Der große Trip – Cheryl Strayed

Der große Trip trägt den Untertitel Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst und in der Tat könnte man das Buch nicht besser beschreiben. Cheryl Strayed hat ihre eigene Geschichte aufgeschrieben, die sie quer durch Kalifornien geführt hat, bis hin zu der Brücke der Götter. Es ist die Geschichte einer Reise, einer Reise zu sich selbst und einer Reise zurück zu dem Menschen, der man mal gewesen ist. Eine Reise, einer jungen Frau, die von ihrer Trauer erzählt, aber auch von ihrem Weg zurück ins Leben.

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Was kann man tun, wenn man glaubt, dass das eigene Leben auseinander bricht? Cheryl Strayed ist gerade einmal sechsundzwanzig Jahre alt, als sie das Gefühl hat, alles verloren zu haben, was ihr etwas bedeutet hat. Vier Jahre zuvor stand sie kurz vor ihrem Universitätsabschluss, als bei ihrer Mutter Lungenkrebs im fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert wird. Der Arzt gibt ihr noch ein Jahr zu leben, doch nur wenige Wochen später ist die Mutter bereits tot. Cheryl Strayed bleibt zurück mit einem Stiefvater, der sich bereits kurz danach eine neue Familie sucht und zwei Geschwistern, zu denen sie kaum Kontakt hat. In kürzester Zeit gelingt es ihr, ihr bis dahin geordnetes Leben zu zerstören, das, was zuvor heil gewesen ist, ist nun in tausend Scherben zersplittert: sie zerstört ihre Ehe, greift zu Drogen und bricht ihr Studium ab, ohne Abschluss.

Ich war allein. Ich war barfuß. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und ebenfalls eine Waise. Eine richtige Rumtreiberin, wie mich ein Fremder ein paar Wochen zuvor genannt hatte, als ich ihm meinen Namen nannte und erklärte, wie verlassen ich auf der Welt war. Mein Vater verschwand aus meinem Leben, als ich sechs war. Meine Mutter starb, als ich zweiunzwanzig war.

Während die Abwärtsspirale immer rasanter Fahrt aufnimmt, fällt Cheryl Strayed eines Tages bei einem Einkauf ein Reiseführer in die Hände, der die Route des Pacific Crest Trails (PCT) beschreibt – einem Wanderweg, der von der Grenze Mexikos bis nach Kanada führt, mehr als 4000 Kilometer, die hinweg über sieben Gebirgszüge führen und quer durch die Wüste, Indianerreservate und Nationalparks. Sie stellt den Reiseführer erst einmal wieder zurück ins Regal, doch da ist die ausgefallene Idee schon in ihr gereift: statt ihr Leben weiter wegzuwerfen, möchte sie diese fremde Welt erwandern: eine Welt, die gut einen halben Meter breit und 4284 Kilometer lang war. Cheryl Strayed fasst den Beschluss, ihr altes Leben in Kisten zu packen und stattdessen los zu wandern, 100 Tage lang – in der Hoffnung nicht nur bei der Brücke der Götter anzukommen, sondern auch wieder bei sich selbst.

Jeden Tag hatte ich das Gefühl, in einem tiefen Brunnen zu sitzen und nach oben zu blicken. Aber auf dem Grund dieses Brunnens machte ich mich daran, eine Solo-Wildnis-Trekkerin zu werden. Und warum auch nicht? Ich war schon so vieles gewesen. Eine liebende Frau und Ehebrecherin. Eine geliebte Tochter, die ihre Feiertage allein verbrachte. Eine ehrgeizige Streberin und ambitionierte Autorin, die sich von einem Verlegenheitsjob zum nächsten hangelte, gefährlich mit Drogen experimentierte und mit zu vielen Männern schlief.

Der große Trip, der von Reiner Pfleiderer ins Deutsche übertragen wurde, erzählt von dieser Wanderung und man kann es vielleicht an dieser Stelle schon ahnen: Cheryl Strayed ist nicht wirklich gut vorbereitet. Ihr Rucksack ist so schwer, dass sie ihn selbst kaum hochheben kann, die Schuhe sind so klein, dass sie sich wunde Füße läuft und für ihren Kocher hat sie das falsche Öl gekauft. Es gibt zahlreiche Momente, die zum Schmunzeln einladen: im Gedächtnis geblieben ist mir der Versuch von Cheryl Strayed, im Motelzimmer zum allerersten Mal ihren Rucksack aufzusetzen, den sie auf den Namen Monster getauft hat. Auch das Tagespensum, das sie sich vornimmt, stellt sich schnell als unrealistisch heraus. Cheryl Strayed ist zuvor nie gewandert und sonderlich fit ist sie auch nicht. Doch trotz mangelnder Planung und fehlender Fitness ist die Solo-Wildnis-Trekkerin unfassbar zäh, auch wenn sie zweifelt und kämpft, durch Hitze und Schnee wandert und ihr zwischendurch immer wieder das Geld ausgeht: ans Aufgeben denkt sie zwar immer mal wieder, doch sie tut es nie. Sie erwandert sich die ruhige und wunderschöne Welt des Pacific Crest Trails und sie erwandert sich diese Welt ganz auf sich allein gestellt. Auch wenn sie immer mal wieder auf andere Wanderer trifft, schließt sie sich diesen nur für kurze Zeit an. Ihr großes Ziel ist es, diesen Weg allein zu beschreiten und dabei vielleicht auch etwas für ihr eigenes Leben zu lernen, das sie fast zerstört hat.

