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Deutschsprachige Literatur

Kastelau – Charles Lewinsky

Charles Lewinsky hat es mit seinem Roman Kastelau bereits vor Erscheinen auf die Longlist des Deutschen Buchpreis geschafft. Für die Shortlist hat es jedoch leider nicht gereicht. Doch kann man in diesem Fall überhaupt von einem Roman sprechen? Kastelau liest sich wie eine Mischung aus historischem Sachbuch und Tatsachenbericht, angereichert mit einer gehörigen Portion Spannung. Klingt verwunderlich, ist aber verdammt gut.

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Wer sich die Welt als Film ansieht, akzeptiert überraschende Wendungen.

Es ist Winter im Jahr 1944 und die bayrischen Alpen sind noch einer der wenigen friedlichen Orte in Deutschland. Während der Krieg anderswo seinen Höhepunkt erreicht, sucht eine Filmcrew einen Ort, um weitab von Berlin überleben zu können. Die Angst davor, eingezogen zu werden, treibt sie nach Kastelau – mitten hinein in die bayerischen Alpen. Dort wollen sie einen kriegswichtigen Film drehen. Bereits die Anreise nach Kastelau ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden, denn es kommt zu einer fürchterlichen Verwechselung. Weil die Wehrmacht alle Fahrzeuge eingezogen hat, fährt die Filmcrew in bemalten Autos. In sogenannten Dekorationen. Die Bemalung der Autos führt dazu, dass sie fälschlicherweise angegriffen werden. Diesem Angriff fällt ein Großteil der Crew zum Opfer: Drehbuchautor, Regisseur, Produzent, Kameramann und vier Schauspieler bleiben übrig. Einen Tontechniker – wenn auch einen gehörlosen – finden sie für ihren Film zum Glück auch in den Alpen.

Große Zeiten sind ein guter Boden für Geschichten. Die man erst wird schreiben können, wenn die Zeiten wieder klein sind.

Angekommen in Kastelau muss das Drehbuch erst einmal umgeschrieben werden, denn eigentlich fehlt nun das Personal, um überhaupt drehen zu können. Auch das Schloss, das im Film eine wichtige Rolle spielen sollte, gibt es vor Ort gar nicht.  Doch die Filmcrew bleibt. Den kriegswichtigen Film voller Durchhalteparolen, den können sie nicht mehr drehen, doch solange sie so tun, als würden sie etwas drehen, gelten sie als unabkömmlich. Dass es diesen Film eigentlich gar nicht gibt, ist kein Problem: Schauspieler sind im Erfinden geübt. Die Filmcrew tut so, als ob. Als ob sie einen Film drehen würde, als ob dieser Film kriegswichtig sei. Man dreht irgendwelche Szenen im verzweifelten Versuch weit weg vom Krieg überleben zu können. Tagtäglich wird am Drehbuch geschrieben, tagtäglich werden Szenen gedreht – all das, um vor den Dorfbewohnern und dem nationalsozialistischen Bürgermeister den Eindruck zu erwecken, als würde es diesen Film wirklich geben. Im Versuch ihr Leben zu retten, kommt es in den bayrischen Alpen zu allerlei Verwicklungen: von Mord, über Liebe bis zu Verrat ist alles dabei. Im Zentrum all dessen steht der Schauspieler Walter Arnold.

Kastelau. Ich habe den Namen nie vorher gehört. Es soll dort ein altes Schloss geben, für die Innenszenen. Hoffentlich mit einer Halle, die groß genug ist für den Aufmarsch der Soldaten.

Was Kastelau von vielen anderen Romanen über den Zweiten Weltkrieg unterscheidet ist die Erfindungsgabe des Autors und sein faszinierendes Spiel mit Fakten, Fiktion und Authentizität. Charles Lewinsky gibt seinem Roman eine ganz besondere Erzählstruktur, denn er erschafft im Vorspann die Figur Samuel Saunders, Besitzer der Videothek Movies Forever. Im Jahr 2011 wird er von Polizisten erschossen, als er auf dem Hollywood Boulevard in Los Angeles mit einer Spitzhacke versucht den Stern des Schauspielers Arnie Walton zu zerstören. Charles Lewinsky bringt sich  an dieser Stelle selbst ins Spiel: er behauptet, in einem Archiv in der East Melnitz Street, ein Konvolut aus Briefen, Listen, Notizen, Ausdrucken und Tonbändern gefunden zu haben (alles rein fiktiv natürlich). Aus diesem Konvolut hat er im Sinne einer Rekonstruktion einen Text erstellt, darunter befinden sich Tagebuchaufzeichnungen von Drehbuchautor Werner Wagenknecht, ein Interview mit der Schauspielerin Tiziana Adam und immer wieder Aufzeichnungen von Samuel Saunders, in denen er voller Hass über den Schauspieler Arnie Walton schreibt, der vor vielen Jahren noch unter dem Namen Walter Arnold in den bayrischen Alpen einen Film gedreht hat.

Für die Filmequipe war der begehrte Aufenthalt in Kastelau nur so lange gesichert, als sie dort tatsächlich einen Film drehten, oder  da sie den Film aus den erwähnten praktischen Gründen gar nicht drehen konnten – zumindest den Eindruck erweckten, mit Dreharbeiten beschäftigt zu sein.

