Die Nächte auf ihrer Seite – Annika Reich

Annika Reich legt mit Die Nächte auf ihrer Seite einen klugen Roman vor, der uns vom Tahrir-Platz in Ägypten bis in einen Berliner Hinterhof führt. Der Roman ist einerseits getragen von Leichtigkeit, bohrt sich aber andererseits auch tief ins Hirn beim Lesen.

Annika Reich

Sie gehen in einem Abstand nebeneinander her, der sich weder verringert noch vergrößert. Bestriche man ihre Fußsohlen mit Farbe, wären zwei parallele Linien sichtbar.

Die Nächte auf ihrer Seite vereint zwei Erzählebenen: da gibt es Ada, die als Kamerafrau arbeitet und alleinerziehende Mutter ist. Sie lebt getrennt von ihrem Mann Farid, der einen Feinkostenladen betreibt. Ihrer Tochter Fanny wird sie nicht gerecht – zumindest überkommt sie immer wieder das Gefühl, keine gute Mutter zu sein. Sie hadert damit, dass sie eine Mutter mit Unterbrechungen ist. Bei ihrem aktuellen Projekt arbeitet sie mit dem experimentellen Regisseur Olaf zusammen. Gemeinsam besuchen sie ihre Familien und filmen den Alltag der eigenen Eltern. Ein seltsames Vorhaben, das an Schlingensief erinnert und ziemlich avantgardistisch klingt. Ada lebt ein Leben, in dem sie nie wirklich angekommen ist. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, muss sie Tätigkeiten nachgehen, die sie eigentlich nie machen wollte. Sie hat Affären und Liebhaber, doch all das ist mit so viel Heimlichkeit belegt, dass keiner ihrer Männer zu einem wirklichen Bestandteil ihres Lebens werden kann. Auf Farids wechselnde Freundinnen ist sie immer noch fürchterlich eifersüchtig. Als er ihr gesteht, dass er wieder Vater wird, kauft sie sich erst einmal einen Schnaps. Statt Leidenschaft herrscht bei Ada eine gewisse Starre und Trägheit, als würde sie sich im Wartemodus befinden, während sie anderen hinter ihrer Kamera beim Leben zuschaut.

Es war nicht leicht, eine Mutter mit Unterbrechungen zu sein. Farid war mit seiner Rolle als Vater verschmolzen, aber sie nicht, bei ihr dauerte es immer eine Weile, bis sie wieder in ihre Rolle fand. Manchmal wunderte sie sich sogar, überhaupt eine Mutter zu sein.

Die zweite Erzählebene zeigt Sira, die sich hinaus wagt in die Welt: im Januar 2011 besucht sie ihre Familie in Kairo. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, doch ihre Eltern kommen aus Ägypten. Während sie sich zunächst noch fremd und wie eine Touristin fühlt, überrollen sie die Ereignisse rund um die Revolution auf dem Tharir-Platz. Gemeinsam mit ihrer Cousine ist sie mitten drin im Getümmel und ist plötzlich bereit, für eine nationale Identität zu sterben, die sie in Deutschland mühevoll abgelegt hatte, um nicht mehr als Ausländerin aufzufallen. Die Revolution verändert Sira, die Gefühle prägen sie und während sie sich zuvor immer in Ägypten fremd gefühlt hat, fühlt sie sich plötzlich nicht mehr in Kreuzberg zu Hause. Wie kann man dort dem alltäglichen Leben nachgehen, wenn man erlebt hat, was sie erlebt hat? Wo gehört sie eigentlich hin? Wo ist sie zu Hause?

Sie liefen durch die schwere, lackierte Tür des Vorderhauses, querten in unterschiedlichen Gangarten den Hof, verschwanden im Hinterhaus und kehrten eine Stunde später wieder zurück – immer im Kreis von morgens bis abends. Ein Reigen aus Tripplerinnen und Trottern, und alle heulten sie den Mond an. 

Neben diesen beiden Erzählsträngen gibt es noch zwei weitere Handlungsebenen: zum einen flicht Annika Reich die Tagebucheinträge von Fanny in die Erzählung mit ein. Das Mädchen wünscht sich, sie könnte die Trennung der Eltern rückgängig machen, ungeschehen. Ein geteiltes Leben zwischen Vater und Mutter ist nicht immer einfach. Zum anderen betätigt sich Ada als Beobachterin und filmt mit ihrer Kamera Menschen, die auf dem Weg zu einem Paartherapeuten durch ihren Innenhof laufen. Annika Reich hält in kurzen Miniaturen die Tripplerinnen und Trotter fest, die mit ganz unterschiedlichen Ängsten und Hoffnungen tagtäglich den Hinterhof durchqueren. Im Roman werden diese kurzen Miniaturen als Reigen betitelt – in Anlehnung an Schnitzler.