Ich blickte nach Norden, in ihre Richtung – der bloße Gedanke an die Brücke war mir ein Ansporn. Ich blickte nach Süden, wo ich herkam, in das wilde Land, das mich vieles gelehrt und mich demütig gemacht hatte, und erwog meine Möglichkeiten. Mir war klar, dass es nur eine gab. Es gab immer nur eine. Weitergehen.

Cheryl Strayed hat aber natürlich nicht nur ein Wanderbuch geschrieben, sondern gleichzeitig auch ein Buch über sich selbst und ihre Vergangenheit. In Rückblicken erzählt sie immer wieder von Momenten der Trauer und des Schmerzes, von dem frühen Tod ihrer Mutter, von ihrem leiblichen Vater, von ihrer Kindheit, die angefüllt war mit Liebe, aber auch mit viel Verwirrung und Einsamkeit. Ich habe einen Moment gebraucht, bis mir diese Frau, die Kondome in den Wanderrucksack packt, um auf dem Weg vielleicht den einen oder anderen Mann abzuschleppen, sympathisch geworden ist, doch irgendwann konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen: ich habe mitgelitten, mitgefiebert.

Der große Trip hat sicherlich keinen hohen literarischen Anspruch, den braucht dieses Buch aber auch nicht. Es ist auch kein Buch für Menschen, die wirklich am Wandern interessiert sind, denn die Autorin macht fast alles falsch, was man falsch machen kann. Mich hat Der große Trip aufgrund der Lebensgeschichte von Cheryl Strayed fasziniert: auch wenn ich immer wieder schmunzeln musste über ihre Unbedarftheit, hat sie mich doch beeindruckt mit ihrem Durchhaltewillen. Als sie die ersten Schritte auf dem Pacific Crest Trail geht, ist Cheryl Strayed am Boden, doch sie findet auf ihrem Weg nicht nur zur Brücke der Götter, sondern auch zu den Wurzeln ihrer Probleme und zu sich selbst. Der große Trip ist ein Buch, das mich nicht nur unterhalten sondern auch begeistert hat, das mich mutig und nachdenklich gemacht hat. Darüber hinaus ist es ein Buch, das eine ganz andere Art und Weise aufzeigt, wie man mit tiefer Trauer umgehen kann.

11 Comments

  • Reply
    Kathrin
    December 15, 2014 at 4:24 pm

    “Der große Trip” schwirrt seit Katarinas Besprechung in meinem Kopf herum und nun lobst du es auch – ich sollte mich dem Buch wohl wirklich einmal widmen. Bisher hat das Buch schließlich viele begeisterte Leser gefunden – die einzigen negativen Stimmen, die ich gelesen und gehört habe, stammen von erfahrenen Wanderern.

    Im Januar läuft die Verfilmung mit Reese Witherspoon in den deutschen Kinos an, doch ich fürchte, dass ihn die Kinos hier in meiner Umgebung nicht zeigen werde (selbst “12 Years a Slave” lief nur in einem einzigen unabhängigen Kino). Wirst du dir die Verfilmung ansehen? Deine Erinnerungen an das Buch sind so frisch, da wäre ich neugierig, wie du die filmische Umsetzung beurteilst.

    • Reply
      Mara
      December 17, 2014 at 11:21 am

      An die Besprechung von Katarina erinnere ich mich gar nicht mehr, aber schön, dass es mir mit meiner Begeisterung nicht alleine so geht. Für Wanderer ist das Buch in der Tat nicht wirklich geeignet, denn Cheryl Strayed wandert zwar, doch hat sie ihre Wanderung nicht wirklich durchdacht oder gar geplant – für alle anderen, die ein Buch über tiefe Trauer oder eine ungewöhnliche Lebensgeschichte lesen wollen, ist “Der große Trip” dagegen doch geeignet.

      Ich gehe nicht allzu häufig ins Kino, muss ich an dieser Stelle mal geschehen – die Verfilmung mit Reese Witherspoon steht aber ganz oben auf meiner Liste und ich habe es mir fest vorgenommen, mir den Film anzuschauen. Schon allein deshalb, weil mich die Landschaft interessiert, die im Buch beschrieben wird.

      Wenn du dich für die Lektüre entscheiden solltest, wünsche ich dir ganz viel Freude mit dem Buch. Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Kathrin
        December 22, 2014 at 9:47 am

        Hallo liebe Mara,

        die von dir genannte schlechte Vorbereitung ist in der Tat das, was die erfahrenen Wanderer kritisierten: Cheryl Strayed habe sehr leichtsinnig gehandelt und es habe wohl schon erfahrenere und besser ausgestattete Wanderer gegeben, die den Trail nicht überlebten. Andererseits ist dieser Aspekt natürlich gerade spannend, da er Cheryl Strayed vor noch höhere Herausforderungen stellte. Ich bin gespannt, wie mir das Buch gefallen wird.

