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Sachbücher

Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression – Andrew Solomon

Andrew Solomon hat mit Saturns Schatten ein umfangreiches und beeindruckendes Buch über Depressionen vorgelegt. Er mischt eigene Erfahrungen, mit Fallstudien, medizinischen Erklärungen und philosophischen Betrachtungen. Obwohl schon ein paar Jahre alt, hat es für mein Gefühl nichts von seiner Kraft, seiner Klugheit und seinem Wissen verloren.

Im depressiven Zustand liegt klar auf der Hand, dass jedes Unterfangen und jede Regung, ja das ganze Leben sinnlos ist. In dieser Lieblosigkeit empfindet man nur noch eines, nämlich dass absolut nichts von Bedeutung ist.

Andrew Solomon hat mit Saturns Schatten ein umfangreiches, manchmal fast schon erschlagendes, Werk über Depressionen vorgelegt. Es ist so dicht, so voll, so intensiv, dass ich mehrere Wochen brauchte, bis ich es durchgelesen hatte – aber als ich die letzte Seit zuklappte, hatte ich tatsächlich das Gefühl, viel gelernt und mitgenommen zu haben.

Der Autor schreibt aus einer persönlichen Betroffenheit heraus: als er Mitte zwanzig war, erkrankte er schwer an Depressionen. In den folgenden Jahren kam es zu mehreren Rückfällen – während der fünfjährigen Arbeit an diesem Buch erlebte er gleich zwei schwere depressive Episoden. Andrew Solomon schreibt ehrlich und ungeschönt über seine Erkrankung, aber auch über die Auswirkungen seiner Depression auf seine Angehörigen.

Danach ging es stetig mit mir bergab. Ich konnte immer schlechter arbeiten, sagte Einladungen ab, redete mir ein, nicht liebenswert zu sein und nie wieder eine Beziehung eingehen zu können, verspürte keinerlei sexuelle Bedürfnisse und aß auch nur noch unregelmäßig, da ich selten Appetit hatte. Meine Analytikerin schob das alles auf die Depression, doch ich konnte das Wort, ja, ihr ganzes Gerede, nicht mehr hören. Ich sei nicht verrückt, protestierte ich, befürchte aber, es zu werden.

Das Besondere an Saturns Schatten ist sicherlich der Stil: Andrew Solomon verwebt auf faszinierende Art und Weise seine eigene Geschichte mit Betrachtungen aus der Medizin, der Philosophie oder auch der Politik. Er blickt zurück in die Vergangenheit, beschäftigt sich mit unterschiedlichen Therapieansätzen, setzt sich mit der Pharmaindustrie auseinander und erzählt dabei immer aus seiner eigenen Perspektive heraus, aber auch aus dem Wissen heraus, das er sich in den fünf Jahren Arbeit an seinem Buch erarbeitet hat. Er hat fast tausend Interviews geführt – mit Ärzt*innen, aber auch mit vielen Patient*innen. Das liest sich alles nicht wie ein trockenes Sachbuch, sondern wie ein spannendes Stück Prosa.

Das Buch bietet keine einfache Zusammenfassung und keine leichten Lösungen, auch bietet es keine falschen Versprechen. Andrew Solomon widmet sich dieser Krankheit gänzlich ungeschönt und arbeitet sich einmal förmlich hindurch.

Manche Menschen leiden unter leichten Depressionen und sind völlig lebensunfähig, andere haben schwere Depressionen und können doch Beachtliches aus ihrem Leben machen. 

Was habe ich aus dem Buch gelernt? Jede Depression ist unterschiedlich – und Erkrankte können ganz unterschiedlich damit umgehen. Es gibt oft keinen einfachen Heilungsweg, denn auch Heilungswege sind unterschiedlich. Rückschläge sind kein Versagen. Während seiner fünf Jahre langen Arbeit an dem Buch, wurde Andrew Solomon immer wieder gefragt, warum er sich das antut: warum verschwendet er fünf Jahre seines Lebens, um über eine solch niederschmetternde Erkrankung zu schreiben? Der Ursprung des Buches liegt im Jahr 1998, da veröffentlichte er einen langen Essay über Depressionen in der New York Times – in den folgenden Wochen, Monaten und Jahren, schrieben ihm hunderte Menschen und erzählten ihm ihre Geschichten. Dieses Buch ist auch ein Denkmal für all diese Stimmen, die so viel zu erzählen haben und sonst nicht gehört werden.

Saturns Schatten ist eine große Empfehlung für alle, die selbst an Depressionen erkrankt sind aber auch für alle Freund*innen und Familienangehörige.

Andrew Solomon: Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. 576 Seiten, 12,75€.


Weitere Buchempfehlungen rund um das Thema Depression:

Die Tage danach – Erika Fatland

Erika Fatland hat ein beeindruckendes Buch über die Terroranschläge in Norwegen geschrieben. Die Lektüre von Die Tage danach ist nur schwer zu ertragen, ich habe es atemlos und mit großem Entsetzen gelesen. Es ist ein Buch über das Böse, das uns überall und zu jeder Zeit treffen kann. Es ist ein Buch über die Opfer, aber auch über den Täter. Es ist ein wichtiges und erschütterndes Buch, das man lesen sollte.

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In den 189 Minuten zwischen 15:25 Uhr und 18:34 Uhr am 22. Juli 2011 erlebte Norwegen nicht nur die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, der Zeitraum hat auch unsere friedliche, nahezu idyllische Gesellschaft verändert. Jeder Norweger wird sich für immer daran erinnern, wo er an jenem Tag war und was er gerade tat.

Vor kurzem jährten sich die Terroranschläge in Norwegen zum vierten Mal. Im Regierungsviertel in Oslo zündete Anders Behring Breivik eine Bombe, auf der Insel Utøya machte er Jagd auf Jugendliche, die ein Sommercamp besuchten. Erika Fatland hat sich dazu entschieden, darüber zu schreiben. Über den Tag, der Norwegen in seinen Grundfesten erschütterte, aber auch über die Tage danach. Über den Täter, aber vor allen Dingen über seine Opfer. Nicht nur die siebenundsiebzig Toten gehören zu seinen Opfern, sondern auch die vierhundert traumatisierten Überlebenden und all diejenigen, die in Oslo und auf Utøya ihre Angehörigen verloren haben. Die Autorin reist von Longyearbyen im Norden Norwegens bis nach Mandal im Süden, um mit den Hinterbliebenden und den Überlebenden zu sprechen. In Die Tage danach erzählt sie ihre Geschichten. Es sind erschütternde und tief berührende Geschichten. Geschichten, die mich gefangen genommen und nicht mehr losgelassen haben.