Den Mauerfall hatten sie vor dem Fernseher erlebt. Ihre Mutter und sie hatten geweint, wie sie bei allen Filmen weinten, die sich plötzlich doch noch zum Guten wendeten. Und ihr Vater hatte von einem historischen Moment gesprochen, den sie niemals vergessen würden. Doch kaum waren ein paar Wochen vergangen, hatten sie ihn schon so gut wie vergessen. Zum Tag der deutschen Einheit waren sie dann in den Zirkus gegangen. Einen solch historischen Tag müsse man feiern, hatte ihr Vater gesagt. Geändert hatte sich nichts für sie. Vielleicht kam sie sich deswegen Menschen wie Regina und ihrer Familie gegenüber immer so naiv vor, weil die eine Geschichte hatten und sie nur ein Leben.

Die Nächte auf ihrer Seite setzt sich aus vielen Versatzstücken zusammen, die ein stimmiges Ganzes ergeben. Im Mittelpunkt stehen Ada und Sira, die beide verzweifelt ihren Platz im Leben suchen. Ein zentrales Element ist auch die Liebe, es ist sicherlich kein Zufall, dass Ada Menschen filmt, die eine Eheberatung aufsuchen – ist ihre eigene Ehe doch gescheitert. Während Sira eine neue Identität in den Wirren der Revolution findet, fühlt sich Ada seltsam abgeschnitten vom Weltgeschehen. Sie gehört nirgendwo so richtig dazu, nicht einmal die Wende hat sie wirklich miterlebt. Annika Reich erzählt das alles mit einer ungeheuren Leichtigkeit, die doch irgendwann beginnt schwer zu werden. Ada und Sira wirken so festgefahren und still gefroren: ich hätte mir manchmal gewünscht, den Roman betreten zu können, um die Figuren an die Hand zu nehmen oder sie zu schütteln. Es geht nicht allein um die Frage, wie man leben und lieben kann, es geht dann doch irgendwie um so viel mehr: um die eigene Geschichte, die eigene Identität, die Verbindung zu den Eltern und wie man in all diesem Gewirr heutzutage noch einen Platz finden kann, an dem man sich zu Hause fühlt. Am besten gefallen hat mir aus diesem Grund auch das etwas seltsame Filmprojekt, in dessen Rahmen Annika Reichs Figuren ihre Eltern besuchen – dabei entstehen bedrückende und eindrückliche Szenen, die mir noch lange im Gedächtnis geblieben sind.

Annika Reich legt mit Die Nächte auf ihrer Seite einen lesenswerten und poetischen Roman vor, dem es gelingt Inhalt und Form auf eine spielerische Art und Weise zu verbinden.

Annika Reich: Die Nächte auf ihrer Seite. Roman. Hanser Verlag, München 2015. 224 Seiten, €18,90. Weitere Rezensionen gibt es hier: im Bücherwurmloch, bei der Bibliophilin und auf Literaturen.

Verlosung Annika ReichWer jetzt neugierig geworden ist, der hat die Chance, ein Exemplar vom Die Nächte auf ihrer Seite zu gewinnen. Hinterlasst mir einfach bis zum 15.6. um 24 Uhr einen Kommentar oder schreibt mir eine E-Mail an mara.giese@buzzaldrins.de. Viel Glück!

19 Comments

  • Reply
    serendipity3012
    June 9, 2015 at 4:14 pm

    Mir hat das Buch auch gut gefallen. Die Autorin hat das gut hinbekommen, auf doch eher wenig Seiten Einiges unterzubringen. (An der Verlosung möchte ich dann nicht teilnehmen, weil ich das Buch ja schon kenne :-))

    • Reply
      Mara
      June 13, 2015 at 6:09 pm

      Wie schön, dass dir das Buch ebenfalls gut gefallen hat. Ich war auch sehr angetan davon, wie es Annika Reich gelingt, auf wenig Seiten und mit wenig Worten, doch so viel zu erzählen. Ich freue mich nun schon darauf, auch ihre anderen Bücher zu entdecken …

  • Reply
    sylvi29
    June 9, 2015 at 4:27 pm

    Bei dem Titel und Coverbild hätte ich diesen Inhalt nicht erwartet. Na ja, beim Hanser Verlag kann es nicht anders sein. Der ist schon klasse. Genau wie deine detallierten Rezensionen, Mara!

    • Reply
      Mara
      June 13, 2015 at 6:07 pm

      Oh ja, beim Hanser Verlag finde ich eigentlich immer wieder schön und lesenswerte Bücher – der Verlag veröffentlicht wirklich viele Bücher in hoher Qualität. Wie schön auch, dass dir meine Besprechung gut gefallen hat. 🙂

  • Reply
    irveliest
    June 9, 2015 at 5:27 pm

    Mal wieder eine interessante Rezi, die auf ein wohl sonst unbeachtetes Buch aufmerksam macht….jedenfalls bei mir 🙂

    • Reply
      Mara
      June 13, 2015 at 6:06 pm

      Das freut mich sehr! 🙂 Das Buch wurde zwar auch in einigen anderen Blogs besprochen, doch auch ich würde dieser Geschichte mehr Aufmerksamkeit und mehr Leser wünschen … sie hätte es verdient. Deshalb freue ich mich, dass ich dich neugierig machen konnte.

