mitte und Ende, das Handeln der Figuren hat sinnvolle Konsequenzen, die Guten werden belohnt, die Bösen bestraft, zufällige Fakten erhalten Bedeutung und Funktion, einen Ort im Geschehen.

Auf Einladung des Getty Research Institutes verbringt Philipp Blom einige Monate in Los Angeles, in einem Apartment voller Kunsthistoriker. Sie alle zieht es nach Los Angeles, um dort die eigenen Träume zu leben. Philipp Blom schreibt nicht nur über die Menschen, auf die er dort trifft, zum Beispiel über den Informatiker Sean und seine Frau Penny, die als Archäologin arbeitet und ein akademisches Leben auf der Überholspur geführt hat, sondern auch über die Stadt Los Angeles, in der Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume aufeinander treffen, sich manchmal erfüllen und manchmal zerplatzen. Es ist das normale Chaos, das sich Leben nennt. Alle wünschen sich etwas, Glück und Liebe, eine gute Arbeit oder Stabilität, doch manche befinden sich schon zu weit am Rand des Lebens, um sich ihre Wünsche noch erfüllen zu können. Philip Blom, der sich in diesem Essay als großartiger und kluger Erzähler erweist, kommt zu dem Schluss, dass ein Mensch dieses Chaos ohne Geschichten nicht überleben kann. Diese Geschichten können in der Literatur stattfinden oder im Kino, die Hauptsache ist es, in sie eintauchen zu können und durch sie lernen zu können, wie man sich durch das Leben navigieren kann.

Indem wir uns Geschichten erzählen, machen wir eine hässliche Realität nur dadurch schöner, dass wir uns selbst belügen: Geschichten können tatsächlich eine Zukunft schaffen, die ohne sie unmöglich gewesen wäre. Sie bieten nicht nur existenziellen Trost und einen künstlichen, auf falschen Annahmen fußenden Mut – sie erschaffen auch die Welt, in der wir leben. Wir sind und wir werden ein Abbild der Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen.

Philipp Blom schafft es mit leichter Hand in seinem Essay die drei zentralen Themen Sehnsucht, Träume und Geschichten miteinander zu verknüpfen. All dies geschieht mit Los Angeles als Folie, einer Stadt voller Träumender und Gescheiterter, voller Chaos und Geschichten. Zwischendurch streut der studierte Historiker auch immer wieder sein historisches oder auch religiöses Wissen ein und führt den Wunsch danach Geschichten zu erzählen, den bereits Kleinkinder hegen, auf ihren Ursprung zurück.

Über Sehnsucht, Träume und Geschichten ist ein spannender Essay, der mich neugierig auf einen Autor macht, von dem ich zuvor noch nichts gelesen hatte. Es ist aber auch ein Essay, der mich nachdenklich gemacht hat, der mich über die Frage nachdenken ließ, was mir Geschichten eigentlich bedeuten, was mich Geschichten lehren, was mich beim Lesen tröstet und was mich beim Lesen träumen lässt.

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6 Comments

  • Reply
    Drittgedanke
    October 1, 2014 at 12:33 pm

    Auf Philipp Blom bin ich jetzt sehr neugierig geworden. Spannend finde ich aber auch, wie das Prinzip Hanser-Box wohl seinen Weg machen wird. Interessant, was Du inzwischen schon dazu geschrieben hast!

    • Reply
      Mara
      October 3, 2014 at 12:51 pm

      Ich bin auch schon sehr gespannt, inwieweit die Hanser Box angenommen wird und wie sich das weiter entwickeln wird – in den nächsten Wochen erscheinen auf jeden Fall noch einige Texte, auf die ich mich bereits schon jetzt freue und die ich unbedingt lesen möchte! 🙂

  • Reply
    Verführerischer Bücherherbst ... - Buzzaldrins Bücher
    October 1, 2014 at 3:25 pm

    […] oder Thomas Melle. Passenderweise gibt es auch eine Besprechung zu Philipp Bloms neuem Buch, dessen Essay ich heute erst vorgestellt […]

  • Reply
    mannigfaltiges
    October 1, 2014 at 3:57 pm

    Philipp Blom kann ich nur jedem (Kultur)Geschichtsinteressierten wärmstens empfehlen. “Der taumelnde Kontinent” hat mich vor einigen Jahren so begeistert, dass ich mir bereits am Erscheinungstag “Die zerrissenen Jahre” holte. Er hat mich wiederum nicht enttäuscht. Mit viel Hintergrundwissen beschreibt er mehr oder weniger Bekanntes oder schon mal Gehörtes aber auch – für mich – völlig Neues äußerst packend und die Zusammenhänge erhellend.

    • Reply
      Mara
      October 3, 2014 at 12:50 pm

      Ich danke dir ganz herzlich für deinen Kommentar und für die Ermutigung, mehr von Philipp Blom zu lesen. Ich muss dann doch gestehen, dass mir der Name zuvor nichts sagte und lediglich der Titel mich neugierig gemacht hatte. Nun stehen aber beide Bücher von ihm auf der Wunschliste, vielleicht ist die Lektüre ja etwas für die Weihnachtsferien! 🙂

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