Tagebücher von Susan Sontag

Susan Sontag, die im Jahr 2004 verstarb, war eine der angesehensten Intellektuellen ihrer Generation. Mit Against InterpretationÜber Photographie und Krankheit als Metapher schrieb sie grundlegende Werke, die auch heute noch Bestand haben. Doch trotz ihrer Bekanntheit wirkte die Autorin in der Öffentlichkeit häufig unnahbar. Dank ihrer Tagebücher, die von ihrem Sohn David Rieff veröffentlicht wurden, können wir einen Blick auf die Frau hinter der Fassade werfen. An dieser Stelle sollte erwähnt werden,  dass die beiden Bände von Kathrin Razum hervorragend ins Deutsche übertragen wurden.

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Kritiken zu lesen verstopft Kanäle, durch die man neue Ideen bekommt: kulturelles Cholesterin.

Zwei der drei Tagebuchbände liegen bereits vor: Wiedergeboren und Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Die Entscheidung, die Tagebücher zu publizieren, war damals umstritten, da Susan Sontag selbst nicht verfügt hat, was mit ihren nachgelassenen Werken geschehen soll. Getroffen wurde die Entscheidung von ihrem Sohn, der auch für die Textauswahl verantwortlich ist. In einem kurzen Vorwort schreibt David Rieff:

Sicher ist, dass meine Mutter sowohl als Leserin wie auch als Schriftstellerin Tagebücher und Briefe liebte – je intimer, desto besser. Vielleicht also hätte Susan Sontag, die Schriftstellerin, gutgeheißen, was ich getan habe. Ich hoffe jedenfalls.

Die Aufzeichnungen in Wiedergeboren beginnen mit dem Jahr 1947 – Susan Sontag war damals gerade einmal vierzehn Jahre alt und erlebt eine erstaunlich wilde Jugend, die beherrscht wird von dem komplizierten Verhältnis zur Mutter und der Suche nach der eigenen Sexualität. Bereits der allererste Eintrag ist ein Fingerzeig für das Leben, das sie später führen sollte. In knappen Worten hält sie fest:

Ich glaube: (a) dass es keinen persönlichen Gott und kein Leben nach dem Tod gibt (b) dass es im Leben nichts Erstrebenswerteres gibt als die Freiheit, sich selbst treu zu sein, d.h. Ehrlichkeit (c) dass Menschen sich allein durch ihre Intelligenz unterscheiden.

Obwohl Susan Sontag, die in China als Tochter eines Exportkaufmanns und einer Lehrerin zur Welt kommt, in einfachen Verhältnissen aufwächst, sehnt sie sich bereits früh nach einem Leben in einer intellektuellen Atmosphäre. Intelligenz ist ein zentraler Bestandteil ihrer unsteten Welt – der Wankelmütigkeit der eigenen Mutter setzt sie Fakten und Theorien entgegen. Immer wieder erzählt Susan Sontag davon, welche Bücher sie gekauft hat, welche Bücher sie kaufen möchte und wie lange sie gelesen hat. Die ersten Jahre in Wiedergeboren werden davon beherrscht, einen Platz in dieser Welt zu finden, nicht nur in einer intellektuellen Welt, zu der Susan Sontag Zutritt bekommen möchte, sondern auch in sexueller Hinsicht. Früh beginnt sie damit, mit ihrer Sexualität zu experimentieren – ganze Tagebuchseiten werden gefüllt mit homosexuellen Slangausdrücken und Adressen von Bars, in der sich Schwule und Lesben treffen. Auch Freundinnen hat sie, die ein oder andere. Doch irgendwann bekommt man den Eindruck, Susan Sontag würde unterschiedliche Facetten ihrer Persönlichkeiten ausprobieren und keine würde so wirklich passen. Als sie im November 1949 Assistentin eines Soziologieprofessors in Berkeley wird, ist sie mit diesem kurz darauf verlobt. Philip Rieff ist auch der Vater ihres Sohnes, den sie bereits als ganz junge Frau bekommt. Doch auch das bürgerliche Leben als Ehefrau und Mutter stellt Susan Sontag, die sich als begierige Leserin und Intellektuelle sieht, nicht zufrieden. Es sollte nicht lange dauern, bis sie ihre Ehe verlässt, die sie als Gefängnis empfindet, und wiedergeboren wird. Wenn der erste Band einen Untertitel haben sollte, dann würde er wohl Das Leben der Künstlerin als junge Frau lauten.