Der Handlungsort Kastelau ist fiktiv, doch Charles Lewinsky erzählt eine Geschichte, die durch eine scheinbare Authentizität besticht. Der Text besteht aus ganz vielen Fragmenten, aus Ausdrucken und Transkripten, es gibt auch Fußnoten und Hinweise auf Wikipediaartikel. Und doch, auch wenn man es zwischendurch kaum glauben mag: all das ist erfunden. Charles Lewinsky erzählt in all diesen Fragmenten Bruchstücke einer Geschichte, die zu Beginn so schwammig ist, dass sie kaum zu erkennen ist und im Laufe des Romans dann immer deutlicher Kontur annimmt. Das kongeniale Element dieses Romans ist, dass es eigentlich der Leser selbst ist, der aus diesen Fragmenten eine Geschichte macht, der all die Leerstellen und Lücken schließt. Charles Lewinsky liefert das Material, aus dem der Leser sich eine faszinierende Geschichte erfinden kann. Auf den ersten Seiten war ich skeptisch, zu groß erschienen mir die Lücken zwischen den Fragmenten und zu viele Zusammenhänge fehlten mir, doch mit zunehmender Dauer ist die Skepsis einer großen Begeisterung und einer ungeheuren Spannung gewichen.

Ich könnte mich auf dem Grab von Arnie Walton erschießen. Forest Lawn, natürlich, darunter macht er es nicht. Ein Wunder, dass sie ihn nicht auf dem Heldenfriedhof von Arlington beerdigt habe. So ein dramatischer Selbstmord wäre ein passender Abschluss für die Schmierenkomödie seines Lebens.

Charles Lewinsky brilliert in seinem neuen Roman Kastelau als herausragender Erzähler, der mit großer Kunstfertigkeit eine spannende Geschichte erzählt. Doch dieser Roman ist nicht nur spannende Unterhaltung, sondern auch ein beeindruckendes literarisches Experiment und Wagnis. Lewinsky legt keine vorgefertigte und zu Ende erzählte Geschichte vor, sondern führt den Leser an seinen Schreibtisch, auf dem all die Materialen ausgebreitet liegen. Wenn es einem gelingt, beim Lesen den Erzählfaden zu finden, dann erhält man als  Leser die Möglichkeit, diesen selbst zu weben und in eine wunderbare Mischung aus Illusion und Erfindung einzutauchen. Was man dann daraus macht, liegt in der eigenen Fantasie, der eigenen Vorstellungskraft und in den eigenen moralischen Grundsätzen.

April – Angelika Klüssendorf

April ist eine junge Frau, die eine Jugend ohne Jugend erlebt hat. Auch eine wirkliche Kindheit hat sie nie gehabt. In einer schonungslosen Welt ist sie in ein Leben als Erwachsene hinein gewachsen, das sie überfordert – gefangen zwischen den Anforderungen der Gegenwart und den Schrecken der Vergangenheit.

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Am liebsten würde sie die Liebe in Flaschen abfüllen, um bei Bedarf Tropfen für Tropfen parat zu haben.

Vor drei Jahren hat Angelika Klüssendorf den Roman Das Mädchen veröffentlicht, eine trostlose Geschichte über die Hölle einer Kindheit. Der Roman stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis. April ist die Fortsetzungsgeschichte, auch dieser Roman steht nun auf der Shortlist. Es ist eine Fortsetzung, die man auch ohne Anfang verstehen kann. Es ist die Fortsetzung eines ausweglosen Lebens, das in einer fürchterlichen Kindheit seine Wurzeln hat.

Die letzten Jahre hat sie in Heimen verbracht, mit hundert Mark und der Zuweisung für die Wohnung wurde sie ins Erwachsenenleben entlassen.

Aus dem Mädchen ist mittlerweile eine junge Frau geworden, die sich den Namen April gegeben hat – in Anlehnung an einen Song von Deep Purple. Die Kindheit hat sie hinter sich gelassen, auch wenn sie immer noch in ihr steckt. Irgendwo. Sie ist gerade achtzehn geworden und die Jugendhilfe hat ihr ein Zimmer zugewiesen. Auch Arbeit hat sie bekommen, als Bürohilfskraft im Starkstromanlagebau. April ist davongekommen und doch ist sie in ihrem neuen Leben noch nicht angekommen: sie klaut bei jeder sich bietenden Gelegenheit, an ihrer Arbeitsstelle gelingt es ihr nicht, sich unterzuordnen. Ein kleiner Kobold sitzt in ihr, der sie immer wieder aufbegehren lässt, wenn sie zu viel Glück empfindet. Glück kann sie nur ganz schwer aushalten.

Anders als ihre ewig grausame Mutter hatte ihr Vater eine Art Gerechtigkeitssinn; er hat April nur mit der Hand geschlagen, er schlug auch nicht gern, es kam sogar vor, dass er sich danach entschuldigte. Trotz allem wünscht sie sich, dass ihr Vater sie auf seine Weise liebt.

April strauchelt durch ihr neues Leben als Erwachsene. Phasen der Verzweifelung wechseln sich mit Phasen eines ruhigen Glücks ab. Nicht alles ist schlecht in ihrem Leben, doch vieles ist durch ihre Kindheit verseucht worden. Ihre Eltern leben noch, doch sie sind ihr keine Unterstützung. Ihre Mutter ist Kellnerin und der Vater eine Art Lebenskünstler. Die Reise in das Erwachsenenleben muss sie alleine bewältigen und Angelika Klüssendorf lässt den Leser an dieser Reise teilnehmen. Es ist eine scheinbar hoffnungslose Reise, doch sie ist durchsetzt mit Glücksmomenten: April gelingt es einen Ausreiseantrag zu stellen, sie bewirbt sich an einem Literaturinstitut. Erst als sie die DDR verlässt, verlässt sie auch ihre Kindheit – aus dem Kobold, der Glück nicht lange festhalten kann, wird eine selbstbewusste Frau, die immer noch schwankt, doch plötzlich viel klarer ist. Sie verlässt eine Welt, die für sie reglementiert gewesen ist und betritt ein Schlaraffenland der Entscheidungsmöglichkeiten.