Erika Fatland wurde 1983 geboren und arbeitet als Sozialanthropologin. Sie studierte in Lyon, Helsinki, Kopenhagen und Oslo und spricht sieben Sprachen. Spezialisiert hat sie sich auf Opfer und Überlebende von Terroranschlägen. Ihre Masterarbeit schrieb sie über das Massaker an der Schule 1 in Beslan. Zu den Terroranschlägen in Norwegen hat sie einen besonderen Bezug, nicht nur, weil das Land ihre Heimat ist, sondern auch weil sie persönlich betroffen ist: ihr jüngerer Cousin Lars hat sich politisch engagiert und die Ferien auf Utøya verbracht, im Sommercamp der AUF (Arbeidernes Ungdomsfylking). Anders Behring Breivik hat ihm in den Rücken geschossen, ein Lungenflügel wurde zerstört. Das Leben des jungen Mannes hing am seidenen Faden. Er hat überlebt, viele andere sind an diesem Tag auf der Insel gestorben.

Mit jeder neuen Geschichte scheinen die Zuhörer im Saal ein wenig mehr abzustumpfen. Während ein junger AUFler, der die für Schulabgänger typische Latzhose trägt, dem Gericht von der Knallerei erzählt, die er zunächst für Chinaböller gehalten habe, checken die Journalisten ihre E-Mails oder lesen im Internet die neuesten Nachrichten. Einige schauen sich den Langzeitwetterbericht an, andere spielen am Laptop Karten. Abgestumpft nach zehn, zwanzig, dreißig dramatischen Utøya-Geschichten. 

Erika Fatland reist durch ganz Norwegen, um Opfern und Hinterbliebenen eine Stimme zu geben. Dem Buch gelingt es dennoch, frei von jeglichem Betroffenheitskitsch zu sein, denn die Autorin bewahrt auch immer eine gewisse Distanz. So geht es in diesem Buch nicht nur um die Geschichten der Opfer, die einen tief betroffen machen, sondern auch um die Frage nach dem Warum. Erika Fatland betreibt Ursachenforschung, sie schaut sich den Täter ganz genau an und zieht Vergleiche zu anderen Tätern und Taten. Hat die Tat von Anders Behring Breivik Ähnlichkeiten mit einem Schulamoklauf? Was verbindet ihn mit dem Una-Bomber? Die Autorin fährt nach Deutschland, um die Stadt Winnenden zu besuchen und nach Amerika, um auch dort mit Opfern von Terroranschlägen zu sprechen.

In diesem Buch gelingt es, beide Ebenen – die persönliche und die sachliche – miteinander zu verbinden. Erika Fatland erzählt einerseits vom Tod, von unbegreiflichen Schmerzen, vom Schrecken, von Angst und Panik und vom Kampf ums Überleben. Andererseits lässt sie nüchterne Fakten einfließen, erzählt vom Prozess gegen den Angeklagten, von Gutachten und von vergleichbaren Taten und Täterprofilen. Erika Fatland klammert auch die Kritik am Polizeieinsatz nicht aus. An diesem Tag ist vieles schief gelaufen, einige Kinder hätten nicht sterben müssen, wenn Polizei und Behörden besser vorbereitet gewesen wären, besser zusammengearbeitet hätten. Sinnbildlich dafür steht das gekenterte Polizeiboot, das viel zu schwer beladen gewesen war.

“Ich hatte nicht gedacht, dass es möglich sei, noch einmal ein Kind zu verlieren, wenn man schon eins verloren hat”, sagt sie. Die Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie lässt sie laufen. “Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Baby oder ein 16-jähriges Mädchen verliert. Manchmal ziehe ich Astas Sachen an, ihre Pullis, ihre Socken, weil ich sie so sehr vermisse.”

Obwohl die Autorin sich selbstverständlich auch mit Anders Behring Breivik beschäftigt, stellt sie doch die Geschichten der Überlebenden und Angehörigen in den Mittelpunkt. In vielen medialen Berichterstattungen ist das genau umgekehrt: wir wissen, wie der Täter heißt und wir wissen, dass er siebenundsiebzig Menschen getötet hat, doch wir kennen von keinem Opfer den Namen. So ergeht es einem auch mit vielen anderen Amokläufen und Terroranschlägen: wir kennen Tim Kretschmar und Robert Steinhäuser, doch keines ihrer Opfer. Karl Ove Knausgard hat in einem vielbeachteten Essay einen wichtigen Satz dazu geschrieben: Die Henker haben Namen, ihre Opfer sind Zahlen.

Erika Fatland ist ein einfühlsames Buch gelungen, das sich kompetent und sachlich mit den Fakten beschäftigt und gleichzeitig eine Geschichte von Schmerz, Trauer, Wut und Zorn erzählt. Den Leser lässt sie alles miterleben: die Trauer der Überlebenden, die Angst der Opfer und die kaum vorstellbare Brutalität des Täters. Das ist nicht leicht zu lesen und nicht leicht zu ertragen und dennoch ist Die Tage danach ein ganz wichtiges Buch. Ein wichtiges Buch, dem ich viele Leser wünsche.

Erika Fatland. Die Tage danach. Erzählungen aus Utøya. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Stephanie Elisabeth Baur. btb Verlag, München 2012. 512 Seiten, €21,99.

Warum Lesen glücklich macht – Stefan Bollmann

In Warum Lesen glücklich macht beschäftigt sich Stefan Bollmann mit den Ursprüngen des Lesens, erzählt von dessen Geschichte und spürt der Frage nach, welche Bedeutung literarische Texte für unser Leben haben können. Das Buch ist eine kleine Schatztruhe für Bücherliebhaber – geeignet zum Selberlesen, aber auch zum Verschenken.

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Lesend finden wir nicht nur Antworten auf unsere Lebensfragen, sondern schöpfen auch die Kraft für Neuanfänge, wenn wir einmal den Weg verloren haben.