        Ich würde mich freuen, nach deinem Kinobesuch zu erfahren, was du zum Film meinst – der Trailer sah zumindest schon recht vielversprechend aus. Ich drück die Daumen, dass sich der Kinobesuch für dich lohnt!

        Liebe Grüße aus Erfurt und ein frohes Weihnachtsfest wünscht dir

        Kathrin

        • Reply
          Mara
          January 6, 2015 at 1:42 pm

          Liebe Kathrin,

          deinen Kommentar entdecke ich erst jetzt, da ich den Jahreswechsel mit Bandit auf Amrum verbracht habe. 🙂 Ich habe mich bei diesem Urlaub übrigens manchmal an Cheryl Strayed erinnert gefühlt, da meine Planung auch eher mangelhaft gewesen ist – geklappt hat dann aber dennoch alles. Ich bin schon sehr gespannt darauf, wie dir das Buch gefallen wird und hoffe, du wirst berichten.

          Wenn ich im Kino gewesen bin, werde ich mich auf jeden Fall mit einem Fazit melden!

          Ich hoffe, du bist gut ins neue Jahr gerutscht und hattest erholsame Feiertage.

          Liebe Grüße
          Mara

          • Kathrin
            January 6, 2015 at 1:53 pm

            Liebe Mara,
            kein Grund sich zu entschuldigen. Jeder von uns ist doch mal für ein paar Tage mit anderen Dingen beschäftigt. Und da ich in den letzten Tagen etwas gekränkelt habe und mit Vorstellungsgesprächen und Arbeitsproben beschäftigt war, ist mir auch gar nicht aufgefallen, dass seit meinem Kommentar doch schon wieder so viele Tage vergangen sind.

            Ich hoffe, du und Bandit hattet eine tolle Zeit auf Amrum und ihr seid gut in das neue Jahr gekommen! Hoffentlich war Silvester bei euch nicht zu laut – Hunde und Katzen können dem ganzen Feuerwerk ja meist nichts abgewinnen.

            Was die schlechte Planung angeht: Wenn es um Urlaub geht, verlebt man doch meist die schönste Zeit, wenn man ohne konkrete Pläne startet – dann warten oftmals Überraschungen und Entdeckungen, die einem andernfalls vorenthalten wären.

            Liebe Grüße
            Kathrin

  • Reply
    dj7o9
    December 15, 2014 at 9:25 pm

    Das habe ich auf meinem großen Südost-Asien Trip gelesen und es hat mir auch richtig gut gefallen. wirst Du ihn dir im Kino ansehen ? Ich weiß nicht so recht – ich schwanke noch. Hmmmmm. Schöne Rezension übrigens 🙂

    • Reply
      Mara
      December 17, 2014 at 11:18 am

      Dankeschön und wie schön, dass dir das Buch ebenso gut gefallen hat! 🙂 Ich bin nicht so ganz die große Kinogängerin, aber auf diesen Film bin ich doch neugierig, ich habe fest vor, ihn mir anzuschauen.

  • Reply
    Frank O. Rudkoffsky
    December 16, 2014 at 8:24 am

    Das klingt packend – und um einiges interessanter als Vergleichbares wie “Ich bin dann mal weg”. Vielleicht sollte ich deinem Blog nicht folgen; ich habe gar nicht die Zeit, soviel zu lesen! 😉

    • Reply
      Mara
      December 17, 2014 at 11:08 am

      Hallo Frank,

      das kenne ich, ich folge auch viel zu vielen anderen Blogs mit interessanten Literaturtipps – wann soll man all das nur alles lesen? “Der große Trip” ist in der Tat ein sehr interessantes und vielschichtiges Buch, nur eben nicht für Menschen, die wirklich am Wandern interessiert sind. 😉

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Astrid
    January 25, 2015 at 2:23 pm

    Hallo Mara,

    gestern habe ich mir den Film angesehen. Nur durch Deine Rezi bin ich überhaupt darauf aufmerksam geworden – bin auch kein großer Kinogänger. Mir gefiel der Film wirklich gut – allerdings hatte ich es nicht mehr geschafft das Buch vorher zu lesen, aber ich denke, ich habe auch so alles verstehen können. Was ja nicht bei vielen Buchverfilmungen der Fall ist.
    Dir vielen Dank für die tolle Rezi.
    Liebe Grüße
    Astrid

    • Reply
      Mara
      January 27, 2015 at 3:41 pm

      Liebe Astrid,

      ich danke dir für diese großartige Rückmeldung, über die ich mich sehr gefreut habe. Ich habe den Film noch nicht gesehen, er steht aber ganz oben auf der Liste – ich hoffe, ich bekomme bald die Möglichkeit, ihn mir anzuschauen. Wie schön, dass er dir gefallen hat! 🙂 Das Buch ist sicherlich keine hohe Literatur, aber diese Frau hat mich wirklich begeistert!

      Liebe Grüße
      Mara

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