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Deutschsprachige Literatur

Ostende: 1936, Sommer der Freundschaft – Volker Weidermann

Ostende ist sowohl Hafenstadt als auch Seebad und liegt an der belgischen Nordseeküste. 1936 wird der kleine belgische Badeort zu einem Sehnsuchtsort deutschsprachiger Schriftsteller. Nicht nur Stefan Zweig und Joseph Roth, die eine ungewöhnliche Freundschaft miteinander verbindet, sondern auch Ernst Toller, Egon Erwin Kisch, Arthur Koestler und Irmgard Keun verbringen ihre Ferien an dieser Küste. Allen gemeinsam ist, dass der Nationalsozialismus ihnen die Heimat geraubt hat und so ist Ostende für sie nicht nur ein Ferienort, sondern vor allem eine Art letzte Idylle – vor dem Grauen der Welt.

“Es ist Sommer hier oben am Meer, die bunten Badehäuser leuchten in der Sonne. Stefan Zweig sitzt im dritten Stock eines weißen Hauses am breiten Boulevard von Ostende in einer Loggia. Er schaut aufs Meer. Davon hat er immer geträumt, von diesem großen Blick in den Sommer, in die Leere, schreibend und schauend.”

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Im Hotel de la Couronne treffen sie sich, die geflüchteten Exilschriftsteller – an der Zuckerbäckerpromenade. Der Nationalsozialismus hat ihnen nicht nur die Heimat geraubt, sondern auch ihre Arbeitsgrundlage – ihre Bücher werden in Deutschland nicht mehr veröffentlicht, doch sie schreiben weiter, immer mit der Hoffnung, vielleicht im Ausland gelesen zu werden: Tag für Tag sitzen Stefan Zweig, Joseph Roth, Irmgard Keun und Egon Erwin Kisch zusammen, um zu diskutieren. Stefan Zweig ist nach Ostende gereist, um zu schreiben, sein Freund Joseph Roth ist ihm gefolgt. Roth schreibt kaum noch, dafür trinkt er um so mehr. In diesem Sommer verliebt er sich in Irmgard Keun, die beiden werden zum seltsamsten Paar des Literaturbetriebs – vereint durch die Gemeinsamkeit, dass sie beide für ihr Leben gerne trinken.

“Aber es sind die Jahre der Entscheidungen und der Entschiedenheit. Stefan Zweig schreibt noch aus einer Welt und über eine Welt, die es nicht mehr gibt. Sein Ideal ist nutzlos, unrealistisch, lächerlich und gefährlich. Seine Analogien taugen nicht mehr für eine Gegenwart, in der der Gegner übermächtig ist. Was hilft Toleranz in einer Welt, in der man selbst und alles, wofür man lebt und schreibt, zermalmt zu werden droht.”

Sommer der Freundschaft, der Untertitel des Buches, bezieht sich auf die seltsame Freundschaft zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig. 1936 ist Zweig ein Weltstar, er ist berühmt, doch gleichsam scheu und zurückhaltend. Joseph Roth ist ein Trinker, der ständig auf finanzielle Hilfe angewiesen ist. Er ist cholerisch, voller Hass manchmal. Die Sucht, die ihn in den Fängen hat, hat nicht nur körperlichen Schaden angerichtet, sondern auch psychischen. Zweig versucht dem Freund, den er immer wieder als Bruder bezeichnet, zu helfen – beim Schreiben und beim Bekämpfen der Sucht.

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“Wieder einmal sitzen alle im Flore, diese Gesellschaft der Stürzenden, die in diesem Sommer noch einmal versucht, sich als eine Art Urlaubsgesellschaft zu fühlen. Noch einmal versucht, eine Sorglosigkeit zu simulieren.”

Volker Weidermanns Novelle ist gerade einmal knappe 150 Seiten schmal und doch von so vielen Figuren bevölkert. Es geht nicht nur um die Einzelschicksale der Exilschriftsteller, sondern es geht auch um eine ganze Welt, die damals zu Ende ging – obwohl man so verzweifelt darauf hoffte, dass es nicht so schlimm werden würde. Trotz des verzweifelten Festklammerns an der alten Welt, in die sich Zweig, Roth, Keun und Kisch in ihren Texten immer wieder zurückversetzen.

“Sie schaut mit einem schönen Sonnenblick auf die Welt, auch auf die neue. Aber auf Dauer kann so keiner blicken. Nicht wenn die Wirklichkeit immer dunkler, brauner und gefährlicher wird.”