Can Reading Make You Happier? – so hieß ein Artikel, der letzte Woche im New Yorker erschien. Ceridwen Dovey beschäftigt sich darin mit der Frage, ob Lesen uns glücklicher machen kann (eine Frage, die ich nur mit einem ganz klaren und lauten Ja beantworten kann) und erzählt nebenbei von den Möglichkeiten der Bibliotherapie. Ich glaube, dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass Lesen momentan ein beliebtes Themenfeld ist. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich euch Lesen als Medizin vorgestellt habe – darin geht Andrea Gerk ganz ähnlichen Fragen nach. Woher kommt nur das Bedürfnis, sich mit den Haupt- und Nebenwirkungen von Büchern zu beschäftigen? Ich weiß es nicht und doch teile ich das Interesse daran, den Geheimnissen des Lesens auf die Spur zu kommen. Es ist also kein Wunder, dass ich an Stefan Bollmanns schmalem, aber wunderschön aufgemachten, Büchlein Warum Lesen glücklich macht nicht vorbeigehen konnte, als ich es in der Buchhandlung entdeckt hatte.

Wirkliches Lesen, so könnte man sagen, gleicht einem Aufbruch in die unbekannte Welt des Waldes, um experimentell zu überprüfen, was einem wesentlich ist und was nicht. Es ist der Ausstieg auf Zeit aus der Lebenswelt mit ihren Routinen und Konventionen und die Einkehr in eine fremde Vorstellungswelt, zu dem Zweck, das eigene Leben und vor allem das Bild, das wir davon haben, auf den Prüfstand zu stellen.

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Von Stefan Bollmann gibt es mittlerweile schon eine ganze Reihe Bücher, die sich mit dem Lesen beschäftigen – bevorzugt aus weiblicher Perspektive. Da geht es um Frauen und Bücher, Frauen, die lesen, Frauen, die schreiben und Frauen, die gefährlich und klug sindDa mag die Frage natürlich erlaubt sein, ob Stefan Bollmann wirklich noch etwas Neues zu erzählen hat.

Viele von Stefan Bollmanns Gedanken findet man auch andernorts und die rhetorisch gestellte Titelfrage (Warum Lesen glücklich macht) bleibt weitestgehend unbeantwortet – das Lesen dieses schmalen Büchleins lohnt sich dennoch. Dies liegt zum einen an der wunderbaren Gestaltung und Bebilderung. Viele der Bilder erstrecken sich über eine Doppelseite, sie sind sorgfältig ausgewählt und wurden gut in den Textfluss integriert. Hauptsächlich zu sehen gibt es lesende Menschen, doch diesmal nicht nur Frauen, sondern auch den einen oder anderen Mann.

Warum Lesen glücklich macht lässt sich wohl am ehesten als literarischer Essay bezeichnen. In vier Kapiteln widmet sich Stefan Bollmann den Ursprüngen und der Bedeutung des Lesens: es geht um das Lesen als Rückzug, um das Erlernen des Lesens. Es geht aber auch um die Gefahren der neuen technischen Möglichkeiten und einer Auslotung der Frage, ob diese Möglichkeiten vielleicht auch ihre Vorteile haben können. Erst im allerletzten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Frage nach dem Leseglück und nimmt dazu den Glücksbegriff etwas genauer unter die Lupe.

Die große Kunst von Stefan  Bollmann ist es, mit welcher Leichtigkeit er von wissenschaftlichen und historischen Fakten erzählt und dabei immer wieder Anekdoten rund um’s Lesen einflicht. Er entführt einen nicht nur in die amerikanischen Wälder und erzählt die Geschichte von Henry David Thoreau, sondern auch in den deutschen Wald, in dem vor einigen Jahren Joseph Paccione ein Leben als Einsiedler geführt hat. Achtzehn Monate lang verbringt er lesend im Wald.

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Während sich Stefan Bollmann in seinen anderen Büchern Gedanken um lesende Frauen gemacht hat, rückt er in diesem Buch auch den lesenden Mann in den Fokus. Auch wenn die zunehmende Anzahl männlicher Blogger das Gegenteil beweisen, kann einen doch der Eindruck überkommen, es gäbe mehr lesende Frauen als lesende Männer. Ist der männliche Leser also in seiner Art bedroht? Wenn man historisch zurückgeht, dann gehört der Mann interessanterweise zu den allerersten Lesern – denn das Lesen von Tierspuren auf der Suche nach Beute ist eine vergleichbare und verwandte Tätigkeit gewesen.

Bei nicht wenigen Lesern nimmt die Sorge um Lesefutternachschub die Gestalt von Beutezügen an, von denen der Buchhandlungen, Antiquariate und Auktionshäuser oder auch nur das Internet durchstreifende Bibliomane regelmäßig mit einer vollen Sammeltasche heimkehrt, bis schließlich die heimische Höhle von oben bis unten vollgestopft ist mit Büchern.

Eine eindeutige Antwort auf die Frage, warum Lesen uns glücklich macht, findet der Autor nicht, dafür liefert er ganz viele spannende und interessante Antwortansätze. Jeder Leser und jede Leserin definiert das eigene Leseglück anders, doch sicher ist, dass das richtige Buch zur richtigen Zeit etwas verändern oder anstoßen kann. Wer bin ich und wie soll ich mein Leben führen? Wie kann ein gutes Leben aussehen? Auf all diese Fragen lassen sich Antworten in Büchern finden. Bücher können glücklich machen, Bücher können aber auch eine neue Perspektive aufzeigen, Bücher können einen zu einem Neuanfang ermutigen, Kraft geben, einen Dinge über sich selbst und das eigene Leben lehren oder auch eine kleine Leseflucht sein.

Wer nun auf den Geschmack gekommen ist, der kann in ganz vielen unterschiedlichen Büchern weiterlesen, unter anderem in diesen dreien:

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Virgina Woolf: Der gewöhnliche Leser  |  Gabriel Zaid: So viele Bücher  | Anna Quindlen: How Reading Changed My Life

Stefan Bollmann: Warum Lesen glücklich macht. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 142 Seiten, €9,99.