Sie hat das Gefühl, noch in der Kindheit verhaftet zu sein, ein Mädchen, das versucht, sich wie eine Frau zu verhalten, ohne die unsichtbare Grenze dazwischen zu überwinden.

Bei dem Versuch die Welt zu verstehen, wird die Literatur Aprils Gradmesser. Sie liest alles, was sie in die Hände bekommt: ihr Lieblingsroman ist der Graf von Monte Christo. Literatur wird zu ihrem wichtigsten Lebensinhalt, sie schreibt und liest, um sich von dem zu befreien, was gewesen ist. Es ist ein Zufall, der sie zur Herausgeberin einer kleinen Literaturzeitschrift macht. Und so habe ich April als Lebensgeschichte gelesen, die durchsetzt ist mit Fluchtgedanken und dem Bedürfnis nach Heimat. Mit der Suche nach Freiheit und der schon fast erdrückenden Hoffnungslosigkeit. Entstanden ist dabei ein bedrückender Roman mit großer Eindringlichkeit. Ganz sicherlich kein Lesevergnügen und doch konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen.

Angelika Klüssendorf legt mit April einen fast schon seltsamen Entwicklungsroman vor, der voller Widersprüche ist: aus dem Mädchen, das ein Erwachsenenleben voller Hoffnungslosigkeit betritt, wird – trotz aller zwischenzeitlicher Rückschläge – mit der Zeit eine starke, junge Frau. Geschrieben ist der Roman schnörkellos und unprätentiös, das Leid ist in jedem Wort, in jedem Satz, in jeder Zeile greifbar und doch ist der Erzählton nüchtern, ja fast schon lakonisch erzählt. April ist ein trost- und hoffungsloser Roman, dem es gelingt,dann doch irgendwann  einen leisen Hoffnungsschimmer zu spenden: es ist die Hoffnung darauf, dass es trotz allem besser werden könnte.

Weitere Besprechungen gibt es hier, hier und hier.

Wir haben Raketen geangelt – Karen Köhler

Karen Köhler legt mit “Wir haben Raketen geangelt” einen Band voll von großartigen Erzählungen vor, denen es gelingt, das Grau des Alltags wegzukratzen und mit wunderschönen Worten und Gedanken zu ersetzen. Es sind Erzählungen, die berühren und bewegen – voller sprachlicher Finesse. Alle Erzählungen kreisen um die großen und bedeutsamen Themen des Lebens: den Tod, die Liebe, das Ohne-Einander-Weiterleben.

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Zeit ist ein Kaugummi, aus dem der Geschmack entwichen ist.

Es sind insgesamt neun Geschichten, die uns von Karen Köhler geschenkt werden. Die erste Geschichte, die den Titel Il Comandante trägt, sollte eigentlich beim Bachmannpreis gelesen werden – doch dann kamen Karen Köhler die Windpocken dazwischen. Wenn man anfängt, diese Geschichte zu lesen, wird einem klar, wie bedauerlich dies war: mit leichter Hand erzählt die Autorin von der Schwere des Lebens, von Krankheit, Tod und dem Versuch weiterzuleben. Il Comandante steht exemplarisch für die acht folgenden Geschichten, für Polarkreis und für Wild ist scheu, für Findling und für Familienportraits.

Wir fahren. Wir fahren mit Wind in den Fenstern. Wir fahren mit Musik in den Ohren. Wir sind zwei Delphine im Wasser. Einer davon fast blind. Wir könnten Helden sein. Nur für einen Tag. Ich, ich wäre der König. Und du, du wärst die Königin.

Alle neun Erzählungen kreisen um das, was Leben bedeutet: um das Leben miteinander und ohneeinander, um das Sterben und den Tod, um den Wunsch danach auszubrechen, um irgendwo anzukommen. In der Erzählung Cowboy und Indianer erzählt Karen Köhler die Geschichte von Katharina, es ist eine verschachtelte Geschichte. Katharina, die als Kind immer lieber Indianer sein wollte, strandet in der Wüste Amerikas und trifft dort auf einen waschechten Indianer. Er rettet ihr das Leben und schon kurz darauf, essen sie zusammen Doppelwhopper. Schicht für Schicht erfährt der Leser, was Katharina nach Amerika geführt hat, welcher Wunsch sie aus ihrem Alltagsleben getrieben hat – hinaus in die trockene Wüste.

Fauchend sausten die Raketen, von Sehnen gebändigt, mühsam in den Himmel und explodierten über unseren Köpfen. Wir haben Raketen geangelt. Das war letztes Silvester.

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Der Wunsch danach auszubrechen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichten. Genauso wie das Reisen. Karen Köhlers Figuren reisen in die Ferne, um zu sich selbst zu finden: Polar verlässt sein Leben, zurück bleibt lediglich ein Zettel: Bin “Zigaretten holen”. Über München reist Polar nach Italien, legt sich eine Vespa zu und denkt über die wichtigen Fragen des Lebens nach. Andere verschlägt es auf Schiffe, in die Wüste oder auf Hochsitze. Dem Wunsch zu verschwinden liegt jedoch auch ein Bedürfnis zu Grunde: es ist ein Bedürfnis nach Antworten, nach Erklärungen.

Hingegangen bin ich nur wegen der Idee wegzukommen, mein Leben irgendwie von mir abzuschneiden. Ich wollte vergessen und so wenig denken wie mir möglich ist, aber jetzt hat das mit dem Denken wieder angefangen.

Die titelgebende Geschichte erzählt von Krassiwaja und Libero. Es ist die Geschichte einer Liebe, aber es ist auch eine wütende und traurige Geschichte, die davon erzählt, übrig zu bleiben, zurück zu bleiben.