“Ostende” ist eine hochkonzentrierte und unheimlich dichte Novelle. Volker Weidermann erzählt vom Sommer 1936, er erzählt vor allen Dingen von Stefan Zweig und Joseph Roth, doch eigentlich erzählt er von so viel mehr. “Ostende” ist ein Erinnerungsbuch, dass das Schicksal der Exilschriftsteller, die ihre Heimat verlassen mussten, um weiterhin schreiben zu können, in den Mittelpunkt rückt. Sie verlieren nicht nur den Ort, den sie ihr Zuhause genannt haben, sondern häufig auch jegliche Existenzgrundlage – ihre Bücher verkaufen sich plötzlich nicht mehr. Die Flucht ins Exil bedeutet häufig gleichzeitig das Stehen vor dem Nichts. Im letzten Kapitel des Romans, das die Überschrift “Mystery Train” trägt, verfolgt Weidermann die Lebenswege der erwähnten Autoren und Autorinnen bis an ihr Lebensende. Der Autor erweist sich nicht nur als großartiger und eindringlicher Erzähler, sondern auch als beeindruckender Forscher und Rechercheur.

“Denn seine Welt ist eine Bücherwelt, seine Liebe, sein Wissen, sein Denken, er hat es alles aus Büchern gelernt. Er hatte vorher nie darüber nachgedacht, doch in diesem Moment wird es ihm klar.”

Volker Weidermann legt mit “Ostende” eine Novelle vor, die kurz und knapp erzählt wird und dennoch atmosphärisch unheimlich dicht und stimmungsvoll ist. Es ist die Atmosphäre gewesen, die mich beim Lesen gepackt und nicht mehr losgelassen hat. “Ostende” erzählt davon, wie es gewesen sein könnte – damals, im Sommer 1936.

Nach der Lektüre von “Ostende” ist übrigens der Griff zum Regal sehr zu empfehlen, vielleicht findet sich ja dort etwas von dem ein oder anderen Schriftsteller, der erwähnt wird.

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Vor dem Fest – Saša Stanišić

“Vor dem Fest” ist ein zweifach prämierter Roman. Bevor er überhaupt fertiggestellt wurde, wurde er mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet. Im Frühjahr dieses Jahres erhielt er dann schließlich den prestigeträchtigen Preis der Leipziger Buchmesse. Preise sagen selten etwas über die Qualität des Inhalts aus, in diesem Fall aber schon, denn der Inhalt ist mehr als preiswürdig. Saša Stanišić erzählt humorvoll, poetisch und voller Warmherzigkeit die Geschichte eines Dorfes.

“Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben.”

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Während Saša Stanišić in “Wie der Soldat das Grammofon repariert” noch eine Geschichte des Krieges erzählt hat, verschlägt es ihn in seinem zweiten Roman in die tiefste Provinz Deutschlands. Nach Fürstenfelde, in die Uckermark. Mitten in der brandenburgischen Einöde. “Es gehen mehr tot, als geboren werden.” Die Jungen verlassen das Dorf, auf der Suche nach einer Zukunft, die besser ist, als das, was ihre Heimat ihnen bieten kann. Die Alten werden immer älter und sterben einsam vor sich hin. Auch der Fährmann ist tot und niemand in Sicht, um diese Lücke zu füllen.

“Niemand sagt, ich bin der neue Fährmann. Die wenigen, die verstehen, dass wir unbedingt einen neuen Fährmann brauchen, verstehen nichts von Fähren. Oder davon, wie man Gewässer tröstet. Oder sie sind zu alt. Andere tun so, als hätten wir niemals einen Fährmann gehabt. Die dritten sagen: Der Fährmann ist tot, es lebe der Bootsverleih.”

Der Titel des Romans ist programmatisch, denn Saša Stanišić erzählt in seinem Roman von einer einzigen Nacht. Von der Nacht vor dem Fest, dem traditionellen Annenfest. Das ganze Dorf steckt mitten in den Vorbereitungen. Da gibt es Lada, den man Lada nennt, weil er mit dreizehn Jahren mit dem Lada seines Großvaters nach Dänemark gefahren ist. Da gibt es Frau Kranz, die schon neunzig Jahre alt ist und die ihr ganzes Leben lang gemalt hat. Gekannt hat sie dabei nur ein einziges Motiv: Fürstenfelde, in allen denkbaren Variationen. Für die Auktion des diesjährigen Festes möchte sie endlich eine Nachtaufnahme von Fürstenfelde malen, denn Fürstenfelde bei Nacht, das hat sie noch nie gemalt.

