Abendland – Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier erzählt die Lebensgeschichte von Carl Jacob Candoris – Mathematiker, Universitätsprofessor, Weltbürger und Jazz-Fan. Entstanden ist dabei ein Roman, wie ich ihn selten zuvor gelesen habe: klug, prall, vielschichtig und fesselnd. Abendland ist das Porträt einer ganzen Epoche und ein meisterhaftes Buch.

Abendland

Heute vor einem Jahr, am 18. April 2001, starb Carl Jacob Candoris. Er wurde fünfundneunzig Jahre alt. Bis zu seiner Emeritierung war er als Professor für Mathematik an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck tätig gewesen.

Was für ein mächtiger Roman! Wenn ich bei diesem Buch eine Metapher gebrauchen müsste, dann wohl die eines Puzzles: Abendland besteht aus ganz vielen Teilen und die Aufgabe des Lesers ist es, den Überblick nicht zu verlieren. Ich weiß nicht, ob ich alle Teile richtig zusammengesetzt habe. Das Lesen erfordert hohe Konzentration und die Fähigkeit, sich auf den sprunghaften Erzählstil einzulassen. Und doch war die Lektüre für mich verbunden mit einem großen Glücksgefühl und intensiver Lesefreude. Aber vielleicht sollte ich von vorn beginnen!

Michael Köhlmeiers Roman Abendland umfasst 775 Seiten und einen umfangreichen Handlungsrahmen. Es gibt eine Vielzahl roter Fäden, an denen sich der Leser entlang hangeln muss; zahlreiche Figuren bevölkern das Buch. Es ist die Lebensgeschichte von Carl Jacob Candoris, die im Mittelpunkt dieses Romans steht. Im hohen Alter wünscht er sich, dass Sebastian Lukasser seine Biografie niederschreibt. Es ist eine Biografie, die einer Lebensbeichte gleicht und dabei nicht weniger als die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts umfasst. Es geht um Mathematik, um Jazz, um Liebe und um Eifersucht. Die Geschichte führt uns von Portugal nach Amerika, von Göttingen nach Wien. Es geht aber auch um die besondere Beziehung zwischen Carl Jacob Candoris und seinem Biografen, den er sich nicht zufällig ausgesucht hat. Sebastian ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch sein Patensohn. Außerdem ist er der Sohn des berühmten Jazzmusikers Georg Lukasser, den Candoris im Wien der Nachkriegszeit kennengelernt hat. Beide pflegten damals eine enge Freundschaft und Candoris wachte in Zukunft wie ein Schutzengel über die Familie Lukasser.

Mein Name ist Sebastian Lukasser. Ich bin Schriftsteller, zweiundfünfzig Jahre alt und lebe in Wien, allein; unterhalte eine Beziehung zu einer Frau, die achtzehn Jahre jünger ist als ich und die das, was wir miteinander haben und was wir füreinander sind, genau so bezeichnet hat, nämlich als Unterhaltung – wogegen ich viel einzuwenden hätte, allerdings nicht das, was sie sich erhofft.

In vielen Gesprächen teilt Carl Jacob Candoris seine Lebensbeichte mit seinem Biografen und Patensohn, erzählt von seinem Studium, von seinen Kindheitserinnerungen, von einem Kolonialwarenladen, den sein Großvater betrieb und von seinen seltsamen Verwandten in Göttingen. Diese Lebensbeichte inspiriert den eigentlichen Biografen dazu, selbst Zeugnis abzulegen – seine Geschichte zieht sich durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und erzählt vom schwierigen Verhältnis zu seinen Eltern, von einer Sinnsuche in Amerika, von einem Leben als Schriftsteller und von gescheiterten Beziehungen. Er erzählt sie seinem Sohn David, zu dem er – nachdem die Ehe mit seiner damaligen Frau Dagmar scheiterte – viele Jahre keinen Kontakt mehr hatte. Abendland erzählt also nicht nur ein Jahrhundertpanorama, sondern gleich zwei. Das 20. Jahrhundert doppelt sich in den Erzählungen der beiden Männer, wir erleben zwei Kindheiten, zwei unterschiedliche Karrieren, zwei Leben in einem Jahrhundert. Beide Leben werden eng mit den historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts verwoben: der Erste und der Zweite Weltkrieg finden Erwähnung, aber auch die RAF, die Nürnberger Prozesse, der Bau der Atombombe, der Stalinismus oder das Leben in den afrikanischen Kolonien wird thematisiert.

Es ist ein weiter Bogen, der von Michael Köhlmeier geschlagen wird – zusammengehalten wird der Roman von Carl Jacob Candoris, der wie eine Klammer all die einzelnen Teile miteinander verbindet. Sebastian Lukasser fungiert dabei als Gegenpart. Durch die Erzählungen der beiden entsteht eine Art Doppelporträt, das ergänzt wird durch all die anderen Nebenfiguren, die eine Rolle spielen.

War das nicht unheimlich? Aber es war wunderbar! Das Buch kommentierte mein eigenes Leben! Mir war, als würde ich in die Bücher hineinsteigen und alles, was mir dort etwas bedeutete, mitnehmen in mein Leben, ein literarischer Freibeuter war ich.

An dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein, ob ein solcher – scheinbar überladener – Roman überhaupt funktionieren kann? Ich kann diese Frage nur mit einem klaren ja beantworten. Die verwinkelte Geschichte, die enorme Stoffmasse und die vielen roten Fäden können erschlagend wirken, das möchte ich gar nicht verschweigen und ich muss auch betonen, dass sich dieses Buch nicht mal eben nebenher lesen lässt. Abendland erfordert eine hohe Konzentration und ein Lesegenuss stellt sich wohl auch nur dann ein, wenn man bereit ist, sich auf die Erzählstruktur einzulassen. Die großartige Sprache, in der Michael Köhlmeier dieses komplexe Werk erzählt, hat bei mir jedoch dafür gesorgt, dass ich trotz aller Stolpersteine nie aufhören wollte zu lesen. Ich habe fast zwei Wochen in diesem Buch gewohnt und es hat ein wenig geschmerzt, es beim Zuklappen der letzten Seite wieder zu verlassen.

Abendland ist ein Buch über das Leben und den Tod, über die Liebe und das Sterben, über Musik und Mathematik, über Geschichten und das Schreiben und über Krieg und Frieden. Auf mich hatte der Roman eine förmlich umwerfende Wirkung: klug, detailversessen und inspirierend. Wenn es mal ein Wochenende durchregnet, dann schließt euch mit diesem Buch ein und verschlingt es.

Michael Köhlmeier: Abendland. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2008. 775 Seiten, €9,90. Auf Buzzaldrins Bücher wurden außerdem Zwei Herren am Strand und Die Abenteuer des Joel Spazierer besprochen.

21 Comments

  • Reply
    tigger0705
    August 25, 2015 at 12:28 pm

    Hey Mara,

    Ich hab eine Mail bekommen!!! *hüpf* *freu*

    Schöne Rezi.

    Lg Mel

    • Reply
      Mara
      August 29, 2015 at 1:50 pm

      Wie schön – und jetzt scheine ich sogar wieder zurück im Reader zu sein! 🙂

      • Reply
        tigger0705
        August 29, 2015 at 4:00 pm

        Jaaaa
        Ich hab dich heute gesehen!!!
        Bist wieder da!

  • Reply
    jancak
    August 25, 2015 at 2:19 pm

    Das Buch habe ich nicht gelesen, aber ist es nicht auch einmal auf einer Longlist gestanden?

    • Reply
      Mara
      August 25, 2015 at 2:21 pm

      Ja, 2007 – das Buch kam damals sogar bis auf die Shortlist, gewonnen hat dann aber Julia Franck. Wenn du “Abendland” in einem deiner Bücherschränke findest, solltest du es unbedingt mitnehmen. Ein tolles Buch!

      • Reply
        spamdora
        August 25, 2015 at 5:32 pm

        Jajajajajaaaaaaa … ich bin verliebt in Abendland. Es ist mein allerliebstes Buch ever!

        • Reply
          Mara
          August 29, 2015 at 1:51 pm

          Ach, wie schön – ich mag diese Begeisterung! 🙂 Ich bin auch total begeistert und werde das Buch wohl noch ein paar Mal öfter lesen …

  • Reply
    jancak
    August 25, 2015 at 2:33 pm

    Selbstverständlich, die “Idylle mit Hund” wartet ja schon, wie die “Zwei Herren am Strand”, den “Joel Spazierer”, der es, glaube ich, vor zwei Jahren nicht auf die Liste schaffte, habe ich mit noch einigen anderen Köhlmeier Büchern gelesen, obwohl ich, glaube ich, gar nicht so ein großer Köhlmeier-Fan bin.

  • Reply
    Katharina
    August 25, 2015 at 4:03 pm

    Liebe Mara,
    Hut ab, dass du neben dem longlist Lesen noch Zeit gefunden hast, Abendland abzuschließen und eine so gelungene Rezension zu verfassen. Obwohl meine Lektüre von Abendland schon ein paar Jährchen her ist, kann ich jedem deiner Worte zustimmen. Nun stehe ich vor der schwierigen Entscheidung: Abendland nochmal lesen oder doch Joel Spazierer aus dem Stapel fischen? Tja, das sind doch wahre Luxussorgen ☺️
    Falls du mal Gelegenheit haben solltest, Michael Köhlmeier griechische Sagen erzählen zu hören, lass sie dir nicht entgehen. Ist etwas ganz anderes als seine Romane aber mindestens genauso gelungen und ins Hier und Jetzt geholt, als hätte man es miterlebt.
    Viele Grüße,
    Katharina

    • Reply
      Mara
      August 29, 2015 at 1:56 pm

      Liebe Katharina,

      herzlichen Dank für deinen Kommentar – mich hatte das Buch ja mehr als drei Wochen gefangen genommen und ich wollte es trotz Longlist nicht aus der Hand legen. Mich hat das Buch einfach sehr beeindruckt.
      “Joel Spazierer” habe ich auch gerne gelesen, aber nicht mit einer so ganz großen Begeisterung wie “Abendland”. Ich würde dir aus diesem Grund auf jeden Fall dazu raten, “Abenland” aus dem Regal zu ziehen und noch einmal zu lesen.
      Danke auch für deinen Tipp mit den griechischen Sagen – das habe ich mir gleich notiert!

