Eine Nacht und alles – Katrin Seddig

Katrin Seddig erzählt schonungslos und doch mit großer Zärtlichkeit von der Liebe und dem Glück, von Neuanfängen und der Angst davor im Alten und Bekannten zu ersticken. Ein Roman, der keine große Geschichte erzählt, aber dafür eine, die wie aus dem Leben gegriffen scheint. Eine Geschichte, die jedem von uns passieren könnte.

Seddig

Irene sieht ihn, auch wenn die Tür geschlossen ist. Sie sieht Per immer, er hat sich bildlich in ihr verewigt, sie sieht ihn, wenn er gar nicht da ist. Das ist Partnerschaft. Inwendig und auswendig.

Die Ehe ist ein Thema, das Katrin Seddig zu verfolgen scheint. Schon in ihrem letzten Roman, der den passenden Titel Eheroman trug, beschäftigte sie sich eingehend mit der Ehe: vom schönen Beginn bis hinein in die dunkelsten Momente. Auch in Eine Nacht und alles geht es um eine Ehe, um die von Irene und Per. Beide sind Mitte vierzig und seit vielen Jahren miteinander verheiratet. Die gemeinsame Tochter ist fast erwachsen und schon ausgezogen – statt weiter bei den Eltern zu leben, bricht sie die Schule ab und schließt sich einer alternativen Kommune an. Trotzdem scheinen Irene und Per glücklich miteinander zu sein; sie ist Studienberaterin an der Universität und er ein schwedischstämmiger Gymnasiallehrer. Doch als Irene eines Abends mit zwei Freundinnen ausgeht, lernt sie einen Mann kennen, mit dem sie die Nacht zusammen verbringt. Plötzlich ist alles anders. Eine Nacht und alles ist anders. Eine Nacht und nichts ist mehr so, wie es sich zuvor angefühlt hat.

Sie sollte längst zu Hause sein. Früh ist schon zu spät. Sie braucht ein Taxi. Aber sie weiß nicht, wo sie ist. Sie weiß nicht die Straße, sie weiß nicht den Namen unten am Klingelschild, sie weiß nicht einmal den Stadtteil. Aber vor allem muss es schnell gehen, denn es ist schon spät, zu spät, es ist viel zu spät, wie konnte sie nur einschlafen? Sie steigt in ihr zerknittertes Kleid, das vor dem Bett liegt wie eine alte abgestreifte Haut, nach ihrem Parfüm duftend, nach Rauch und nach Küssen.

Das, was zuvor beständig gewesen ist, fühlt sich plötzlich langweilig und erdrückend an. Irene stellt von einer Nacht auf die andere alles in Frage: ihre Beziehung zu Per und das gemeinsame Leben, aber auch ihre Rolle als Mutter. Hat sie versagt, wenn die noch nicht volljährige Tochter mit einem Jesusjünger abhaut? Ist sie überhaupt noch glücklich mit Per? Ist er ihr nicht eigentlich zu dick und unbeholfen? Wo ist die Leidenschaft und wo ist die Liebe geblieben?Ist etwa die ruhige Beständigkeit die wahre Form der Liebe? Und was ist mit ein wenig Abenteuer und Aufregung? Ist das Leben mit vierzig schon vorbei, oder kommt da noch etwas? Eigentlich könnte Irene zufrieden sein, mit dem was sie hat, doch plötzlich spürt sie einen nagenden Mangel.

Es ist ein Mangel, der möglicherweise schon immer dagewesen ist, den sie jedoch nie zugelassen hat. Irene wirkt wie eine Getriebene. Statt sich mit der zerbrechenden Beziehung zu ihrer Tochter auseinanderzusetzen, nimmt sie Yasemine auf. Ein junges Mädchen, das sie auf einem Rastplatz kennen lernt und das für einen kurzen Moment zu einer Art Ersatztochter wird, die bemuttert werden muss. Statt an der Beziehung mit Per zu arbeiten, flüchtet sie sich in ein neues Abenteuer mit fragwürdigem Haltbarkeitsdatum. Da wünschte ich mir dann doch schon ein paar Mal fast die Buchseiten betreten zu können, um Irene sanft zu schütteln.

Eine Welt, in der es schwierig ist festzustellen, was das Richtige ist, weil es so viele Aspekte des Richtigen gibt, dass es eigentlich das Richtige nicht mehr gibt. Vielleicht hat es nie eine andere Welt gegeben.

Irene passiert das, vor dem viele Angst haben. Ihr passiert aber auch das, was sich höchstwahrscheinlich einige wünschen. Sie bricht aus einer Beziehung aus, die sich schon lange gleichförmig und mittelmäßig anfühlt, um sich einem neuen Mann in die Arme zu werfen, der ihr all das verspricht, was ihr in ihrem biederen Leben fehlt. Katrin Seddig gelingt es, diesen doch einfachen Plot mit großer Erzählkunst zu erzählen. Lakonisch und frei von Pathos erzählt die Autorin von einer zerbrechenden Ehe, vom Verschwinden der Liebe und vom Leben in der Mittelmäßigkeit.