Die Warum-ich-nicht-mit-Dir-zusammen-sein-kann Top 10: 1. Du besitzt nur ein einziges Buch. 2. Das Buch trägt den Titel “Excel for Dummies”. 

Karen Köhler erschafft ein Koordinatensystem des Schmerzes: immer wieder wird vom Schmerz erzählt, von körperlichen Schmerzen, aber auch von seelischem Leid. Von Erkrankungen und davon verlassen zu werden. Von Angst und Einsamkeit. Von Familien, die schon lange in alle Einzelteile zerbröselt und zerbröckelt sind. Wir haben Raketen geangelt ist dennoch keine schwere Lektüre, denn Karen Köhler gelingt es, so heiter und beschwingt zu erzählen, dass die graue Melancholie hinter all den bunten Worten verblasst. Sie erzählt von Schmerz und Leid, doch sie macht den Leser dabei offen für das, was dahinter liegen könnte – für das Weiterleben, für Dinge, für die es sich lohnt, weiterzuleben.

Dinge, die ich noch erleben will: jede Jahreszeit einmal. Schnee. Krieg und Frieden lesen. Gegen die Welt. Vor dem Fest.

Karen Köhlers Geschichten schlagen Krater in die Seele, doch beim Zuklappen der letzten Seite empfinde ich neben Melancholie, auch ein ganz zartes Glücksgefühl. Ich lache und weine gleichzeitig angesichts dieser wunderschön traurigen Geschichten, in denen jeder Satz stimmt, jedes Wort passt, in denen ich mich aufgehoben und zuhause fühle. Bei Karen Köhlers beeindruckendem Debüt als Autorin, darf jedoch nicht nur der Text und die Sprache erwähnt werden, denn auch die äußere Erscheinung des Erzählbandes ist wunderschön und wurde von der Autorin, die auch als Illustratorin arbeitet, eigenhändig gestaltet – ebenso liebevoll, wie sie all ihre Figuren gestaltet hat.

Aller Liebe Anfang – Judith Herrmann

Stella ist glücklich verheiratet, hat eine kleine Tochter und einen Beruf, der sie zufrieden stellt. Doch eines Tages steht ein fremder Mann vor ihrer Tür, der ein Gespräch mit ihr führen möchte. Dieses seltsame Ereignis ist der Auftakt für einen Albtraum, der Stella immer stärker die Luft zum Atmen abschnürt. Judith Herrmann legt mit Aller Liebe Anfang einen eindringlichen Roman vor und erzählt von unserer Schutzlosigkeit und den Schrecken, die ohne Vorwarnung in ein scheinbar glückliches Leben drängen können.

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Ich empfinde es als ungerecht, dass sich die Verkettung der Dinge nur im Nachhinein erkennen und begreifen lässt. Und auf der anderen Seite bin ich glücklich, hab ein wildes und zuversichtliches Herz.

Der Titel des Romans –  Aller Liebe Anfang – ist eine Irreführung, denn Judith Herrmann beschreibt nicht den Anfang einer Liebe, sondern den Anfang eines Albtraums, eines Schreckens, der plötzlich Einzug in das eigene Leben hält und gegen den man sich nicht wehren kann. Was kann es schon für ein Gegenmittel für eine unerwünschte Liebe geben? Für eine einseitige Liebe? Für eine Liebe, die es nur in der Phantasie des Gegenübers gibt, die in der Realität jedoch keinen Bestand hat. Ist das überhaupt Liebe? Oder Besessenheit? Eine Obsession? Eine Krankheit? Eine Heimsuchung?

[…] sie fragt sich erst später, wie sie sich aus was raushalten soll, das sie selber gar nicht veranlasst hat, wie soll sie was steuern, das jemand anders steuert.

Die 37 Jahre alte Stella wohnt gemeinsam mit ihrem Mann Jason und ihrer Tochter Ava in einem Stadthaus. Die Stadt bleibt namenlos, doch die gewählten Figurennamen deuten daraufhin, dass die Geschichte in England oder in Amerika spielen könnte. Stella arbeitet als Altenpflegerin, ihr Mann Jason baut Häuser. Er ist immer wieder für mehrere Wochen nicht zu Hause, wenn er da ist, ist die Kommunikation schleppend, schwierig. (Schön wenn Jason wiederkommt. In gewisser Weise auch schön, wenn er wieder wegfährt.) Stella ist in gewisser Weise spröde, zurückhaltend, verkopft. Obwohl sie bereits einige Jahre in derselben Straße wohnt, kennt sie kaum einen ihrer Nachbarn. Ihre Kontakte beschränken sich auf ihre Arbeitskollegen. Vieles bleibt in ihr, unausgesprochen, lediglich gedacht. An einem gewöhnlichen Mittwochvormittag ändert sich das bisherige Leben von Stella von einem Moment auf den anderen: ein fremder Mann steht vor dem Gartentor, klingelt und bittet um ein Gespräch. Auch wenn sie nicht genau sagen kann warum, hindert irgendetwas sie daran, die Tür zu öffnen. Über die Gegensprechanlage schickt sie ihn fort.

Er sagt, guten Tag. Wir kennen uns nicht. Sie kennen mich nicht. Ich kenne Sie aber vom Sehen, und ich würde mich gerne mal mit Ihnen unterhalten. Haben Sie Zeit.