Lesen als Medizin: Die wundersame Wirkung der Literatur – Andrea Gerk

Kann die Lektüre eines Buches Trost spenden, gar eine heilsame Wirkung haben? Genau dieser Frage widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Andrea Gerk. Entstanden ist dabei Lesen als Medizin, eine kluge und lesenswerte Liebeserklärung an die Kraft der Literatur.

Lesen als Medizin

Bücher können Trost schenken, Mut machen, Spiegel vorhalten, Zuflucht sein, Erfahrungen vermitteln, Perspektiven verändern, Sinn stiften. Bücher amüsieren und berühren. Und sie können ablenken – nicht zuletzt von uns selbst.

Die wundersame Wirkung der Literatur lautet der Untertitel von Lesen als Medizin und genau darum geht es auch: welche Wirkung kann die Literatur auf uns haben? Können Bücher in schwierigen Zeiten Trost spenden? Kann Literatur heilen? Bei der Genesung helfen? Was passiert eigentlich in unserem Gehirn, wenn wir lesen? Gibt es Orte, an denen Bücher eine besondere Rolle spielen? Wie sähe eine Welt aus, in der es keine Krankenhausbibliotheken mehr geben würde? Keine Gefängnisbibliotheken? Wird eigentlich auch im Kloster gelesen?

Lesen als Medizin ist, wenn man so will, ein wunderbarer Überblick über all das, was Bücher so einzigartig und unersetzbar macht. Andrea Gerk erzählt von der Bibliotherapie, die in Amerika bereits seit vielen Jahren als Heilverfahren anerkannt ist und auch in Großbritannien und Schweden praktiziert wird. In Deutschland hingegen klingt der Begriff in vielen Ohren immer noch leicht esoterisch angehaucht. Unter der Bibliotherapie versteht man eine besondere Form der Pyschotherapie, bei der die Patienten mithilfe sorgfältig ausgewählter Bücher dazu angeregt werden sollen, ihre Vergangenheit zu reflektieren. Es ist der Glaube daran, dass ein gutes Buch in der richtigen Situation weiterhelfen kann. Mittlerweile kann man auch in Deutschland die Ausbildung zum Bibliotherapeuten machen, doch im Grunde genommen sind auch gute Buchhändler und Bibliothekare bereits so etwas wie Bibliotherapeuten, denn sie empfehlen ihren Kunden die (hoffentlich) passenden Bücher. Ich fühle mich nach einem Einkauf im Buchladen oder einem guten Gespräch mit einem Buchhändler häufig nicht nur glücklicher, sondern manchmal auch besser oder gar geheilter.

Wörter entfalten mitunter eine magische Kraft, die uns nicht nur intellektuell voranbringt, sondern auf vielschichtige Weise im Innersten berührt. Manchmal so sehr, dass ein Vers, eine Erzählung, ein Roman das ganze Leben verändern kann, und sei es nur für ein paar Stunden.

Bibliotheken gibt es übrigens auch an ungewöhnlichen Orten, zum Beispiel im Gefängnis oder in Krankenhäusern. An beiden Orten kann das gedruckte Wort für Insassen und Patienten eine große Bedeutung haben. Es gibt sogar Länder, in denen es für jedes gelesene Buch einen Tag Hafterlass gibt. Andere Jugendrichter geben straffälligen Minderjährigen die Aufgabe, ein Buch zu lesen. In vielen Fällen mag das ohne Wirkung bleiben, für manche ist die Entdeckung der Literatur aber vielleicht auch ein Initiationserlebnis und der Beginn eines besseren Lebens. Auch in Krankenhäusern sind Bücher ein wichtiges Gut: in der Berliner Charité sind vor allen Dingen skandinavische Krimis beliebt, aber auch Charlotte Link. Der Bücherwagen rollt jeden Tag durch die Flure des Krankenhauses und beliefert Patienten mit neuer Lektüre. Andrea Gerk schreibt, dass Krankenhausbibliotheken um das finanzielle Überleben kämpfen, was unheimlich schade ist – die heilsame Wirkung der Literatur ist empirisch nicht nachzuweisen, aber ich glaube doch daran, dass wir mit einem guten Buch in der Hand vielleicht ein wenig schneller gesunden.

Die Erfahrung, dass Lektüre einen in regelrechte Wahnzustände versetzen kann, wird jeder leidenschaftliche Leser schon mal gemacht haben. Immer wieder entdecke ich Texte, die mich so bewegen, dass ich mich fassungslos frage, wie ich sie so lange übersehen konnte. Dann muss ich sofort all das Versäumte nachholen, gerate in einen regelrechten Leserausch, verschlinge ein Buch nach dem anderen, werte parallel dazu akribisch Rezensionen, Interviews und biographische Texte aus und spiele nach, was ich darin finde.

Dass Bücher nic51j51zfiajL._SY344_BO1,204,203,200_ht einfach nur zur Unterhaltung diesen, sondern auch eine medizinische oder gar therapeutische Funktion haben können, ist eine Sichtweise, die sich bereits im 16. Jahrhundert manifestiert hat: damals schrieb Michel de Montaigne seine berühmten Essais und setzte darin sein eigenes Leben und seine Gedanken immer wieder in Bezug zu Werken und Gedichten bekannter Schriftsteller. Während der beiden Weltkriege hat man später Soldaten in Lazaretten mit Büchern versorgt – die Literatur sollte vom Kriegsgeschehen ablenken und dabei helfen, traumatische Wunden zu heilen. In anderen Ländern ist die Bibliotherapie viel anerkannter und ausgereifter, es gibt beispielsweise eine Reading Agency und über Skype wird eine Leseberatung angeboten. In Deutschland gibt es immerhin schon eine Vereinigung von Bibliotherapeuten, wer weiß, ob sich das Angebot in den kommenden Jahren noch stärker durchsetzen wird.