Sie ist willig. Sie denkt, dass sie willig ist und Hilfe braucht, wegen ihrer Einsamkeit und all den Dingen, die schiefgelaufen sind. Wegen Esther, wegen Yasemine, vielleicht sogar wegen Markus, von ganz ferne her, von damals her, sie braucht etwas, das alles andere überdeckt und die kleinen Mulden füllt und die großen Gräben überbrückt.

Das, was mich an diesem Buch jedoch am meisten beeindruckt hat, ist die Sprache gewesen. Katrin Seddig reiht wunderbare Wörter wie auf einer Kette aufeinander und ich wünschte mir beim Lesen, dass ich mir den einen oder anderen Satz um den Hals hängen könnte. Irgendwie sind mir alle ein bisschen ans Herz gewachsen: Irene, Per, Yasemine, die ausgebüxte Tochter. Was bleibt am Ende? Vielleicht die Erkenntnisse, dass uns ein anderer nicht glücklich machen kann, sondern dass wir alle selbst für unser Glück verantwortlich sind. Aus diesem Grund kann ich euch nur empfehlen, in die nächste Buchhandlung zu gehen, dieses Buch zu kaufen und es sofort zu lesen. Es wird euch glücklich machen.

10 Comments

  • Reply
    Pop-Polit
    July 10, 2015 at 12:35 pm

    Durchaus beeindruckend, das Buch, da stimme ich dir zu.

    • Reply
      Mara
      July 14, 2015 at 3:22 pm

      Das freut mich sehr! 🙂

  • Reply
    the lost art of keeping secrets
    July 10, 2015 at 12:49 pm

    Liebe Mara,

    das klingt wirklich nach einem ganz tollen Roman. Seddig sagte mir vorher gar nichts, deshalb vielen Dank für den Tipp, denn was ich bisher bei dir über ihre Romane gelesen habe, gefällt mir. Es klebt ein kleiner gelber Klebezettel in meinem Kalender, da stehen nur Bücher drauf, die wirklich wirklich gut klingen. Das dämmt wilde Kauflust etwas. Der Klebezettel ist sehr klein, aber er wird immer voller. Auch durch so schöne Rezensionen. Kennst du neben dem Eheroman auch noch andere Romane von Seddig, die sich lohnen?

    Einen sonnigen Tag,
    eva

    • Reply
      Mara
      July 14, 2015 at 3:18 pm

      Liebe Eva,

      ich habe Katrin Seddig damals durch ihren “Eheroman” entdeckt, den ich sehr gerne gelesen habe. Das Buch gibt es mittlerweile auch schon als Taschenbuch. Die Idee mit dem Klebezettel finde ich – übrigens – ganz großartig, vielleicht wäre das auch etwas für mich. “Eine Nacht und alles” ist darauf in jedem Fall gut aufgehoben.
      Andere Bücher von ihr kenne ich leider noch nicht, ihr Debütroman “Runterkommen” steht nun aber ganz oben auf meiner Wunschliste.

      Einen lieben Gruß
      Mara

      • Reply
        the lost art of keeping secrets
        July 17, 2015 at 7:42 am

        Liebe Mara,

        das Debüt von ihr klingt auf jeden Fall gut. Ich höre schon die Buchhandlung rufen 😉

        Liebe Grüße,
        eva

  • Reply
    Stefan
    July 12, 2015 at 9:25 am

    Liebe Mara,

    der Plot klingt so einfach, aber es ist dennoch so schwer ihn so zu erzählen, dass er einen wirklich berührt. Das scheint Seddig nach Deiner sehr schönen Beschreibung gelungen zu sein.

    Also lass ich meine Liste der zu kaufenden Bücher weiter und immer weiter anwachsen 😉

    Viele Grüße
    Stefan

    • Reply
      Mara
      July 14, 2015 at 3:08 pm

      Lieber Stefan,

      an einem Weiterwachsen deiner List bin ich gerne schuldig – gerade auch dann, wenn es sich um so schöne Bücher handelt. Ich werde mir nun auch noch den Debütroman von Katrin Seddig vornehmen und bin schon sehr gespannt darauf. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Nanni
    July 12, 2015 at 10:31 am

    Liebe Mara,

    eine sehr schöne Rezension.
    Das Buch klingt, als könnte es was für mich sein.
    Ich mag ja gerne Familiengeschichten, in denen man genau hinter die Fassade schauen muss.

    Liebe Grüße Nanni

    • Reply
      Mara
      July 14, 2015 at 12:53 pm

      Liebe Nanni,

      ich danke dir und freue mich, dass ich dich neugierig machen konnte! 🙂 Ich glaube, dass das Buch auf jeden Fall etwas für dich sein könnte und bin schon ganz gespannt darauf, wie es dir gefallen sollte … falls du dich entscheidest, es zu lesen.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Deutscher Buchpreis: der große Favoritencheck!
    August 13, 2015 at 1:46 pm

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