Dieser Tag ist der Beginn eines Albtraums. Der Fremde klingelt jeden Tag an der Haustür, legt jeden Tag etwas in den Briefkasten – hinterlässt Karten, Liebesbriefe, CDs, Gegenstände, Fotos. Stella findet heraus, dass der fremde Mann ihr Nachbar ist. Mister Pfister. Während ihr Mann sie zunächst noch einer heimlichen Liebschaft verdächtigt, setzt sich in Stellas Leben schnell Angst und Schrecken fest: plötzlich beginnt sie damit, die Haustür von innen abzuschließen, blickt immer wieder aus dem Fenster, fühlt sich nie alleine, nie unbeobachtet.

Ich wünsche mir, dass du mich ansiehst. Dass du mich ansiehst und mir zuhörst. Ich wünsche mir auch, dass wir uns schon immer hätten kennen können, du wirst älter, wir haben nicht mehr viel Zeit. Du wirst lächeln, wenn du mich ansiehst, es kann gar nicht anders sein. Ich werde dir zeigen, was ich sehe: die Drossel, ihr getupftes Gefieder, den Park, die Seiten des Buches, in dem ich lese –

Mister Pfister glaubt Stella zu lieben, doch für Stella ist der fremde Mann eine Bedrohung, ein Eindringling, ein Schrecken, dem sie sich nicht entziehen kann. Wie soll sie sich verhalten, wie reagieren? Soll sie das Gespräch suchen, soll sie ihn ignorieren? Wie kann sie sich schützen, wie kann sie ihre Tochter und ihren Mann schützen? Wie kann man sich vor ungewollter Liebe bewahren?

Die Stella, die Mister Pfister meint, gibt es nicht, sie hat jedenfalls mit Stella nichts zu tun. Mister Pfister hat sie erkannt, aber er meint sie gar nicht – diese Stella, die nach Feierabend in flachen Sandalen und mit einem müden, ungeschminkten Gesicht einkaufen geht, angespannt, hektisch und offenbar bedürftig, diese Stella interessiert ihn nicht. Mister Pfister interessiert sich für Stella in ihrem verschlossenen Haus. Für ihr Gesicht hinter der kleinen Scheibe neben der Tür, ihre entfernte Gestalt im Stuhl am Rand der Wiese weit weg hinten im Garten, für die wartende Stella am Schreibtisch oben in ihrem Zimmer. Diese Stella meint Mister Pfister. Eine imaginierte Stella. Seine.

Judith Herrmann legt mit Aller Liebe Anfang einen schwergewichtigen Roman vor, der sich weniger wie ein Roman liest, sondern schon beinahe Züge einer Kurzgeschichte trägt. Vieles bleibt in der Schwebe, unausgesprochen, wortlos. Insgesamt gibt es nur wenige Erklärungen: warum taucht dieser Mann so plötzlich auf? Warum sucht Stella so wenig Unterstützung? Vielleicht möchte Judith Herrmann darin spiegeln, dass es für das, was Stelle geschieht, eben häufig keine Erklärung gibt, doch mir haben Zusammenhänge gefehlt, mir hat eine Entwicklung der Figuren gefehlt. Der Roman lebt weniger von einer Geschichte, die mit Inhalt und Figuren gefüllt wird, die sich im Laufe der Erzählung entwickeln, sondern von einem diffusen Gefühl der Bedrohung, der Beklemmung, der Angst. All dies spiegelt sich auch in der Sprache wider, die lückenhaft ist und aus knappen, aneinandergereihten Sätzen besteht. Zwischendurch findet sich immer wieder das, was man als Herrmannsound bezeichnen könnte. “Träume, wie Häutungen”“Sowieso, schon lange nicht mehr”.

Es ist grässlich, gestalkt zu werden. Es macht mein Leben kaputt. Es macht mich kaputt. Ich will, dass du damit aufhörst. Ich will, dass du nie wieder bei uns klingelst, nie wieder etwas in den Briefkasten legst, dass du verschwindest, ein für alle Mal. Hast du das verstanden. Hörst du mich?

Judith Herrmann legt  mit Aller Liebe Anfang einen intensiven Roman vor, dem eigentlich alles fehlt, was einen herkömmlichen Roman ausmacht. Die Autorin legt den Umriss einer Geschichte vor, die von den Lesern selbst gefüllt werden muss – das ist stellenweise unbefriedigend. Dennoch: in all seiner Bedrohlichkeit, in all seiner Kühle, Kälte und angsteinflößenden Atmosphäre ist dieser Roman ein starkes Stück Literatur.

Wunderlich fährt nach Norden – Marion Brasch

Eigentlich ist Wunderlich ein Mann im besten Alter und doch läuft gerade fast alles in seinem Leben schief. Als er dann auch noch von seiner großen Liebe Marie verlassen wird, entschließt er sich zu einem radikalen Schritt: er lässt allen Kummer hinter sich und reist einfach drauflos. Richtung Norden ist das einzige Ziel, das er hat.

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“Wunderlich war der unglücklichste Mensch, den er kannte. Er kannte zwar nicht viele Menschen, doch was spielt das für eine Rolle, wenn das Unglück größer ist als man selbst.”

Wunderlich, so heißt der Held des neuen Romans von Marion Brasch. Der Name kommt nicht von ungefähr, denn Wunderlich ist genauso kauzig und sonderbar, wie man sich wohl jemanden vorstellen würde, der diesen Namen trägt. Sein bisheriger Lebensweg war vor allem kurvig – selten lief etwas so, wie er es geplant hatte. Eigentlich wollte Wunderlich Bildhauer werden, doch diesen Traum musste er aufgrund einer chronischen Sehnenscheidenentzündung begraben. Die Beziehung zu seiner Jugendliebe ist irgendwann abgestorben, ohne Erklärung – wie ein Ast, der von einem Baum bricht. Den gemeinsamen Sohn hat er seit Jahren nicht besucht. Zu allem Überfluss hat sich nun auch noch sein größtes Glück in sein größtes Unglück verwandelt – Marie hat ihn einfach verlassen.