Ich rufe nie Leute an; ich würde nie jemanden, der gerade meine Wohnung verlässt, bitten, einen Brief für mich einzuwerfen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt – ich traue niemandem zu, etwas für mich tun zu können – ich will alles selbst machen, und wenn ich in irgendeiner Angelegenheit irgendjemanden in meinem Auftrag handeln lasse, finde ich mich (schon im voraus) damit ab, dass er es nicht richtig oder gar nicht machen wird.

Im Jahr 1964 setzt der zweite Band der Tagebücher ein: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. 1963 hat Susan Sontag ihr Debüt als Schriftstellerin gefeiert, in den folgenden Jahren macht sie sich mit weiteren Romanen und Sachbüchern einen Namen. Das Ziel, dem sie dabei alles unterordnet, ist der Wunsch nach Intelligenz, nach Klugheit, danach ein philosophisches Leben zu führen. Doch in den zweiten Band mischen sich auch zunehmend Traurigkeit und tiefe Verzweiflung. Im Zentrum dieser Verzweiflung stehen zahlreiche unglückliche Beziehungen, die Susan Sontag mit Frauen unterhält. Aus dieser Verzweiflung heraus führt sie einzig und allein ihr guter Freund Joseph Brodsky und ihre Arbeit, die ihr ganzes Tun beherrscht. In Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke gibt es zahlreiche Listen: Wortlisten, Liste mit Publikationsideen, Bücherlisten, Filmlisten, Listen von Kunstwerken oder Philosophen.

Ich habe beim Lesen immer das Gefühl zu essen. Und mein Bedürfnis zu lesen ist wie ein schrecklicher, rasender Hunger. Sodass ich oft versuche, zwei oder drei Bücher gleichzeitig zu lesen.

Längere, zusammenhängende Texte sucht man in den Tagebüchern überraschenderweise vergeblich. Bei den meisten handelt es sich um Notizen, um Gedankeneinwürfe, Listen, Fragmente. Manchmal sind es sogar nur Zitate oder Buchtitel. Aufgrund dieser kurzen und fragmentarischen Einträge lesen sich die Tagebücher schon fast wie Skizzen, roh und unvollendet. Doch trotz dieses fragmentarischen Stils, entwickeln die Einträge einen ganz seltsamen Sog. Ich habe zunächst nur quer lesen wollen, die Tagebücher erschienen mir so unglaublich dick, doch dann konnte ich sie einfach nicht mehr aus der Hand legen und die Seiten flogen nur so an mir vorbei. Wer sich einen durchgehenden Text erhofft, wird von der Lektüre dagegen höchstwahrscheinlich enttäuscht werden.

Als ich Wiedergeboren und Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke in den Händen hielt, habe ich mich natürlich gefragt, ob wirklich alles veröffentlicht werden sollte, was ein Autor bei seinem Tod hinterlässt. Was reizt mich daran, die Tagebücher einer verstorbenen Autorin zu lesen? Was reizt mich an dieser scheinbaren Intimität, an dieser Nähe? Nach der Lektüre kann ich sagen, dass ich glaube, dass mich die Möglichkeit reizt, einen Blick hinter die Fassade zu werfen – bei Susan Sontag habe ich dabei viel Traurigkeit gefunden, viel Schmerz, große Verzweiflung, aber auch ganz viel Mut und Neugier, eine faszinierende Wissbegierde und ein unheimlich großes Wissen über Literatur. Ich habe ganz viele Hinweise auf interessante Bücher und Autoren erhalten.

Susan Sontag hat ihre Tagebücher, die sie jahrelang geführt hat, sicherlich nicht auf eine Veröffentlichung hin geschrieben, doch ich bin sehr dankbar, dass sie uns dennoch vorliegen.

18 Comments

  • Reply
    eachtach
    December 1, 2014 at 12:18 pm

    Hat Susan Sonntag ihre Tagebücher wirklich auf Deutsch geschrieben? Oder hat jemand die übersetzt und wurde hier so gar nicht erwähnt?

