Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja

Katja Petrowskaja erzählt nicht nur von den Schrecken des 20. Jahrhunderts, sondern auch von der eigenen Gegenwart. Vielleicht Esther ist eine Recherchereise zurück in die Vergangenheit der eigenen Familie, bis in das Jahr 1864. Es ist eine poetische, berührende, kluge und herzerwärmende Reise und eine großartige Lektüre.

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Woher kenne ich diese Geschichte in ihren Einzelheiten? Wo habe ich ihr gelauscht? Wer flüstert uns Geschichten ein, für die es keine Zeugen gibt, und wozu? 

Katja Petrowskaja begibt sich in ihrem Roman auf eine Reise, es ist die Reise in die eigene Vergangenheit und es ist eine Reise, die die Autorin von Warschau über Babij Jar bis nach Mauthausen führt. Die Wurzeln ihrer Familie führen zurück in die Ukraine, aber auch nach Russland, Deutschland und Österreich. Vielleicht Esther ist kaum mehr ein Roman, denn dafür stecken in diesem Text zu viele autobiographische Bezüge. Der Verlag selbst gibt dem Buch den Untertitel Geschichten. Es sind Familiengeschichten, die Geschichten der Familie von Katja Petrowskaja.

Am Anfang dachte ich, ein Stammbaum sei so etwas wie ein Tannenbaum, ein Baum mit Schmuck aus alten Kisten, manche Kugeln gehen kaputt, zerbrechlich wie sie sind, manche Engel sind hässlich und robust und überleben alle Umzüge. Jedenfalls war ein Tannenbaum der einzige Familienbaum, den wir hatten, er wurde jedes Jahr neu gekauft und dann weggeschmissen, einen Tag vor meinem Geburtstag.

Diese kurzen Geschichten wirken am Anfang der Lektüre etwas fragmentarisch, so löcherig, dass es schwer ist, Zusammenhänge herzustellen. Doch all diese Löcher werden gefüllt und gestopft, Geschichte für Geschichte. Im Zentrum steht die titelgebende Esther, die Großmutter des Vaters, die zu alt und unbeweglich ist, um 1941 fliehen zu können und alleine in ihrer Wohnung in Kiew zurückbleibt. Es ist die Großmutter des Vaters der Autorin, doch dieser weiß gar nicht mehr ganz genau, wie seine Großmutter hieß. Vielleicht Esther? Doch hieß diese Großmutter, die im Krieg sterben musste, wirklich Esther?  Katja Petrowskaja erzählt aber auch die Geschichte eines Großonkels, der 1932 als junger Mann ein Attentat auf einen deutschen Diplomaten verübt. Fritz von Twardowski wurde verletzt, der Großonkel Judas Stern verhaftet. Sie erzählt von ihrem Großvater, der in Kriegsgefangenschaft gerät, in ein Konzentrationslager kommt, ein Gulag überlebt und lebend nach Hause zurückkehrt. Sie erzählt von all ihren Verwandten, die an Gehörlosenschule gearbeitet haben. Verwandten, denen beinahe schon heilende Kräfte angedichtet wurden.

[…] ich dachte, mit ihnen werde ich den Familienbaum blühen lassen, den Mangel auffüllen, das Gefühl von Verlust heilen, aber sie standen in einer dicht gedrängten Menge vor mir, ohne Gesichter und Geschichten, wie Leuchtkäfer der Vergangenheit, die kleine Flächen um sich herum beleuchteten, ein paar Straßen oder Begebenheiten, aber nicht sich selbst.

Vielleicht Esther ist ein seltsames Buch, das sich jeder Einordnung verweigert. Es befindet sich irgendwo zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Roman und Autobiographie, zwischen Wahrheit und Erfindung. Vielleicht Esther ist nicht nur ein Buch, das Erinnerungen erzählt, sondern gleichzeitig auch ein Buch über Erinnerungen. Was macht man mit all den Verwandten, von denen man nur einen Namen kennt – wenn überhaupt. Was macht man mit all diesen Lücken und Löchern, die den eigenen Familienstammbaum in ganz viele Teile zersplittern. Wie geht man mit solchen Erinnerungen um? Katja Petrowskaja entscheidet sich dazu, sich auf eine Recherchereise zu begeben, auf eine Wurzelsuche, auf Ahnenforschung. Sie entscheidet sich für einen unbekümmerten Umgang mit Erinnerungen – es gibt keine Gewissheit und keine Bestätigung, aber schmerzhafte Lücken können manchmal schon allein durch die Kraft von Phantasie und Vorstellung geschlossen werden.