“Sie möchte einmal nicht die Wirklichkeit gemalt haben, sondern etwas, das später wirklich geworden ist. Aber wie geht das? Sie möchte malen, was niemand weiß. Sie möchte das Böse malen in uns, aber wie geht das? Sie möchte das Durchhalten malen, aber wie geht das? Das Hindern, aber wie?”

Da gibt es Ulli, der die Männer in Fürstenfelde in seiner Garage mit Alkohol bewirtet und an seinem Kühlschrank einen Kalender mit nackten Polinnen hängen hat – “halb wegen Ironie, halb wegen Ästhetik”. Da gibt es die dicke Frau Schwermuth, die von ihrem Sohn nur Mu genannt wird und sich so tief in die Heimatgeschichte ihres Dorfes eingegraben hat, dass sie den Weg zurück ins Jetzt kaum findet. Da gibt es Herrn Schramm, ehemaliger NVA-Soldat und Witwer, der so wenig Rente bekommt, dass er sich schwarz etwas dazu verdienen muss und Johann, der eine Ausbildung zum Glöckner macht.

“Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.”

Vom ersten Satz an hatte ich als Leser das Gefühl, ein Teil dieses Dorfes, mit seinen schrulligen Bewohnern, zu sein. Die Warmherzigkeit, mit der sich Saša Stanišić seinen Figuren annimmt, ist beeindruckend. Er bevölkert seinen Roman nicht nur mit Figuren, sondern erweckt diese wirklich zum Leben. Die Schrulligkeiten der Dorfbewohner werden mit sehr viel Zuneigung, Einfühlungsvermögen und Feingefühl beschrieben. Doch neben den Figuren ist es vor allen Dingen die Sprache, die diesen Roman zu einer ganz besonderen Lektüre macht: dem Autor gelingt es auf eine höchst charmante Art und Weise, mit der deutschen Sprache zu spielen. Da wird nicht nur gerappt und gereimt, sondern es werden auch Sagen und Geschichten der Fürstenfelder Dorfchronik des 16. Jahrhunderts erzählt – so, wie sie damals erzählt und aufgeschrieben wurden. Stanišić nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise, die dennoch mit dem Hier und Jetzt in Fürstenfelde verknüpft bleibt. Es gibt auch typographische Spielereien, genauso wie Worterfindungen (im Gedächtnis geblieben ist mir das Wort durcherinnern). Darüber hinaus zeichnet sich der Roman durch ganz viel Humor aus. Obwohl es mit einem Todesfall beginnt, ist die Erzählung auch immer hochkomisch und es gibt zahlreiche wunderbare Pointen. Dabei neigt der Autor dazu, zu verzerren und zu überzeichnen, doch in der Verzerrung steckt auf den zweiten Blick auch viel Wahrheit.

“Und jetzt fängt auch noch die Zieschke sie vor der Bäckerei beschwingt ab, Herrgott noch mal, ist doch viel zu früh für Heiterkeit, aber die Zieschke ist so eine mit Strähnchen, solche schlagen emotional in alle Richtungen extrem aus.”

“Vor dem Fest” ist ein wunderbarer Roman! Er ist prall gefüllt mit so vielem, mit Poesie, mit Humor, mit Sprachspielen und mit einem herrlich skurrilen Dorf und seinen Bewohnern. Obwohl Saša Stanišić nur von einer einzigen Nacht erzählt, geht es doch um so viel mehr: “Vor dem Fest” ist nicht nur eine Chronik eines entvölkerten Dorfes, sondern auch ein großartiger Roman der Geschichten wie Schichten aufeinander stapelt und von Heimat und Erinnerungen erzählt, von der Vergangenheit, zerbrochenen Träumen und der drückenden Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Große Liebe – Navid Kermani

Zuletzt machte Navid Kermani weniger als Literat Schlagzeilen, als durch seine beeindruckende und wichtige Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetz. Auch seine letzte Buchveröffentlichung hatte primär eine politische Dimension, denn in “Ausnahmezustand” bereiste er Länder, die sich alle in irgendeiner Form im Ausnahmezustand befinden. Seit diesem Frühjahr gibt es im Hanser Literaturverlag endlich ein neues Buch: auch in “Große Liebe” beschäftigt sich Navid Kermani mit einem schwerwiegenden Ausnahmezustand, dem Gefühlschaos der ersten großen Liebe.