Im Moment der allergrößten Verzweiflung, alleine und verlassen auf dem Dach seines Wohnhauses sitzend, erhält Wunderlich ungewöhnlichen Beistand: sein Handy spricht zu ihm. Oder vielmehr: es schreibt ihm Kurznachrichten. Die erste Nachricht lautet: “Guck nach vorn”. Der Absender gibt sich nicht zu erkennen, auf dem Handydisplay steht lediglich Anonym – doch er schickt Wunderlich Nachrichten. Manchmal antwortet Anonym auf Fragen, die sich Wunderlich stellt, manchmal wirft er einen Blick in die Zukunft, erzählt Wunderlich wie das Leben von Menschen, denen er begegnet, in Zukunft verlaufen wird. Manchmal blickt er zurück in die Vergangenheit. Eines ist klar: Anonym weiß ziemlich gut Bescheid, über das Leben von Wunderlich, aber auch über das Leben an sich.

“Vielleicht habe ich einen Nervenzusammenbruch, dachte er. Oder ich werde wahnsinnig. Andere hören Stimmen, ich lese eben Kurznachrichten.”

Anonym empfiehlt dem bekümmerten Wunderlich eine Luftveränderung, eine kurze Reise, um sich von Kummer und Sorgen zu befreien. Wunderlich begibt sich auf eine wunderlich verwunschene Reise, er fährt ohne Plan und Ziel los, einzig, dass es Richtung Norden gehen soll, steht fest. Dirigiert von Anonym erlebt er allerhand Skurriles: Züge, die an stillgelegten Bahnhöfen halten. Bäume, an denen ein bläuliches Harz klebt, das nicht nur Wunden heilen soll, sondern auch das Gedächtnis auslöschen kann. Wie praktisch, wenn man gerade unter Liebeskummer leidet. Auf dieser Reise trifft er auch auf allerhand seltsame Gestalten, auf Menschen, die ähnlich gescheitert sind am Leben, wie er selbst. Auf Menschen, die scheinbar nur er sehen kann, aber niemand sonst und auf Menschen, die genauso plötzlich auftauchen, wie sie wieder verschwunden sind.

“[…] außerdem wollte er nichts von dem vergessen, was er erlebt habe, das Gute nicht und das Schlechte auch nicht, und man sei ja die Summe seiner Teile, also auch seiner Erfahrungen, und wenn man sich plötzlich an die blöden oder schlimmen oder traurigen Sachen nicht mehr erinnern könne, wäre man doch auch nur halb und könne sich gleich begraben lassen, weil man dann ja auch nicht mehr in der Lage sei, den Schmerz von anderen zu verstehen.”

Die Begegnungen werden begleitet von vielen anonymen Kurznachrichten, durch die Wunderlich einen Einblick in das Schicksal dieser Menschen erhält. Und plötzlich fängt er an, sich Fragen über das Leben zu stellen: über das Schicksal, über das Zerplatzen von Träumen, über Sorgen (“Ein großer Teil der Sorgen besteht aus unbegründeter Furcht […]”) und über den eigenen Schatten, über den man immer wieder springen muss, um nicht stehen zu bleiben. Zum ersten Mal kommt ihm der Gedanke, dass ein zerplatzter Traum auch immer eine neue Chance beinhalten kann – so lange man nicht aufhört, nach vorne zu gucken. So lange man nicht aufhört, zu leben. Aus dem zaudernden und zaghaften Wunderlich wird plötzlich ein mutiger Abenteurer, der sich Dinge traut, die er sich nie hätte vorstellen können.

“So ist das Leben, dachte Wunderlich. Und er fragte sich, warum er auf seiner Reise eigentlich immer nur verlorene Seelen traf und nie jemanden, der glücklich war. Doch was wusste er schon vom Glück oder Unglück der anderen.”

Marion Brasch legt mit “Wunderlich fährt nach Norden” einen beinahe märchenhaften Roman voller Leerstellen und Lücken vor. Sie deutet an, macht feine und leise Pinselstriche, doch die Zusammenhänge muss der Leser sich häufig selbst erschließen. Das, was offen bleibt, muss vom Leser selbst gefüllt werden – oder auch nicht. So entsteht ein herrlich doppelbödiges Leseerlebnis: der Roman kommt als positiver Stimmungsaufheller, als sommerliche und lockerleichte Lektüre daher, die jedoch niemals Gefahr läuft in die Trivialität abzugleiten. Unter dieser Oberfläche verbergen sich jedoch allerlei lebensphilosophische Weisheiten, viel Tiefgründigkeit und eine Menge Stoff zum Nachdenken. “Wunderlich fährt nach Norden” ist für mich ein wunderschönes Sommerbuch – mit ganz viel  Tiefgang.

Tango für einen Hund – Sabrina Janesch

Während ihre ersten beiden Romane noch zwischen Deutschland und Polen spielten, schickt Sabrina Janesch die Protagonisten ihres neuesten Romans – “Tango für einen Hund” – einmal quer durch die niedersächsische Provinz. Was zunächst wie ein Remake von Tschick klingt, ist am Ende dann doch bedeutend mehr: Sabrina Janesch legt einen wunderbaren Coming-of-Age-Roman vor, voller Witz und Esprit und mit einer gehörigen Portion Lebensweisheiten.

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“Am Anfang war Musik, klar? Der Typ, der meinte, am Anfang sei das Wort, der hatte definitiv keine Ahnung. Jedenfalls, wenn man mich fragt. Klarer Fall von schlechtem Drehbuch.”

