Das Vogelhaus – Eva Meijer

Ach, was für ein schönes Buch! Eva Meijer hat sich von der Lebensgeschichte von Len Howard inspirieren lassen, die einen Großteil ihres Lebens in einem kleinen Cottage im Süden von England verbrachte, um dort Vögel zu beobachten. Entstanden ist dabei eine faszinierende Mischung aus Fakten und Fiktion, und ein Buch, in das ich wunderbar abgetaucht bin!

“Verlust heißt begreifen, dass dir nichts je gehört hat. Trauer heißt begreifen, dass die Hoffnung dahin ist; oder vielleicht noch nicht ganz begreifen.”

Len Howard lebte von 1894 bis 1973 und war für ihren ungewöhnlichen Zugang zur Vogelbeobachtung bekannt. Sie war keine studierte Biologin, oder gar Vogelforscherin – doch die Geheimnisse der Vogelwelt waren der Lebensinhalt, der ihr am meisten am Herzen lag. Sie schrieb leidenschaftlich gerne Artikel für eine Vogelzeitschrift und ihre beiden Bücher Birds as Individuals und Living with Birds waren in der damaligen Zeit Bestseller. Heutzutage sind beide Bücher nur noch antiquarisch erhältlich und der Name Len Howard ist schon längst vergessen.

Es war ein Zufall, dass Eva Meijer über ihre Forschungen stolperte und den Entschluss fasste, dass das Leben dieser ungewöhnlichen Frau zu interessant ist, um es in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie hat sich die wenigen Fakten, die aus dem Leben von Len Howard bekannt waren, genommen und sie mit fiktionalen Elementen ergänzt – abgerundet wird das Buch mit Kapiteleinschüben über die Vögel, mit denen Len Howard in ihrem Cottage lebte.

“Die Kohlmeisen haben unterschiedliche Warnrufe, ich habe bis jetzt drei identifiziert – einen für Menschen, einen für große Vögel aus der Luft, einen für Tiere am Boden. Es gibt bestimmt noch weitere, das Problem ist nur, dass die Rufe individuell riesengroße Variationen aufweisen. Darüber hinaus folgen die Töne so dicht aufeinander, dass mir immer so ist, als entgehe meinen Menschenohren etwas. Ich müsste mich intensiver einarbeiten, aber ich weiß nicht, wie ich das mit dem Geigenspiel vereinbaren soll.”

Len Howard war schon immer etwas anders, als die anderen Menschen. Als Kind faszinierten sie die Vögel, die sie im Garten ihrer Eltern fand und die von ihrem Vater manchmal aufgepäppelt wurden. Als Jugendliche verließ sie etwas überstützt ihre Familie, um in London professionell Geige zu spielen. Doch mit den Gedanken war sie fast immer in der Welt Vögel. Irgendwann fasste sie den Entschluss, London und ihre Geige hinter sich zu lassen und in ein abgelegenes Cottage in den Süden Englands zu ziehen. Dort entwickelte sie einen ganz neuen Blick auf die Natur, mit der sie so sehr verschmolz, dass die Vögel damit begannen, sich auch im Cottage zu Hause zu fühlen. Manchmal hatte ich beim Lesen schon fast den Eindruck, dass sie die Vögel gar nicht unbedingt erforschte oder untersuchte, sondern viel mehr mit ihnen zusammen lebte.

Len Howard kommt im Laufe dieser Zeit zu erstaunlichen Erkenntnissen, sie bringt ihren Vögeln zum Beispiel das Zählen bei. Als direkt neben ihrem Cottage das Gelände für einen Freizeitpark gebaut werden soll, ist sie aufgelöst, weil sie Angst hat, dass die Vögel vertrieben werden könnten. Die Baupläne für den Park werden gestoppt, aber am Ende ihres Lebens traut sie sich trotzdem irgendwann nur noch selten, Besuch zu sich einzuladen, weil sie befürchtet, dass Eindringlinge diese besondere Gemeinschaft zerstören könnten. Es ist kein Wunder, dass Len Howard von ihren Mitmenschen belächelt – oder auch seltsam beäugt – wird.

Ich erzähle ihr, dass ich Worte manchmal fürchte, weil sie Dinge einfangen, die man besser nicht einfangen sollte – es sei viel einfacher, mit der Geige zu sagen, was ich meine. Sie sagt, dass es nicht die Worte sein können, die mir Angst machen, denn die seien doch nur Hülsen, Träger von etwas anderem.

Ich mochte Das Vogelhaus sehr gerne – Eva Meijer erzählt die Lebensgeschichte von Len Howard ruhig, behutsam und mitfühlend, es ist nicht schwer diese ungewöhnliche Frau ins Herz zu schließen. Ich musste mich zwischendurch immer mal wieder daran erinnern, dass das hier keine Biographie ist, sondern eine Mischung aus Fakten und Fiktion – ich wünschte, wir würden heutzutage noch mehr über Len Howard wissen. Sie hat immerhin zwei Bestseller geschrieben und sie war ihrer Zeit schon damals weit voraus. Es war ihr wichtig, Vögel in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten, sie wollte keinen Abstand und keine Distanz, sie wollte mit ihnen zusammen leben, zusammen alt werden. Es ist deshalb auch besonders tragisch, dass dem Wunsch in ihrem Testament, ihr Cottage dem Sussex Naturalists Trust als Auffangstation zu vermachen, nicht nachgegangen wurde. Stattdessen wurde das Haus für viel Geld verkauft und die Bäume des Gartens abgeholzt.

Vielleicht hat mich das Buch auch so sehr beeindruckt, weil es so gut zu vielen Fragen unserer heutigen Zeit passt: Wie wollen wir mit der Natur umgehen? Wie wollen wir uns tierischen Lebenwesen und der Umwelt gegenüber verhalten? Ich glaube, ein Buch wie Das Vogelhaus kann dazu anregen, sich selbst Fragen zu stellen und vielleicht irgendwann sogar umzudenken. Ich wünsche dem Buch und der Lebensgeschichte dieser ganz besonderen Frau ganz viele begeisterte Leser*innen!

Eva Meijer: Das Vogelhaus. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. btb Verlag, München 2019. 305 Seiten, 11€.

4 Comments

  • Reply
    Petra Wiemann
    April 6, 2020 at 2:58 pm

    Deiner Empfehlung kann ich mich nur anschließen – ein ganz wunderbares Buch!

    • Reply
      Linus
      April 13, 2020 at 2:09 pm

      Es freut mich, dass es dir ebenso gut gefallen hat!

  • Reply
    Christoph
    April 6, 2020 at 5:48 pm

    Das Buch hatte ich schon vor längerer Zeit ins Auge gefasst, es dann aber doch leider wieder vergessen. Nun muss ich es doch unbedingt einmal lesen — danke für die Erinnerung!

    • Reply
      Linus
      April 13, 2020 at 2:10 pm

      Ich hatte es fast ein halbes Jahr ungelesen im Regal stehen und erst jetzt gedacht, dass es endlich mal die richtige Zeit sein könnte, es zu lesen. Viel Spaß bei der Lektüre!

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