Andrea Gerk schreibt jedoch nicht nur von der heilenden Kraft der Literatur, sondern auch von ihren Schattenseiten: Bücher können Ehen stiften, aber auch zerstören und sind darüberhinaus hochgradig suchtgefährdend. Buchbedingte Psychopathologien sind keine Seltenheit mehr: im Buch finden sie alle Erwähnung, von der Bibliomanie bis zum Biblioholiker. Auch wenn ich glaube, dass es deutlich schlimmere Süchte gibt, nehme ich mich an dieser Stelle nicht aus: es gibt kaum einen Buchladen, an dem ich vorbeikomme, ohne ein Buch zu kaufen (obwohl sich die ungelesen Bücher hier bereits in Stapeln stapeln, unter denen ich drohe begraben zu werden). Wenn ich in den Urlaub fahre, müssen so viele Bücher mit, dass ich den Koffer bald selbst nicht mehr tragen kann – geschweige denn alles lesen, was ich mir eingepackt habe. In solchen Momenten befürchte ich schon manchmal (zumindest ganz leicht) am Bücherwahn zu leiden. Doch könnte es einen schöneren Wahn geben?

Meiden Sie Buchhandlungen und Bibliotheken, solange Sie noch jung sind. Verschenken Sie Ihre Bücher, bevor Ihnen Ihre Sammlung über den Kopf wächst.

Lesen als Medizin ist eine kluge und spannend zu lesende Liebeserklärung an die Literatur. Andrea Gerk gelingt es, leicht verständlich und mitreißend von ihrem bibliophilen Fachwissen zu erzählen. Ihre eigene Begeisterung ist dabei deutlich zu spüren. Es muss erwähnt werden, dass Rogner & Bernhard das Buch wunderbar liebevoll aufgemacht haben. Besonders schön sind die handschriftlichen Bekenntnisse bekannter Schriftsteller, die Andrea Gerk gesammelt hat: da wird Gerhard Roth nach Büchern gefragt, die für ihn die zweite Welt sind und Hanns-Josef Ortheil nach Büchern, in denen er immer wieder gelesen hat. So wirft dieses Buch nicht nur einen Blick auf alle Aspekte unserer wunderbaren bibliophilen Leidenschaft, sondern ist auch noch eine ernste Gefahr für die Wunschliste.

Andrea Gerk legt eine wunderbare Liebeserklärung an die Literatur vor und ich habe das Buch mit dem heilsamen und wohligen Gefühl zugeklappt, mit dieser Leidenschaft zum Glück nicht allein zu sein.

Andrea Gerk: Lesen als Medizin. Rogner & Bernhard Verlag, 2015. 342 Seiten, €22,95. Eine weitere Besprechung findet sich auf dem Blog von Fräulein Julia. Und noch ein passender Buchtipp zur weiteren Lektüre: Die Romantherapie von Ella Berhoud. 

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Die talentierte Miss Highsmith – Joan Schenkar

Patricia Highsmith war eine Schriftstellerin mit Ausnahmetalent, die bekannt wurde durch ihre doppelbödigen Kriminalromane. Doch Joan Schenkar wirft in dieser monumentalen Biographie auch einen Blick auf die Schattenseiten dieses Lebens. Das ist nicht nur unheimlich gut recherchiert, sondern auch sehr vergnüglich zu lesen.

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Sie war nicht nett. Sie war selten höflich. Und niemand, der sie gut kannte, hätte sie großzügig genannt.

Das sind die ersten Sätze dieser fast tausendseitigen Biographie (wobei 200 Seiten davon den umfangreichen Anhang ausmachen) und sie machen bereits ganz am Anfang deutlich, dass Patricia Highsmith kein einfacher Mensch gewesen ist. Sie war eine unkonventionelle Künstlerin mit Ausnahmetalent, aber als Mensch war sie ganz und gar nicht nett: sie war krankhaft selbstbezogen, alkoholabhängig, beziehungsgestört und antisemtisch.

So widersprüchlich Miss Highsmith im Leben wie in der Kunst war, so eindeutig bestimmte sie ihr eigenes Ende. Eine letzte treue Besucherin schickte sie aus dem Krankenzimmer – ‘Du sollst gehen’, sagte sie immer wieder, um dann unbeobachtet zu sterben. Alles Menschliche war ihr fremd.

Joan Schenkar spürt der Autorin Patricia Highsmith nach, aber auch dem Menschen – häufig nennt sie die Autorin nur Pat und schreibt in fast schon unglaublicher Detailfülle über deren Leben. Erzählt von den Anfängen einer außergewöhnlichen Karriere: Zwei Fremde im Zug und Der talentierte Mr Ripley machen die Autorin berühmt. Ein anderes Buch hätte sie fast auch berühmt gemacht, doch Salz und sein Preis – ein Buch über lesbische Leidenschaften – wurde damals unter einem Pseudonym veröffentlicht. Zu sehr schämte sich die Autorin ihrer heimlichen Obsessionen.

Patricia Highsmith hat ein langes und ausgefülltes Leben gelebt, die Liste ihrer veröffentlichten Bücher ist ebenso umfangreich wie die ihrer zahlreichen Liebhaberinnen (es ist nicht überraschend, dass das Kapitel über Pats Liebesleben das mit Abstand umfangreichste in diesem Buch ist). Joan Schenkar konnte beim Schreiben dieser Biographie auf eine Flut an Informationen zurückgreifen; bedient hat sie sich vor allen Dingen bei Patricia Highsmith selbst.

Verbissen, gewissenhaft und auf achttausend Seiten, die sie niemandem zeigte, hielt sie ihre Stimmungslagen fest, die Haarfarbe ihrer aktuellen Geliebten, Eigenschaften und Wert einer beendeten Beziehung, den Preis eines Hotelfrühstücks in Paris, die Zahl der Ablehnungen, die sie von ihren Verlagen bekam, Finanzen, Ängste, Falschheiten – daneben Tausende von Seiten mit Notizen für Erzählungen, Romane, Gedichte und Buchkritiken.