Katja Petrowskaja beschäftigt sich bei dieser Recherchereise sehr eindrücklich auch mit den Quellen, auf die sie zurückgreifen kann. Was kann man tun, wenn es plötzlich keine Menschen gibt, die man befragen kann? Wenn das einzige, das bleibt Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven ist. Die Autorin reist in Archive und Gedenkstätten, sie greift aber auch auf moderne Wege zurück – sie nutzt nicht nur Google. sondern auch Facebook und Ebay.

Rosa kritzelte mit ihren Zeilen gegen die Blindheit an, sie häkelte die Zeilen ihrer entschwindenden Welt. Je dunkler es um sie herum wurde, desto dichter beschrieb sie die Blätter. Manche Stellen waren unentwirrbar wie verfilzte Wolle, die Kartoffelpreise Ende der achtziger Jahre verknoteten sich mit Erzählungen aus dem Krieg und von flüchtigen Begegnungen. Das eine oder andere Wort sickerte durch das wollene Dickicht, die ‘Kranken’, ‘Moskau’, ‘Herzblut’. Jahrelang dachte ich, sie ließen sich entziffern, in Amerika gibt es Geräte, die solche Zeilen entwirren können, bis ich verstand, dass Rosas Schriften nicht zum Lesen gedacht waren, sondern zum Festhalten, ein dick gedrehter, unzerreißbarer Ariadnefaden.

Vielleicht Esther ist ein Kunstwerk, dass das klassische Korsett eines Romans abgestreift hat. Die Autorin Katja Petrowskaja verlässt bei der Aufarbeitung der Schrecken des 20. Jahrhunderts bereits ausgetretene Erzählpfade und geht eigene, experimentelle, Wege. Entstanden ist dabei ein Fragment aus Geschichten, das nicht nur berührt und bewegt, sondern auf seltsame Weise auch das Herz zu wärmen weiß.

25 Comments

  • Reply
    saetzebirgit
    October 22, 2014 at 3:13 pm

    Wunderbar beschrieben – vor allem der Satz vom Kunstwerk, der das klassische Korsett abgestreift hat. Für mich ein ganz tolles, wichtiges Buch.

    • Reply
      Mara
      October 24, 2014 at 3:55 pm

      Liebe Birgit,

      über dein Lob freue ich mich ganz besonders, ich danke dir. Das Buch ist in der Tat unheimlich wichtig und ganz großartig und toll und ich hoffe nur, dass es noch ganz ganz viele weitere Leser und Leserinnen finden wird. Ich glaube kein anderes Buch hat mich in diesem Jahr so sehr beeindruckt. Zumindest bisher, mal schauen, was da noch so kommen mag. 😉

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Tanja
    October 22, 2014 at 4:05 pm

    Dein Fazit ist: Schön. Einfach nur schön!

    • Reply
      Mara
      October 24, 2014 at 3:53 pm

      Danke, liebe Tanja! Ich freue mich sehr über deine Worte. 😀

  • Reply
    Klappentexterin
    October 22, 2014 at 6:11 pm

    Liebe Mara,

    dieses schöne Buch ist kürzlich bei mir zu Hause eingezogen. Ganz glücklich bin ich über seine Anwesenheit und jetzt – nach deiner Rezension – lächele ich noch mehr. masuko13 hat mich ja bereits auf Vielleicht Esther aufmerksam gemacht oder – sagen wir lieber – den Wunsch, es zu lesen noch mehr angestoßen, wie ein Pendel. So habe ich bereits im März einen feinen Artikel über die Autorin gelesen. Seitdem hege ich den Lesewunsch in meinem Herzen, auch deshalb, weil ich einige Parallelen zu Marica Bodrozic sehe, die ich überaus schätze.

    Sei lieb gegrüßt,

    Klappentexterin

    • Reply
      Mara
      October 24, 2014 at 3:53 pm

      Liebe Klappentexterin,

      ich muss gestehen, dass ich beim Lesen immer wieder an dich denken musste und daran, dass das ein Buch für dich sein könnte. Sprachlich hat es mich wahrlich verzaubert und der Vergleich zu Marica Bodrozic ist in der Tat sehr treffend, ihr neues Buch besitze ich schon, auf die Lektüre darf ich mich aber noch freuen.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    jancak
    October 22, 2014 at 9:23 pm

    Das Buch habe ich seit dem “Literatur und Wein Festival” im Haus, werde es aber erst im nächsten Jahr lesen. Gespannt bin ich, habe in Leipzig und auch so schon einiges darüber gehört und vor allem die Autorin scheint ja auch sehr interessant und widersprüchig zu sein.