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Es ist Anfang der achtziger Jahre in einer westdeutschen Kleinstadt. Ein fünfzehn Jahre alter Schüler, der drei Baumwollpullover übereinander trägt, verliebt sich in ein vier Jahre älteres Mädchen, das dasselbe Gymnasium besucht, wie er. Die erste Annäherung ist vorsichtig. Während der Junge bereits das Fieber des Verliebtseins spürt, nimmt das Mädchen ihn zunächst noch gar nicht wahr. Das hindert ihn nicht daran, die Pausen in der verbotenen Raucherecke zu verbringen – in größt möglicher Nähe zu ihr. Doch irgendwann ist es so weit, im Tagungsraum der evangelischen Studentengemeinde schaut das Mädchen ihn zum ersten Mal genauer an. Der Fortlauf der Liebe ist rasant: schnell werden schüchterne Küsse ausgetaucht, dann noch mehr, doch da ist es eigentlich schon wieder fast vorbei. Die Liebe kam und ging schneller als der Junge es je hätte ahnen können. Schon ist es wieder vorbei, auf knapp 100 Seiten ein Wechselbad der Liebesgefühle: von den höchsten Höhen der gemeinsamen Vereinigung hinabgestürzt in den bittersten Trennungsschmerz.

“Der Leser wird einwenden, ein unbedarfter Junge sei nicht mit einem heiligen Narren zu vergleichen, der Ichverlust, den er als Pubertierender womöglich anstrebe – einmal beiseite gelassen, daß man die Pubertät gewöhnlich gerade im Gegenteil als eine Ichsuche beschreibt -, der Ichverlust grundsätzlich anderen Gehalts als auf dem mystischen Weg, gänzlich banal. In der Hoffnung habe ich gestern zu schreiben begonnen, daß ich den Leser widerlege.”

“Große Liebe” ist möglicherweise weniger Roman, als Erinnerungsbuch, denn die Erinnerungen an diese erste große Liebe sind stark autobiographisch gefärbt. Navid Kermani erzählt nicht die Geschichte irgendeines Jungen, sondern die eigene Geschichte. In hundert kurzen Kapiteln lässt er seine erste große Liebe Revue passieren – mit dem Abstand von dreißig Jahren, als geschiedener Ehemann und Vater eines Sohnes, der selbst gerade fünfzehn geworden ist. Mit dreißig Jahren Abstand, gelingt es an der ein oder anderen Stelle, den “logischen Schluß” zu ziehen, etwas, das dem fünfzehnjährigen Navid Kermani, erkrankt am Liebesvirus, nicht immer gelingen wollte.

“Ist das Gefühl des Fünfzehnjährigen, so herrlich und furchtbar es auf den folgenden Seiten explodieren wird, ist es überhaupt Liebe zu nennen, gar die größte Liebe seines Lebens, wie ich bis vorgestern überzeugt war?”

Das Besondere an “Große Liebe” ist, dass sich Navid Kermani nicht nur zurückerinnert, sondern die Liebesgefühle des Jungen, der er einmal gewesen ist, auch zu verstehen versucht. Der Autor bringt jeden Tag ein Kapitel zu Papier, 100 Kapitel umfasst die große Liebe des Jungen: vom ersten Kuss, über den ersten Geschlechtsakt, bis zur überraschenden Trennung. Was im Roman 100 Kapitel sind, sind in Wirklichkeit nicht einmal wenige Wochen. Doch es sind Tage, die dem Jungen wie eine endlose Ewigkeit erscheinen.

“[…] ich habe einen Plan erstellt, der für jede Station der Liebe zehn Seiten vorsieht, zehn für die Begegnung, zehn fürs Kennenlernen, zehn für die erste Berührung, damit selbst eine so große Liebe in hundert Tagen erzählt wird; bis zur vierzigsten Seite würde ich von der Vereinigung erzählen und bis zur fünfzigsten von dem Zustand, den die Mystiker das ‘Bleiben im Entwedern’ nennen, so daß für die Verzweiflung wenigstens noch die Hälfte der Geschichte bleibt […].”