    • Reply
      Mara
      December 1, 2014 at 12:20 pm

      Schande über mein Haupt und danke für die Erinnerung – beide Tagebücher wurden von Kathrin Razum übersetzt – wird sofort ergänzt! 🙂

  • Reply
    dj7o9
    December 1, 2014 at 1:59 pm

    Habe Deine Rezension – absichtlich – noch nicht gelesen, denn ich habe ja ziemlich zeitgleich mit Dir die Tagebücher sowie die Biografie von Susan Sontag gelesen, war letzten Freitag auf der Podiumsdiskussion und schließe meinen Susan Sontag Crash-Kurs am Dienstag abend mit dem Theaterstück “Das Leiden anderer betrachten” ab und dann ja dann wollte werde ich auch drüber schreiben und dann auch Deine Rezension lesen 🙂

    Witzig – das wir beide nahezu gleichzeitig unseren Susan Sontag Rappel hatten…

    • Reply
      Mara
      December 3, 2014 at 3:41 pm

      Ich finde es auch witzig, dass wir fast zeitgleich Susan Sontag verschlungen haben und ich beneide dich ein bisschen, dass du zu der Podiumsdiskussion gehen konntest. Wie hat es dir dort gefallen? Hat dort Daniel Schreiber, der Biograph von Susan Sontag, diskutiert? Ich freue mich auf jeden Fall schon jetzt sehr auf deinen Artikel!

      Ich werde nun noch die Biographie lesen und dann erst einmal eine kleine Pause einlegen. 😉

  • Reply
    Petra Gust-Kazakos
    December 1, 2014 at 3:03 pm

    Liebe Mara, auf den Sog bei Teil zwei warte ich noch ; ) Den ersten Band fand ich wirklich großartig, aber das Fragmentarische war mir (ausgerechnet, eigentlich mag ich das, dachte ich) doch zu zerrissen für eine durchgehende Lektüre. Für mich ist es eher ein Buch, das ich mit Pausen immer mal wieder lese.

    • Reply
      Mara
      December 3, 2014 at 3:39 pm

      Liebe Petra,

      ich muss auch gestehen, dass das Fragmentarische etwas mit meinen Erwartungen gebrochen hat. Ich hatte – als ich anfing zu lesen – einen durchgängigeren Text erwartet, aber dennoch hat es mich dann gepackt und ich habe beide Bände hintereinander weg verschlungen. Vielleicht ergeht es dir mit dem zweiten Band ja irgendwann auch noch so!

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    madameflamusse
    December 1, 2014 at 3:04 pm

    Feine Sache, mich drängt es auch sehr Susan Sontag zu lesen. Das mit den Tagebüchern sehe ich auch etwas gespalten. Sonst sehr sehr faszinierende Frau.

    • Reply
      Mara
      December 3, 2014 at 3:35 pm

      Es ist bei der Lektüre ganz deutlich, dass sie nicht für eine Veröffentlichung geschrieben wurden und doch glaube ich, dass es gut ist, dass es sie gibt. Susan Sontag ist in der Tat eine unheimlich faszinierende Frau, was auch in diesen Tagebüchern deutlich wird.

  • Reply
    Anne
    December 1, 2014 at 4:25 pm

    In letzter Zeit habe ich so oft hier und da mal etwas über Susan Sontag gelesen und die paar Schnipsel, die mir dabei untergekommen sind, haben mich wirklich neugierig gemacht. Ich will unbedingt was von ihr lesen, weiß aber nicht recht, wo man am besten anfängt – hast du da eine Empfehlung parat? 🙂

    • Reply
      Mara
      December 3, 2014 at 3:31 pm

      Liebe Anne,

      zum Einstieg kann ich dir den Interviewband ans Herz legen (The Doors und Dostojewski), der im Herbst diesen Jahres bei Hoffmann & Campe erschienen ist. Er bietet eine tolle Annäherung an Susan Sontag. Darüberhinaus habe ich hier noch die Biographie von Daniel Schreiber liegen, bis jetzt aber noch ungelesen. Ich glaube aber, dass das Buch sicherlich auch für einen Einstieg geeignet ist.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    flattersatz
    December 2, 2014 at 4:30 am

    der sohn arbeitet sich an der mutter ab. rieff hat ja schon vor einigen jahren die krankheitsgeschichte bzw. das sterben seiner mutter zum thema eines buches gemacht (“Tod einer Untröstlichen, ein buch übrigens, das auch ein recht zwiespältiges bild der person “susan sontag” zeichnet, trotz ihrer hohen intellektuellen fähigkeiten ist sie mir emotional gehemmt erschienen. von daher wären ihre tagebücher für mich auch interessant, aber so wie ich gelesen habe, kommt die krankheitsgeschichte von sontag dort nicht vor, oder?

    ihr “krankheit als metapher” ist nicht leicht zu lesen, aber sehr interessant, weil sie sich auch stark mit dem bild des tuberkulosekranken auseinandersetzt, z.b. in manns “zauberberg” und den romantischen vorstellungen des immer etherischer dahinschwindenden erkrankten: die krankheit als statussymbol. na ja, so in etwa… 😉
    liebe grüße
    fs

    • Reply
      Mara
      December 3, 2014 at 3:21 pm

      Ich habe das Buch von David Rieff bereits vor vielen Jahren gelesen und nur noch wenige Erinnerungen an die Lektüre, ich sollte es vielleicht noch einmal lesen. In den zwei Bänden, die bisher auf Deutsch vorliegen, spielt die Krebserkrankung von Susan Sontag interessanterweise kaum eine Rolle.