Ernesto wächst im wildesten Teil des Westens auf: “[…] also, wenn wild heißen soll, dass es hier keine richtigen Städte gibt, bloß ein paar Eisenbahnlinien, die das Land durchkreuzen.” Er wächst dort auf, wo das Land platt ist und nur noch ein paar wenige andere Desperados und Greenhorns leben. Eigentlich sind Sommerferien, doch diesen Sommer hat er keine Ruhe, denn er muss unter der Aufsicht von Texas Joe 200 Sozialstunden ableisten. Wer jetzt glaubt, Ernesto würde irgendwo in den heißen Südstaaten leben, der irrt gewaltig, denn mit bürgerlichem Namen heißt der unscheinbare junge Mann Ernesto Schmitt und lebt in Semmenbüttel, mitten in der Lüneburger Heide – dort, wo der ältere Teil der Bevölkerung sich noch auf Plattdeutsch unterhält. Texas Joe heißt eigentlich Joachim Niendorf und arbeitet als Gärtner. Der siebzehn Jahre alte Ernesto trägt zwar den Namen von Che Guevara, doch ansonsten hat er wenig heldenhaftes an sich.

“Das hier, haltet euch fest, ist die Lüneburger Heide. Und was hier alles los ist, zeigt gleich die allererste Einstellung: (Mundharmonika quietscht, leise klimpernde Musik im Hintergrund, ein heiserer Wind kommt dazu.) Nichts. Also so richtig: Nichts.”

Der größte Traum von Ernesto ist, an der Filmhochschule zu studieren. Die erste Runde hat er schon überstanden, das Thema für den Bewerbungsfilm lautet nun “Über Land” und Ernesto weiß sofort, über welches Land er einen Film drehen möchte: über Argentinien, dem Land, aus dem – auf verschlungenen und kaum zu erklärenden Wegen – ein Teil seiner Verwandtschaft stammt. Doch statt mit der Filmkamera im Gepäck in das Land seiner Vorfahren zu reisen, wird er zu 200 Sozialstunden verdonnert. Frida, seine große Liebe, hat bei einer Rangelei in der Mühle, einen Joint auf den Boden geworfen – die Mühle steht in Flammen und heroisch – fast wie ein richtiger Held – nimmt Ernesto alle Schuld auf sich, um Frida zu schützen. Doch die dankt ihm das nicht einmal.

“Ich hasse es, wenn ich Dinge erklären muss. Oder wenn wer anders Dinge erklärt. Die Sache, die man erklärt, verliert sofort an Bedeutung. Als würde man mit einer Stecknadel in einen Luftballon hineinstechen. Alles Wesentliche macht sich dünn, und zurück bleibt nur ein schrumpeliges Häutchen.” 

Das, was zunächst als tragische Liebesgeschichte beginnt – verschüchterter Junge, der sogar vor Pudeln Angst hat, verliebt sich in ein bildschönes und unerreichbares Mädchen – entwickelt sich schließlich zu einer rasanten Road Novel. Plötzlich steht Onkel Alfonso aus Argentinien vor der Tür, im Gepäck hat er Astor, einen uruguayischen Hirtenhund, der bei der Hundeaustellung in Bad Diepenhövel zur Schönheitskönigin gekürt werden soll. In einem uralten Fiat Panda, der auch liebevoll als Möhre bezeichnet wird, machen sich die drei auf den Weg: einmal quer durch Niedersachsen, einmal über Land.

“Hier gibt es nichts zu sehen, klar, hier passiert nichts, hier wohnt niemand Interessantes, hier laufen keine spannenden Tiere herum, hier spielen aus verdammt guten Gründen weder Filme noch Bücher. Wer hier freiwillig mit dem Rucksack durch die Gegend läuft, der ist mit ziemlicher Sicherheit aus Prinsenloh ausgebrochen oder sollte sich wenigstens dort mal vorstellen, nur zum Check, vorsichtshalber.”

Nachdem sich Sabrina Janesch in ihren ersten beiden Romanen schwereren Themen gewidmet hat, folgt mit “Tango für einen Hund” nun ein überraschend leichter und unbeschwerter Roman, der auf den ersten Blick eine Mischung aus Provinzroman und Road Novel darstellt. Doch wenn man genauer hinschaut, wird deutlich, dass Sabrina Janesch eigentlich einen großartigen Entwicklungsroman erzählt, eine furiose Coming-of-Age-Geschichte. Der rettungslos verliebte Teenager, der sich nachts im Bett immer noch vor Moorleichen fürchtet und in Semmembüttel ein Außenseiter ist, entwickelt sich zu einem jungen Erwachsenen, voller Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Der Roadtrip an der Seite von Alfonso und Astor, lässt ihn erwachsener werden und irgendwann zu der Erkenntnis kommen: “Meinen Weg kann ich mir vielleicht nicht selber aussuchen. Aber wie ich ihn gehe, auf alle Fälle.” 

“Im Leben wie beim Tango braucht man eine Menge Rückgrat. Ausdauer. Den Blick nach vorn. Fokussiert.”

Sabrina Jenesch legt mit “Tango für einen Hund” einen lesenswerten Roman vor: unterhaltsam, hochkomisch und gewürzt mit einer ordentlichen Portion kluger Lebensweisheiten. Der Autorin gelingt es dabei hervorragend, den richtigen Ton für ihren Helden und für die Provinz zu treffen. Beim Lesen bekommt man fast schon Lust, den nächsten Urlaub in die Lüneburger Heide zu verlegen.