In der Einleitung erklärt Joan Schenkar, dass es nicht möglich ist, Pat Highsmith mit einer herkömmlichen, chronologischen Biographie beizukommen. Stattdessen ist diese Biographie geordnet nach den Obsessionen, die das Leben von Patricia Highsmith bestimmt haben. Da gibt es zum Beispiel ihr Spiel mit Identitäten, die Beziehung zur geliebten und gehassten Mutter oder auch ihre zahlreichen Liebschaften, die sie immer wieder nach dem gleichen Muster beginnt und beendet. Es ist jedes Mal erneut ein großes Drama. Diese Obsessionen haben das Schreiben und das Leben der Autorin bestimmt und Joan Schenkar macht sie zum Ordnungsprinzip ihrer Biographie. Das ist spannend und ungewöhnlich, führt beim Lesen aber auch dazu, dass man manchmal Gefahr läuft, den Überblick zu verlieren: aufgrund der fehlenden Chronologie gibt es immer wieder zeitliche Sprünge oder Verweise auf spätere Kapitel. Um es ganz unverblümt zu sagen: manchmal erschien mir das beim Lesen alles wie ein großes Durcheinander. Als Leserin bin ich es zu sehr gewöhnt, dass eine Biographie ganz klassisch und in chronologischer Ordnung erzählt wird, doch hier werden die Fakten in den Anhang verbannt und Pats Leben ganz unkoventionell erzählt. Das ist trotz allem vergnüglich und spannend zu lesen, doch daran musste ich mich erst einmal gewöhnen.

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Es ist ein Versuch, den ständigen Wechsel der Identitäten zu fassen – von der Autorin, die am Schreibtisch saß, zu der Frau, die vom Schreibtisch aufstand; von der massiv gespaltenen Persönlichkeit zu den symbolischen Schritten, die es brauchte, sich von dieser Last zu befreien -, aus dem sich die Geschlossenheit, die grimmige Individualität und die sperrig-bizarre Originalität ihres Werkes speisten.

Es ist nicht leicht in der Flut an Informationen den Überblick zu behalten und ich muss gestehen, dass ich ihn ab und an verloren habe. Doch das liegt nicht allein an Joan Schenkar und der Ordnung ihrer Biographie, sondern auch am unsteten Leben von Patricia Highsmith: es gibt kaum einen Monat, in dem sie nicht irgendwo hinreist. Sie ist ständig unterwegs, hat überall Liebschaften, in die sie sich Hals über Kopf verliebt, um sich kurz darauf bitterböse zu zerstreiten und eine Affäre mit der nächsten Frau zu beginnen. Interessanterweise kennen sich die meisten der Frauen auch noch untereinander, so das ein heilloses Durcheinander vorprogrammiert ist und der Leser Gefahr läuft den Überblick zu verlieren bei all den Virginias, Jeans, Jeannes, Joans, Anns, Annes, Ellens, Katherines, Kathryns, Catherines, Carolines, Diones, Sheilas, Helens, Marions, Lynns, Moniques, Marias, Mickeys, Billies oder Marys. Allen Beziehungem, egal wie kurz oder lang sie gewesen sind, ist gemein, dass es Patrica Highsmith eigentlich unmöglich ist, dauerhaft zu lieben.

Sie war grundsätzlich unglücklicher darüber, glücklich zu sein, als dass sie glücklich darüber war, unglücklich zu sein. Anders ausgedrückt: Selbst wenn Highsmith todunglücklich war, war sie gar nicht so unglücklich darüber, unglücklich zu sein – solange sie darüber schreiben konnte.

Wenn man über Patricia Highsmith spricht, muss man natürlich über ihre Kriminalromane sprechen, in denen sie eine häufig grausame Welt entwirft, die von Joan Schenkar auch als Highsmith-Country bezeichnet wird. Man muss auch über ihre Alkoholsucht sprechen, über ihre sexuelle Orientierung und über ihre ein Leben lang andauernde Hassliebe zu ihrer Mutter, denn all dies hat ihr Werk und ihr Schaffen maßgeblich mitgeprägt. Man muss aber auch über ihre weniger angenehmen Seiten sprechen: da gibt es Mordgelüste, Antisemitismus und Rassismus. Im Gegensatz zu vielen ihrer Zeitgenossen interessiert sich Patricia Highsmith während des Zweiten Weltkriegs und auch danach überhaupt nicht für die politische Lage der Welt. Als sie ein Lager für Displaced Persons besucht, lässt sie das seltsam kalt. Im Gegenzug fühlt sie sich wie die Insassin eines Konzentrationslagers, als eine Geliebte sie verlässt. Um es wohlwollend zu formulieren: Pat kreist vor allen Dingen um sich selbst; Juden, Neger oder dicke Frauen sind da eher lästig. Das ist ganz und gar nicht nett und überhaupt nicht sympathisch und doch gelingt es Joan Schenkar auch, Sympathien für diese gequälte, gespaltene und ganz und gar unglückliche Autorin zu wecken.

Mein Toast auf das neue Jahr: An all die Teufel, Lüste, Leidenschaften, an die Gier, an Neid, Liebe, Hass, an seltsame Begierden, Feinde, geisterhafte und reale, an die Armee der Erinnerungen, mit denen ich kämpfe – mögen sie mich niemals ruhen lassen. 

Die talentierte Mrs Highsmith ist ganz sicherlich keine einfache Lektüre, die Detailfülle kann stellenweise erschlagend wirken. Doch Joan Schenkar gelingt es aus dem überbordenden Recherchematerial eine spannende, vergnügliche und mitreißende Lebenserzählung zu machen, die sich stellenweise liest wie ein Roman. Wie ein Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Leben – Karl Ove Knausgård

“Leben” ist der nunmehr vierte Band eines großangelegten autobiographischen Projekts: bereits in den ersten drei Bänden – “Sterben”, “Lieben” und “Spielen” – setzt sich Karl Ove Knausgård immer wieder neu mit seinem Leben, seiner Kindheit und seinen Dämonen auseinander.

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Während Karl Ove Knausgård in “Spielen” noch weit zurückblickte auf seine frühe Kindheit, blickt er in “Leben” auf eine Phase des Übergangs, des Umbruchs. Es ist eine Phase der Veränderung, die er durchläuft, als sein Leben, wie er es zuvor kannte, auseinander bricht. Die Eltern lassen sich scheiden, der Vater zieht zu seiner neuen Freundin, die bald darauf schwanger wird. Karl Ove Knausgård und seine Mutter bleiben zurück, der große Bruder Yngve ist schon lange ausgezogen. Dem Vater, der ihn seine ganze Kindheit lang drangsaliert und gequält hat, begegnet er nur noch selten – die Begegnungen sind häufig angespannt und enden zumeist in heftigen Wutausbrüchen oder Tränen. Bei dem Vater, der sich jahrelang kühl und zurückhaltend gegeben hat, brechen plötzlich alle Dämme: immer häufiger erlebt sein Sohn ihn betrunken, angetrunken oder mit einem Bier in der Hand.