    • Reply
      Mara
      October 24, 2014 at 3:50 pm

      Liebe Eva,

      überlege dir das noch mal, ob du dir diese tolle Lektüre wirklich bis zum nächsten Jahr aufhebst – mich hat das Buch sehr beeindruckt, wenn ich könnte, würde ich es sofort noch mal lesen, doch hier liegen noch so viele andere Bücher. Ich hoffe nun darauf, noch einmal die Chance zu erhalten, die Autorin live sehen zu dürfen.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        jancak
        October 24, 2014 at 10:02 pm

        Da scheint mir, mit einem Blick auf meine Leseliste, nichts anderes überzubleiben. Dann folgt auch noch “Kaoloa”, das man ja auch gleich lesen sollte, aber jetzt kommt ja noch das “Mittelstadtrauschen” “Wo ist Martha” und und und…
        “Die Sonnenposition” habe ich gerade gelesen.
        Katja Petrowskaja habe ich über Video beim Bachmannlesen, auf dem blauen Sofa in Frankfurt, live in Leipzig und in Göttweig bei “Buch und Wein” gehört und sie hat mich mit ihrer unkonventionellen Art, wo sie manchmal auch schroffe Antworten gibt sehr beeindruckt.
        Da es soviele Bücher gibt, beschäftigt mich immer noch die Frage, ob man jetzt das Alte oder das Neue lesen soll und eigentlich sollte ich, mit Blick auf meine Bücherliste, mich nur mit dem Alten begnügen, da hätte ich wahrscheinlich lebenslang zu tun, fürchte aber, das nicht zu schaffen, also freue ich mich auf meine Geburtstagsbücher, die ich dann auch erst im nächsten Jahr lesen werde, denn jetzt lese ich gerade die vom letzten Jahr, liebe Grüße und schönes Wochenendlesen!

        • Reply
          Mara
          October 27, 2014 at 2:57 pm

          Liebe Eva,

          die Frage, ob die alten oder die neuen Bücher gelesen werden sollten, beschäftigt mich auch immer wieder auf’s neue. Ich habe mittlerweile für mich beschlossen, einen Kompromiss zu gehen und ein bisschen in den alten Schätzen zu stöbern, aber auch etwas von den neuen Sachen zu lesen. Ich könnte, das was Monat für Monat neu erscheint, wohl auch gar nicht so leicht ignorieren. 😉

          Liebe Grüße
          Mara

  • Reply
    dj7o9
    October 23, 2014 at 11:42 am

    Ohhh das wohnt auch bereits auf meiner To-Read-Liste und die schöne Büchergilden-Ausgabe und Deine überzeugende Rezension haben mich noch mal mehr dazu gebracht es auch recht bald ins Einkaufskörbchen zu werfen 🙂

    • Reply
      Mara
      October 24, 2014 at 3:48 pm

      Eine sehr sehr gute Entscheidung! 😀 Ich bin gespannt, wie dir die Lektüre gefallen wird und bin schon fast traurig, dass ich nur die schnöde Normalausgabe habe, die Büchergilden-Ausgabe ist in der Tat wunderschön geworden.

  • Reply
    caterina
    October 23, 2014 at 10:09 pm

    Merci für die schöne Besprechung! Auch bei mir wird Esther bald einziehen, es gibt in der Büchergilde eine wunderschöne Ausgabe. Ich hielt sie neulich auch schon in der Hand: diese Farben, diese Haptik – was für ein Prachtexemplar! Aber auch auf den Inhalt freue ich mich natürlich ganz besonders, in Klagenfurt damals und auch bei einer Lesung hier in Frankfurt hat mich Katja Petrowskaja sehr beeindruckt.

    • Reply
      Mara
      October 24, 2014 at 3:47 pm

      Oh Gott, liebe Caterina, diese Ausgabe ist ja wirklich herzallerliebst – da könnte ich das Buch glatt noch einmal kaufen, dabei habe ich es doch schon! Live sehen durfte ich Katja Petrowskaja nicht, aber ihr Text hat mich wirklich sehr beeindruckt – sprachlich, aber auch inhaltlich. Ich bin gespannt, was du dazu sagen wirst, ich schätze aber, dass du wahrscheinlich noch einen Moment für die Lektüre brauchen wirst. 😉

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        caterina
        October 24, 2014 at 4:33 pm

        Hihi, du kennst mich mittlerweile gut! 😉
        Und sollte Frau Petrowskaja mal nach Göttingen kommen, geh unbedingt hin. Sie sagt kluge Dinge über Literatur und ihr eigenes Schreiben und liest sehr bedacht. Sie wird dir gefallen, davon bin ich überzeugt.