Eine zusätzliche Ebene erhält der Text durch zahlreiche Zitate und Verweise auf das wahnsinnige Gefühl der Liebe, bei denen sich Navid Kermani der persischen Dichtung bedient, aber auch der Philosophie. Erwähnung findet die Geschichte des persischen Dichters Nizami, der im 12. Jahrhundert die sagenhafte Geschichte von Leila und Madschnun erzählte. Madschnun verliebt sich rettungslos in Leila und besingt im verzweifelten Versuch sie für sich zu gewinnen, seine Liebe zu ihr. Während Ibn Arabi im 13. Jahrhundert von der außerordentlichen Feinheit spricht, die man in der Liebe finden kann. All diese Zitate rücken das pubertäre Verliebtsein eines Jungen, das gerade einmal knapp eine Woche Bestand haben sollte, auf eine allumfassendere Ebene. All die Dichter und Philosophen, die Navid Kermani zitiert, bringen das auf den Punkt, was möglicherweise jeder Liebende empfindet, insbesondere bei der ersten großen Liebe: man gibt als Liebender seinen Verstand her, sein Herz, macht sich lächerlicher um die Liebste zu gewinnen. Das allererste Verliebtsein ähnelt einem grippalen Infekt, einem Fieber, das man sich einfängt.

“Erst später las er in den Büchern, daß die Liebe nicht nur ‘die Vernunft mit sich reißt und geistige Besessenheit’ hervorruft, wie ihn Ibn Arabi warnt, sondern eben auch ‘Auszehrung’ bedeutet, ‘das hartnäckige Kreisen der Gedanken, die Unruhe, die Schlaflosigkeit, das brennende Verlangen, das Feuer der Leidenschaft und die durchwachten Nächte.'” 

Navid Kermani gelingt mit “Große Liebe” ein Erinnerungsbuch der eigenen ersten großen Liebe, das gleichzeitig zu einem Erinnerungsbuch des Lesers wird. Die Gedanken an die eigene erste große Liebe, an das tiefe Versenken und das böse Erwachen, an den Liebeswahnsinn, der einen Sinn und Verstand verlieren lässt, sind unvermeidbar. So stiftet der Roman auch an zu einer Zeitreise durch das eigene Leben, zurück in das Gefühlschaos der ersten großen Liebe. Vielleicht ist dieses Anstiften der größte Verdienst des Romans, viel mehr noch, als die eigentliche Geschichte, die Navid Kermani erzählt. Navid Kermanis Liebesgeschichte hat übrigens auch noch eine politische Komponente, denn bereits damals – mit gerade einmal fünfzehn Jahren – kämpfte er für die Friedensbewegung und nahm an einer Blockade des Verteidigungsministeriums teil.

“Große Liebe” ist ein schmales Bändchen, doch die 100 Kapitel sind außerordentlich lesenswert. Mit großer Ernsthaftigkeit erzählt Navid Kermani seine eigene Geschichte, er erzählt vom Virus der Liebe, der ihn urplötzlich packte und mit Haut und Haaren verschlang. Er erzählt von einer Tiefe und Gefühlsintensität, die im Leben eines Erwachsenen kaum noch Raum hat. Lest “Große Liebe” und erinnert euch zurück an eure eigene große Liebe.

Das letzte Polaroid – Nina Sahm

Das Leben eines anderen Menschen leben – stellen wir uns das nicht alle manchmal vor? In ein fremdes Leben eintauchen, um das eigene nicht mehr leben zu müssen – wünscht sich das nicht jeder einmal? Nina Sahm lässt dieses Szenario Wirklichkeit werden und erzählt dabei von Freundschaft und davon, wie wichtig es ist, herauszufinden, wer man wirklich ist.

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“Zehn Jahre waren vergangen, seit ich auf den schmalen Wegen rund um unser Ferienhaus die Schritte zum See gezählt hatte.”

Während eines Familienurlaubs am Balaton lernt Anna, die behütet in München aufwächst, die wilde und lebenslustige Kinga kennen. Beide Mädchen sind fast gleich alt, doch es trennen sie Welten. Während Anna das Leben eines Kindes lebt, umsorgt von Eltern, die alles versuchen zu planen und Schlechtes zu verhindern wissen, lebt Kinga ein wildes Leben. Sie hat bereits Brüste und den ersten Sex, beim Kirschkernweitspucken gewinnt sie mit Abstand. Wenige gemeinsame Tage am Balaton genügen, um aus diesen ungleichen Mädchen ein eingeschworenes Team zu machen. Es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft.

“Ich stand auf dem Bahngleis, ein Polaroid von Kinga und ihren Eltern in den Händen, das ich bis zur Abreise zwischen dem fünften und sechsten Band meiner Enzyklopädie versteckt hatte.”