  • Reply
    Gabriele Ritter
    June 9, 2015 at 5:41 pm

    Danke für die Rezi!

    Da steckt offenbar viel in dem Buch drin, über das sich zu reden lohnt. Wäre das eine Lektüre für meinen Literaturkreis?

    • Reply
      Mara
      June 9, 2015 at 5:44 pm

      Liebe Gabriele,

      herzlich Willkommen auf meinem Blog und danke für deinen Kommentar. Ich glaube, dass das Buch auf jeden Fall eine tolle Lektüre für einen Literaturkreis wäre – die ganzen Themenfelder bieten sich für spannende Diskussionen an. Vielleicht auch gerade die politische Dimension des Romans (Revolution, Ost-/West).

      Hüpf in den Lostopf und vielleicht hast du ja Glück
      Mara

  • Reply
    Anne
    June 9, 2015 at 6:22 pm

    Das Buch ist mir jetzt schon an verschiedenen Orten im “Literaturinternet” begegnet – ich bin neugierig!

    • Reply
      Mara
      June 13, 2015 at 6:05 pm

      “Literaturinternet” – was für ein schönes Wort! Ich kann dir das Buch nur ans Herz legen! 🙂

  • Reply
    seestern12
    June 10, 2015 at 3:33 am

    Hallo Mara,
    Deine Rezension ist sehr interessant. Ich habe das Buch in einem Bludenzer Buchladen gesehen. Obwohl mir das Cover gefiel, habe ich es mir nicht angeschaut. Nach deiner Besprechung werde ich mir nun doch mal eine Leseprobe auf meinen Tolino laden.
    Liebe Grüße,
    Petra

    • Reply
      Mara
      June 13, 2015 at 6:04 pm

      Liebe Petra,

      ich finde das Cover auch hochinteressant – das Bild ist aus dem Buch “In Pieces” von Marion Fayolle und ich finde, dass es sehr gut zu dem Buch passt. Ich bin schon gespannt darauf, wie dir die Leseprobe gefallen wird.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Maren Wulf
    June 10, 2015 at 7:20 am

    Liebe Mara, das Buch werde ich bestimmt demnächst mal lesen. Dabei spekuliere ich gar nicht auf den Lostopf. Im Gegenteil befällt mich angesichts ausgelobter Bücher oftmals eher so etwas wie Kommentier-Scheu. Aber deine Rezension hat einen unglaublichen Sog auf mich ausgeübt. Sehr schön geschrieben! Das wollte denn doch gesagt werden. 😉 Liebe Grüße!

    • Reply
      Mara
      June 13, 2015 at 6:02 pm

      Liebe Maren,

      ich freue mich natürlich, dass ich dein Interesse an dem Buch wecken konnte – mir hat die Lektüre wirklich nicht nur großen Spaß gemacht, sondern sie hat auch viel in mir angestoßen. Ich schreibe dir aber vor allen Dingen, um dich dazu zu ermutigen, die Kommentier-Scheu bei Gewinnspielen abzulegen. Bei Gewinnspielen ist meine größte Angst immer, dass niemand kommentieren wird (manchmal bekomme ich sogar Alpträume deswegen ;)). Ich freue mich also über jeden Kommentar, vor allen Dingen dann, wenn ich tatsächlich das Interesse am Buch wecken konnte.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    jancak
    June 10, 2015 at 9:40 am

    Würd ich gern gewinnen

  • Reply
    Annika Reich im Gespräch! | Buzzaldrins Bücher
    June 11, 2015 at 11:03 am

    […] diesem Frühjahr ist Annika Reichs neuer Roman Die Nächte auf ihrer Seite erschienen – ich habe das zum Anlass genommen, mich mit der Autorin auf der Leipziger […]

  • Reply
    ODudek
    June 12, 2015 at 12:35 pm

    Hallo Mara,
    das klingt sehr interessant. Ich würde das Exemplar gern gewinnen.
    Viele Grüße
    Oliver

  • Reply
    Andrea
    June 12, 2015 at 9:57 pm

    ja, schön, bin dabei

  • Reply
    Mara
    June 18, 2015 at 5:11 pm

    Ihr Lieben,

    mit leichter Verzögerung habe ich nun das Gewinnspiel ausgelost und den Gewinner per Mail benachrichtigt. Ich hoffe, dass all diejenigen, die leer ausgegangen sind, nicht enttäuscht sind – es wird bald wieder die Möglichkeit geben, etwas zu gewinnen.

    Liebe Grüße
    Mara

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