Der Sturm in meinem Kopf – Horst Sczerba

Was passiert, wenn man die beiden Menschen verliert, die man am meisten geliebt hat? Wie kann man ein solches Unglück überleben? Wie kann man eine solche Katastrophe überstehen, ohne verrückt zu werden? Horst Sczerba erzählt in seinem Romandebüt “Der Sturm in meinem Kopf”, die Geschichte von einem Mann, der sich schon sein ganzes Leben lang auf der vergeblichen Suche nach Gerechtigkeit befindet. Als seine Frau und seine Tochter bei einem Autounfall sterben, dreht er durch und kann nur noch daran denken, Rache zu üben.

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“Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Das dauert ein paar Minuten, dann ist es vorbei, und ich bin wieder der alte Georg Kupinski. Verwirrt reibe ich mir den roten Schleier von den Augen. Mit der Zunge befühle ich die wunden Stellen im Mund, es schmeckt süß, faulig und nach Eisen. Ich habe mich gebissen, was ich da schmecke, ist mein Blut.”

Horst Sczerba, der 1947 geboren wurde, ist eigentlich Autor von Drehbüchern für Film und Fernsehen. Mit “Der Sturm in meinem Kopf” legt er einen späten, dafür aber nicht weniger beeindruckenden, Debütroman vor. Der Klappentext spricht übrigens von einem furiosen Psychogramm zwischen Zärtlichkeit und Mordlust, morbide und albtraumschön, doch im Grunde erzählt Horst Sczerba zunächst einmal eine klassische Liebesgeschichte. Junge liebt Mädchen, Mädchen liebt Junge. Doch ganz so klassisch geht es bei Georg und seiner großen Liebe Eva dann doch nicht zu. Georg, der als Beamter bei der Mordkommission arbeitet, verliebt sich in einen Engel, in Eva, ein Mädchen aus reichem Hause. Doch der jungen Liebe stellen sich zu Beginn zahlreiche Hindernisse in den Weg: beide schwanken in ihrer Liebe zueinander zwischen Obsession und gegenseitiger Zuneigung. Erst als die gemeinsame Tochter Marie zur Welt kommt, stellt sich so etwas wie Glück ein.

“Manchmal wäre ich gerne eine Fliege. Es ist so einfach: Man kann überall hin, alles kann man sehen, ohne selber gesehen zu werden. Einer Fliege stehen die Geheimnisse der Welt offen. Vor einer Fliege kann sich niemand verstecken.”

An einem Wintertag bringt Eva die gemeinsame Tochter zu einem Kindergeburtstag. Die Bremsscheiben des Autos sind abgefahren, es hat nicht einmal Winterreifen drauf. Georg weiß das, aber Eva weiß das nicht. Georg kann an diesem Tag nicht fahren, weil er beim Tauchen im Schwimmbecken einen Schwächeanfall hatte – es ist der übermäßige Alkoholkonsum, der ihm zugesetzt hat. Wenn er damals weniger getrunken hätte, wenn er damals Marie selbst zum Geburtstag gefahren hätte, wenn er sich um die Bremsen und Reifen rechtzeitig gekümmert hätte – dann würden Frau und Tochter heute noch leben. So sterben beide auf einer Kreuzung, weil das Auto an einer roten Ampel nicht zum Stehen kommt.

“Jetzt, da von meiner Familie keiner mehr übrig geblieben ist, könnte ich die Wahrheit schreiben. Ohne Rücksicht könnte ich meine heimlichen Leidenschaften, Liebschaften, Verbrechen und guten Werke, meine Angst und meinen Zorn niederschreiben.”

Lange soll es dauern, bis Georg Kupinski fähig dazu ist, seine eigene Schuld, sein eigenes Versagen, seine eigenen Fehler anzuerkennen. Vor diesem bitteren Schuldeingeständnis liegt ein zorniger Rachefeldzug, der ihn beinahe alles kostet: seinen Verstand, seinen Beruf, sein Leben. Für Georg Kupinski ist es unbegreiflich, dass es für das Unglück, das sein Leben zerstören sollte, keinen Täter gibt, keinen Schuldigen – der Unfallfahrer wurde freigesprochen.

Erzählt wird diese Geschichte von Horst Sczerba in vielen kleinen Episoden und Rückblenden, sie führt den Leser nicht nur zurück in Georg Kupinskis Kindheit, sondern sogar bis nach Mexiko. Stetig schwankt das Erzählte dabei zwischen Phantasie und Wirklichkeit – die Trennlinie zwischen Wahn und Realität ist hauchdünn. Es ist der Bericht eines Wahnsinnigen, der voller Zorn, voller Wut, voller Verzweiflung und voller Schuld auf ein Leben blickt, das er selbst verpfuscht hat. Erst auf den letzten Seiten weicht der Wahn einer zunehmenden Klarheit. Horst Sczerba verzichtet zwar auf ein klassisches Happy End, doch das Buch endet doch irgendwie positiv – ohne Gefahr zu laufen, kitschig zu werden.

“Ich habe gewusst, wie leicht sie sich von Marie ablenken lässt. Dass sie nachtblind ist und im Dunkeln schlecht sieht. Wenn es dazu noch regnet oder schneit, sieht sie gar nichts. Ich habe gewusst, dass die Bremsbeläge abgerieben waren und dringend erneuert werden mussten. Nicht einmal die Winterreifen habe ich aufziehen lassen, obwohl die Sommerreifen kaum noch Profil hatten. Ich habe die beiden trotzdem fahren lassen.”

Horst Sczerba hat einen Roman über Schuld und Schicksal geschrieben, der von einer Hauptfigur getragen wird, die voller Zorn und Wut ist. Von einer Figur, die ihr ganzes Leben lang nach Schuldigen gesucht hat – überall, nur nicht bei sich selbst. “Der Sturm in meinem Kopf” erzählt von einem Kampf für Gerechtigkeit, der in einem unfassbaren Wahn endet.

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