“[…] so war es mit vielen in diesem Haus, in dem ich mit ihr lebte, und so musste es wohl auch sein: Manches wurde gesagt, kommentiert, beurteilt und zu verstehen versucht, anderes wurde verschwiegen, nicht erwähnt, nicht zu verstehen versucht.”

Für Karl Ove Knausgård ist dies eine Zeit, in der er versucht, sich freizustrampeln, sich von den Schrecken der Vergangenheit zu befreien. Auch er selbst greift dabei immer häufiger zum Alkohol, verbringt die Tage und Wochen vor seinem Abitur in einer Art ständigem Vollrausch und manövriert sich dabei von einer peinlichen Situation in die nächste. Für ihn ist der Alkohol eine Selbstmedikation, die ihn von seinen Komplexen und Ängsten befreit, unter denen er vor allen Dingen im Umgang mit Mädchen leidet. Dabei schwankt er ständig zwischen dem Leben im Rausch und dem Wunsch nach Normalität und danach, ein guter und strebsamer Schüler zu sein. Sein Leben driftet immer stärker auseinander, er selbst spaltet sich auf in zwei Persönlichkeiten, die kaum noch miteinander vereinbar sind. Auch nach dem Abitur kann er nicht damit aufhören, zu trinken, zu trinken und zu trinken. Die Schritte, die er hinein geht in das Leben eines Erwachsenen, sind unsicher – ohne Ziel und häufig auch ohne Verstand, regelmäßig gibt er mehr Geld aus, als er eigentlich besitzt. Er beschließt, ein Jahr als Aushilfslehrer in Nordnorwegen zu arbeiten, er ist gerade einmal achtzehn Jahre alt und ohne Ausbildung, doch dort oben in der Einöde werden Lehrkräfte händeringend gesucht.

“Ich! Ein achtzehn Jahre alter Kerl aus Kristiansand, der gerade das Gymnasium beendet hatte, gerade von zu Hause ausgezogen war, ohne jede Erfahrung im Arbeitsleben, außer einigen Abenden und Wochenenden in einer Papierfabrik, ein bisschen Journalismus in der Lokalzeitung und einem soeben beendeten einmonatigen Sommerjob in einem psychiatrischen Krankenhaus, sollte Klassenlehrer an der Schule von Håfjord werden.”

Es ist nicht überraschend, dass Knausgård um Anerkennung und Autorität bei seinen Schülern kämpfen muss. Doch eigentlich möchte er auch gar nicht Lehrer sein, er möchte Schriftsteller werden. Abend für Abend, wenn er nicht unterwegs ist und sich sinnlos betrinkt, sitzt er zu Hause an seiner Schreibmaschine und tippt, tippt, tippt. Immer mit dem vagen Wunsch im Hinterkopf, irgendwann ein berühmter Schriftsteller zu sein.

“Bücher über junge Männer, die sich in der Gesellschaft nicht zurechtfanden und etwas mehr vom Leben wollten als Routine und Familie, kurz gesagt, junge Männer, die Bürgerlichkeit verabscheuten und die Freiheit suchten. Sie reisten, sie betranken sich, sie lasen, und sie träumten von der großen Liebe oder dem großen Roman. Alles, was sie wollten, wollte ich auch.”

Karl Ove Knausgård erweist sich in “Leben” erneut als erbarmungsloser und schonungsloser Chronist des eigenen Lebens. Detailliert und akribisch skizziert er den eigenen Absturz in den Alkohol, der mit einer erschreckenden Parallelität dem des eigenen Vaters folgt. Als ich die erste Seite von “Leben” aufschlug, konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Die Mischung von Knausgårds Lebenserinnerungen, die stellenweise hochnotpeinlich sind (besonders dann, wenn es um Mädchen geht), daneben aber auch voller Traurigkeit und lähmender Angst vor dem Leben stecken, entwickelt einen ungeheuren Lesesog. In dieser Peinlichkeit, in dieser Schonungslosigkeit entwickelt sich eine unglaubliche Kraft, eine faszinierende Macht, die mich beim Lesen vollständig im Griff hatte.

“Das ist es, was man wirklich braucht, ich meine wirklich, ich finde es wichtig, hier Prioritäten zu setzen. Alle legen Wert auf materielle Dinge. Alle wollen neue Jacken, neue Schuhe, neue Autos, neue Häuser, neue Wohnwägen, neue Hütten oder neue Boote. Ich aber nicht. Ich kaufe Bücher und Platten, weil das etwas über das Wesentliche aussagt, darüber, was es heißt, hier auf Erden ein Mensch zu sein. Verstehst du?”

Für mich gehört Karl Ove Knausgård in seinem gleichsam radikalen und schonungslosem Versuch, über sich selbst zu schreiben, um sich und seine Dämonen auf Papier zu bannen, zu den spannendsten Autoren unserer Gegenwart. Um sich selbst so sehr in den Mittelpunkt zurück, dass man beinahe 4000 Seiten über das eigene Ich schreibt, braucht es auf den ersten Blick ein ungeheures Ego und eine große Portion Eitelkeit und Selbstliebe. Doch Karl Ove Knausgård untergräbt dieses Ego auf charmante Art und Weise, in dem er keine Peinlichkeit unerwähnt lässt. Dabei entstanden ist ein faszinierendes Lektüreerlebnis, bei dem ich mich stellenweise fast schon als Voyeur gefühlt habe: Karl Ove Knausgård zieht sich aus, macht sich nackig. “Leben” ist ein Buch der Flüssigkeiten, es geht um Alkohol, Tränen und den männlichen Samen.

Knausgard

 

 

Leben, Denken, Schauen – Siri Hustvedt

In Siri Hustvedts lesenswertem Essayband gibt es einen Essay, der den Titel “Ausflüge zu den Inseln der Wenigen” trägt, in dem die Autorin das Prinzip ihres eigenen Buches erklärt: sie spricht dort über unsere Kultur des Hyperfokus und Expertentums – jeder ist nur noch Experte auf seiner eigenen abgeschotteten Insel, ohne Blick für die Schönheiten rechts und links. Siri Hustvedt ist Literatin, Künstlerin, doch sie macht sich mutig auf, zu den Inseln der Kunsttheroie, der Neurowissenschaften, der Psychoanalyse. Es sind Reisen, die sie für immer verändert haben.