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Constanze Matthes
    August 25, 2015 at 6:57 pm

    Der Roman hat mich auch sehr begeistert – allerdings erst nach einem zweiten Anlauf. Auch “Joel Spazierer” hat mir sehr gefallen. Von “Zwei Herren am Strand” war ich allerdings enttäuscht, obwohl ich das Thema interessant finde. “Abendland” ist ein Lebensbuch, eines, das man sicherlich auch mehrmals lesen kann, um immer wieder auf schöne Passagen und Gedanken zu stoßen. Aber ich denke auch, dass solche dicken und sehr anspruchsvollen Werke ihre Zeit brauchen, nicht unbedingt in Bezug auf die Dauer der Lektüre, sondern auch mit Blick auf den richtigen Lesestart und die richtige Stimmung gesehen. Im Regal wartet noch Köhlmeiers Roman “Die Musterschüler” auf mich. Sicherlich wird der bald mal gelesen. Viele Grüße

    • Reply
      Mara
      August 29, 2015 at 1:59 pm

      Liebe Constanze,

      deinem Gedanken, dass Bücher ihre Zeit brauchen, kann ich nur beipflichten. Gekauft hatte ich mir das Buch bereits 2008, damals hatte ich noch in Dresden gelebt. Aber erst jetzt habe ich die Lust und die Bereitschaft verspürt, es auch wirklich in die Hand zu nehmen. Ich habe ein paar Seiten gebraucht, um hineinzufinden – dann konnte ich es aber kaum noch aus der Hand legen.
      “Zwei Herren am Strand” habe ich übrigens doch ganz gerne gelesen im vergangenen Jahr – ansonsten kenne ich aber leider noch nichts von Köhlmeier.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Constanze Matthes
        August 29, 2015 at 5:48 pm

        Liebe Mara,

        das ist ja interessant, Du hast mal in Dresden gelebt. Ich stamme selbst aus Sachsen (Landkreis Meißen).

        Liebe Grüße, ein schönes Wochenende und alles Gute für den Umzug
        Constanze

  • Reply
    franzischoenbach
    August 26, 2015 at 5:58 pm

    Das klingt wirklich wirklich sehr faszinierend und nach genau meinem Geschmack. Da weiß ich ja schon, was für die ersten grauen Herbstwochenenden auf meiner Wunschliste landet :). glg Franzi

    • Reply
      Mara
      August 29, 2015 at 2:01 pm

      Liebe Franzi,

      wie schön! Darüber freue ich mich sehr und bin ganz gespannt darauf, wie es dir mit dem Roman ergehen wird.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Thomas Mattern
    August 27, 2015 at 2:27 pm

    großes Lob für deine feinfühlige Rezension. Ja, es gibt solche Bücher, in denen man”wohnen” kann, sich
    richtig zu Hause fühlt und traurig ist, diese Wohnung verlassen zu müssen. Dieses ist eines davon.

    • Reply
      Mara
      August 29, 2015 at 2:05 pm

      Hallo Thomas,

      danke für dein Lob und deine Worte, mit denen du mein Lesegefühl perfekt beschreibst. Genauso erging es mir mit “Abendland” und ich bin immer noch wehmütig, dass ich das Buch “verlassen” musste – solche Bücher findet man wahrlich nicht häufig.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Janine (@Kapri_zioes)
    August 28, 2015 at 9:49 am

    Liebe Mara,
    ich habe dieses Buch seit Jahren im Schrank. Irgendwann habe ich es mal von meinen Eltern zu Weihnachten bekommen. Vielleicht sollte ich mir nun tatsächlich einmal diesen Lesegenuss gönnen. Aber du kennst das ja auch – als Buchblogger sind die Bücherstapel meterhoch und es kommt sowieso immer etwas dazwischen. 😉
    Viele Grüße,
    Janine

  • Reply
    Mara
    August 29, 2015 at 2:08 pm

    Liebe Janine,

    ach, das kenne ich nur zu gut: viel zu viele Bücher und viel zu wenig Zeit. Das ist auch für mich ein wirkliches Dilemma, weswegen ich dich gut verstehen kann. Falls du an einem verregneten Wochenende doch mal Lust auf das Buch verspüren solltest, würde ich mich jedoch freuen und wäre gespannt auf deine Leseeindrücke!

    Liebe Grüße
    Mara

  • Reply
    Ich weiß, was du letzten Sommer gelesen hast - #Lesesommer2015 | Lovely Mix
    November 11, 2015 at 8:59 pm

    […] dritte Rezension auf meiner Liste für den #Lesesommer2015 ist die zu Abendland von Michael Köhlmeier von Mara auf Buzzaldrins. Ich finde ihre Rezensionen schon mal grundsätzlich alle einfach gelungen. Mara hat einen tollen […]

  • Reply
    Ein Jahr in Büchern | Buzzaldrins Bücher
    January 10, 2016 at 9:56 pm

    […] Michael Köhlmeier – Abendland […]

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