  • Reply
    madameflamusse
    October 25, 2014 at 9:48 pm

    Klingt wunderbar … und mir fällt auf das es immer mehr sehr schöne Cover gibt.

    • Reply
      Mara
      October 27, 2014 at 2:48 pm

      Ich finde das Cover auch ganz wunderbare! 🙂

  • Reply
    dasgrauesofa
    October 26, 2014 at 12:04 pm

    Liebe Mara,
    ist “Vielleicht Esther” nicht wirklich eines der besten, interessantesten, ungewöhnlichsten Bücher dieses Jahres? Am Anfang, Du hast es ja auch beschrieben, ist es zwar schwierig in die erkundete Familiengeschichte hineinzufinden, die vielen Namen der Familienmitglieder, die noch ohne ihre eigenen Geschichten für den Leser recht unüberschaubar sind, die verschiedenen Zeiten, die der Leser nur schwer zusammenbringt. Aber dann fügt sich Mosaiksteinchen für Mosaicksteinchen die ganze Familiengeschichte und so wird dem Leser auch der rechercheprozess sehr schön deutlich. Und mit der Familiengeschichte zeigt sich auch die politische Geschichte eines Jahrhunderts mit all ihren Verwerfungen und Katstrophen. Das hat mich unheimlich beeindruckt. Und ganz besonders auch die Haltung der Erzählerin, die die erzählten Ungeheuerlichkeiten kein bisschen bewertet oder anklagt. Ein tolles Buch, das in diesem Jahr doch den ein oder anderen Buchpreis mehr als verdient hätte, finde ich.
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      Mara
      October 27, 2014 at 2:47 pm

      Liebe Claudia,

      ich stimme dir in allem, was du schreibst, zu – liebe Claudia. Für mich gehört Vielleicht Esther auch zu den besten Büchern, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Ich bin erleichtert, dass du ähnliche Anfangsschwierigkeiten hattest, wie ich – doch irgendwann fügt sich dann alles (wie von Wunderhand) zusammen. Zusammen zu einem großartigen Lektüreerlebnis.
      Die Haltung der Erzählerin hat mich auch beeindruckt, trotz aller Schrecklichkeiten, von denen sie erzählt, ist das Buch dennoch unheimlich warmherzig – wenn man das überhaupt so sagen kann.
      Ich finde es schade, dass das Buch nicht noch mehr Preise gewonnen hat – auch einen Platz auf der Liste des Deutschen Buchpreis hätte es wohl verdient gehabt.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    October 28, 2014 at 9:13 pm

    Oh man, noch so ein Buch, was ich schon eine Weile auf der Liste habe. Und jetzt kommst auch noch Du mit so einer begeisternden Bestechung rüber. Wann soll man das alles bloss lesen?
    Fragt sich der Kai

    • Reply
      Mara
      November 1, 2014 at 7:08 am

      Lieber Kai, ach Du! Was meinst du wohl, wie häufig ich mir die gleiche Frage stelle? Es gibt einfach viel zu viele tolle und lesenswerte Bücher. Dieses hier ist aber inhaltlich und sprachlich einfach ganz besonders lesenswert – es ist auf jeden Fall mein bisheriges Jahreshighlight. Also, wann man das alles lesen soll, weiß ich nicht – ich weiß nur, dass du dieses Buch so schnell wie möglich lesen solltest. 🙂

  • Reply
    zeilenundspalten
    November 3, 2014 at 6:35 pm

    Wunderbar, dass es dir auch so gefällt. Ich hoffe auch stark, dass es mehr Nachklang findet, solch eine poetisch einfache und doch prägnante Stimme sollte von vielen gehört werden. “The letter always reaches its destination” 😉

    • Reply
      Mara
      November 8, 2014 at 9:30 pm

      Ich hoffe auch, dass das Buch viele Leser finden wird – nach der Lektüre habe ich es sehr bedauert, dass Katja Petrowskaja nicht auf der Liste des Deutschen Buchpreis stand. Sie hätte es in jedem Fall verdient gehabt.

  • Reply
    Blog-Award #7: Buzzaldrins Bücher | Preach it, Baby!
    November 12, 2014 at 9:39 pm

    […] gut gefallen haben mir Vielleicht Esther (Katja Petrowskaja), Wunderlich fährt nach Norden (Marion Brasch), der wunderbare Beitrag über das Einsortieren von […]

  • Reply
    Ein Jahr in Büchern - Buzzaldrins Bücher
    December 21, 2014 at 2:52 pm

    […] Katja Petrowskaja – Vielleicht Esther […]

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