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“Große Bücher sind solche, die eindrücklich und lebensverändernd sind, solche, die dem Leser Kopf und Herz öffnen.”

Die Essays, die in “Leben, Denken, Schauen” versammelt sind, wurden über einen Zeitraum von sechs Jahren geschrieben und sie alle vereint, dass Siri Hustvedt in ihnen über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets hinausblickt. Sie legt keinen literatur- oder geisteswissenschaftlichen Essayband vor, sondern bedient sich vielerlei Theorien aus anderen Disziplinen. Fündig wird sie dabei vor allen Dingen in den Naturwissenschaften. Es verwundert nicht, dass sich die erfolgreiche Autorin auch lange vorstellen konnte, als Psychoanalytikerin zu arbeiten.

Die hier versammelten Essays sind nicht alle auf eine Veröffentlichung hin geschrieben wurden, neben dem klassischen Essay gibt es auch Beiträge für Fachzeitschriften oder auch Mitschriften von Vorträgen. Ins Deutsche übertragen wurden die Texte in gemeinschaftlicher Arbeit von Uli Aumüller und Erica Fischer.

“Beim nochmaligen Lesen der in diesem Band gesammelten Essays wurde mir klar, dass sie, obwohl sie eine ganze Reihe von Themen behandeln, durch die beständige Neugier, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, miteinander verbunden sind. Wie sehen, erinnern, fühlen wir, wie gehen wir mit anderen um? Was bedeutet es, zu schlafen, zu träumen und zu sprechen? Wovon sprechen wir, wenn wir das Wort selbst gebrauchen?”

Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: Leben, Denken, Schauen. Unter dem Schlagwort Leben versammelt Siri Hustvedt die wohl persönlichsten Essays dieses Bandes. Vater und Mutter finden Erwähnung, genauso wie ihre skandinavische Herkunft und ihre Liebe für die dänische Schriftstellerin Inger Christensen. Denken ist die Überschrift für diejenigen Essays, in denen die Autorin sich mit theoretischen Rätseln und Fragen beschäftigt. Viele dieser Rätsel wurzeln in der Literatur. Es geht um die Frage, ob es einen Unterschied gibt zwischen dem Schreiben von Erinnerungsliteratur und dem romanhaften Erzählen. Es geht um die Sprache in der Politik, eine Sprache, die ein Klima der Angst erzeugen kann – etwas, das vor allem George Bush beherrscht hat. Klug und besonnen zeigt Siri Hustvedt auf, wie dieser durch ständige Wiederholungen, ein Wort wie Freiheit entwertet und ausgehöhlt hat. Es geht aber auch um die Frage nach Phantasie und Imagination und um die Psychoanalyse. In vielen Essays vermischen sich die Theorien – warum auch nicht, warum sollte man nicht die neurowissenschaftliche Forschung heranziehen, um eine literarische Frage zu beantworten?

“Meine Essays sind eine Form von geistigen Reisen, von einem Zugehen auf Antworten, wobei ich mir intensiv dessen bewusst bin, dass ich nie ans Ende der Straße gelangen werde.”

Im letzten Abschnitt des Buches, der den Titel Schauen trägt, beschäftigt sich Siri Hustvedt mit Fragen der Bildenden Kunst. All diesen Fragen geht eine ursprüngliche Begeisterung für Kunst und Künstler voraus, Erwähnung finden Louise Bourgeois, Kiki Smith, Gerhard Richter, Annette Messager, Goya oder auch Richard Allen Morris. Kunst ist ein Bereich, der Siri Hustvedt seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt und den sie immer wieder auf neuen Wegen versucht zu entdecken und zu beschreiben.

“Jedes Buch ist für jemanden. Der Akt des Schreibens mag einsam sein, er ist aber immer eine Hinwendung zu einer anderen Person – einer Einzelperson -, da jedes Buch allein gelesen wird. Die Schriftstellerin weiß nicht, für wen sie schreibt. Das Gesicht des Lesers oder der Leserin ist unsichtbar, und doch stellt jeder zu Papier gebrachte Satz ein Angebot dar, Kontakt aufzunehmen, und eine Hoffnung darauf, verstanden zu werden. Die Essays in Leben, Denken, Schauen wurden in diesem Geist geschrieben. Sie wurden für Sie geschrieben.”

Allen Essays gemein ist der unbändige Entdeckergeist und Forscherwille von Siri Hustvedt. Hier schreibt keine von ihrem Alltag gelangweilte Literatin, die gerne mal ein bisschen in die Psychologie hinein schnuppern will. Hustvedt erschließt sich all die fremden Inseln mit unbändigem Wissensdurst, Fleiß und Ausdauer. Sie nimmt regelmäßig teil an monatlichen Vorträgen über Neurowisschenschaft und ist als einzige Künstlerin Mitglied einer neurowissenschaftlichen Arbeitsgruppe. Sie veröffentlicht in psychologischen Fachzeitschriften und leitet einen Schreibkurs an einer Psychiatrie. Dieses stete Interesse an der naturwissenschaftlichen Perspektive auf das Leben liegt sicherlich auch in der eigenen Erkrankung Hustvedts begründet, die an schweren und häufig monatelangen Migräneschüben leidet.

“Das Lesen hat in unserer Kultur so nachgelassen, dass jetzt alles Lesen für ‘gut’ gehalten wird. Kinder werden ermahnt, überhaupt zu lesen, so als wären alle Bücher gleich, doch ein mit Binsenweisheiten und Klischees, mit formelhaften Geschichten und einfachen Antworten auf schlecht gestellte Fragen aufgeblähtes Gehirn ist kaum das, worum wir uns bemühen sollten.”

Auf die Frage danach, wer wir sind und wie wir so geworden sind, gibt es keine einfachen oder gar allgemeingültigen Antworten, doch Siri Hustvedt gelingt es, kleine Impulse zu geben, interessante Perspektiven aufzuzeigen und zu neuen Denkanstößen anzuregen. Ihre wichtigste Anregung ist sicherlich die, mal über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszublicken – mit einem Blick, der offen sein sollte und immer darauf ausgerichtet, Neues zu entdecken.

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