      “Krankheit als Metapher” habe ich noch nicht gelesen, es steht nun aber definitiv auf der Leseliste. Ich habe hier noch die Biographie von Daniel Schreiber liegen, die ich gerne vorher noch lesen würde.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    J. Kienbaum
    December 2, 2014 at 9:01 am

    Against Interpretation & About Photography waren Pflicht- und später Genusslektüren; mit Krankheit als Metapher (obwohl ebenso wichtig und gewichtig) konnte ich weniger anfangen.
    Ihre Tagebücher kenne ich (noch) nicht. Du hast mit Deinem Beitrag die Lektürelust angestachelt (wie bereits bei Doors und Dostojewsky). lg_jochen

    • Reply
      Mara
      December 3, 2014 at 3:14 pm

      Lieber Jochen,

      ich freue mich, dass ich deine Lektürelust angestachelt habe. Ich bin Susan Sontag das erste Mal in der Schulzeit begegnet, als wir einen Ausschnitt aus “Über Photographie” gelesen haben. Danach habe ich sie für viele Jahre aus den Augen verloren und erst dank des Interviewbands wiederentdeckt. Nun kann ich gar nicht mehr loslassen – hier liegt gerade noch die Biographie von Daniel Schreiber, die ich auch alsbald als möglich lesen möchte.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    December 3, 2014 at 11:07 pm

    Liebe Mara,
    schön, dass Du hier die Tagebücher besprichst. Susan Sontag ist einfach eine in jeder Hinsicht interessante und faszinierende Intellektuelle, die es freilich sich und ihrer Mitwelt ganz sicher nicht leicht gemacht hat. Nach Dostojewski… habe ich mir auch gleich die Tagebücher gekauft. Sie liegen noch auf meinem Stapel, und ich werde mich nach Deiner Besprechung wohl sehr bald damit beschäftigen (schon wieder eine Leseplanänderung).
    Das Buch von David Rief habe ich gelesen und fand es ein bisschen zwiespältig. Flattersatz hat da sicher recht, der Sohn arbeitet sich an seiner Mutter ab. Sontags emotionale Unsicherheit, auch von Flattersatz in seinem Kommentar erwähnt, schien mir dagegen eher Ausdruck ihres sehr hohen intellektuellen Anspruchs an sich und ihre Umgebung und die Furcht, dass sie – aber vor allem auch die anderen – dem nicht gerecht werden könnten. Ja, ich glaube schon, man kann das auch eals eine gewisse intellektuelle Hochmut bezeichnen.
    Wie auch immer, die Lektüre Ihrer Texte fand ich immer äusserst lohnend und nun bin ich gespant auf die Tagebücher…
    Liebe Grüsse
    Ki

    • Reply
      Mara
      December 5, 2014 at 2:05 pm

      Lieber Kai,

      Leseplanänderungen sind nie verkehrt, ich habe zwar auch einen groben Leseplan im Kopf, der ist jedoch stetigen spontanen Abänderungen ausgesetzt. Für mich war das Interview und die Tagebücher meine erste vorsichtige Annäherung an diese spannende, wenn auch zwiespältige, Autorin. Nun werde ich noch die Biographie von Daniel Schreiber lesen, bevor ich mich an die Texte von Susan Sontag selbst machen werde – von denen kenne ich leider nämlich noch keinen.

      Ich wünsche dir ein hoffentlich erholsames und leseintensives Wochenende
      Mara

  • Reply
    Susan Sontag. Geist und Glamour - Daniel Schreiber
    January 9, 2015 at 2:21 pm

    […] Buzzaldrins Bücher besprochen wurden bereits die Tagebücher von Susan Sontag sowie der Interviewband The Doors und […]

  • Reply
    The Susan Sontag Read-athon | Binge Reading & More
    February 28, 2015 at 2:00 pm

    […] Eine weitere spannende Besprechung ihrer Tagebücher findet ihr auch hier. […]

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