Jahre später erhält Anna die Nachricht, dass Kinga im Koma liegt. Ohne zu zögern, lässt die junge Frau ihr Leben zurück, um an das Krankenbett ihrer Freundin zu reisen. Ihr Leben lebt sie in München, dort macht sie eine Ausbildung zur Bäckerin – es ist ein beschauliches Leben, ohne Partner, Kind und Haustier. Ein Leben, das sie schon lange ohne Mutter führt, die die Familie kurz nach dem Urlaub in Ungarn verließ. Es ist ein Leben, das ihr so eng und erstickend erscheint, dass sie es ohne zu überlegen aufgibt. Doch als Anna in Ungarn ankommt und ein Zimmer im Elternhaus von Kinga bezieht, führt ihr Weg sie zunächst kaum an deren Krankenbett. Stattdessen streift sie das alte Leben Kingas über, wie einen warmen und bequemen Wollpullover. Sie taucht ein in die ihr unbekannte Stadt, nimmt Arbeit in einem Café an und knüpft ein zartes Band zu Kingas Freund, mit dem sie viel Zeit verbringt.

“Es war wie bei den Ritzen zwischen den Steinen, ich musste mich so vorsichtig wie möglich bewegen, um mögliches Unglück, so gut es ging, fernzuhalten.”

Kinga hat ein Leben gelebt, das ganz anders ist, als das von Anna, die als Tochter eines Arztes und einer Architektin in München aufwuchs: wild, lebenslustig, abenteuerlich, fröhlich. All das, macht Anna plötzlich zu ihrem eigenen Leben. Jahrelang hat sie die Polaroids angeschaut, die das Leben Kingas zeigten. Jahrelang las sie die Briefe ihrer Freundin, die so viel zu erzählen hatte, das Anna Freunde erfinden musste, um mit Kinga mithalten zu können. Plötzlich betritt sie ein anderes Leben, als würde sie Teil eines Polaroids werden – sie schummelt sich auf das Foto, drängt sich hinein, macht sich zu einem Teil eines Lebens, das nicht ihr gehört.

“Die Kinga, die ich suchte, steckte sich Pommes in die Ohren und war mir immer einen Schritt voraus. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit einer Kinga, die unter einem weißen Laken lag und mir nicht mehr weiterhelfen konnte, umgehen konnte.”

Nina Sahm erzählt eine Geschichte, die zunächst zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herspringt. Dabei wird nicht nur von einer ganz besonderen Freundschaft erzählt, sondern es entfaltet sich auch ein Panorama zweier Leben, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Der Leser erfährt davon, wie diese seltsame Freundschaft entstand und warum sich beide Mädchen auch zehn Jahre später noch Briefe schrieben. Nina Sahm verzichtet auf Pathos und Tragik, auf große Effekte. “Das letzte Polaroid” ist ein leiser, ein stiller Roman. Anna schleicht in das Leben ihrer Freundin hinein, macht sich das Wissen aus Kingas Briefen zunutze, um deren Freund an sich zu binden und doch ist es schwer, der jungen Frau böse zu sein. Anna hat kein Leben, in dem sie geliebt und geschätzt wird. Ihre Eltern waren vor allen Dingen mit sich selbst beschäftigt. Kingas Eltern schätzen sie, doch Anna kann nicht glauben, dass sie für das geschätzt wird, was sie ist – sie glaubt, etwas darstellen zu müssen, um geliebt zu werden.

“Evà lachte und warf einen Blick auf den Kuchen im Ofen, der langsam aufging und sich nach oben wölbte. In Wirklichkeit hatte meine Entscheidung nichts mit ihr zu tun. Aber ich mochte sie, und es schadete niemandem, wenn ich die Sachen ein wenig verdrehte, im Gegenteil. Vielleicht bedeutete Zuneigung gerade, dass man sich dem anderen zuliebe auch mal verstellen konnte.”

Nina Sahm hat einen Roman geschrieben, der wie ein Polaroid ist. Ein Polaroid fängt einen Moment ein, doch es dauert, bis sich das Bild entwickelt, bis man alles darauf erkennen kann. Man knipst, wedelt, wartet – auch “Das letzte Polaroid” setzt sich Stück für Stück zusammen, bis sich schließlich das ganze Bild entfaltet. Was dann darauf zu sehen ist, handelt von Freundschaft, dem Platz im Leben, den man finden muss und davon, herauszubekommen, wer man eigentlich wirklich ist und sein möchte.

Flut und Boden: Roman einer Familie – Per Leo

Der Untertitel von “Flut und Boden”, dem Buch, mit dem Per Leo vor einigen Monaten zu den Nominierten des Leipziger Buchpreis gehörte, ist ein wenig irreführend. Per Leo, der 1972 in Erlangen geboren wurde, legt nämlich im engeren Sinne keinen Roman vor, sondern viel mehr ein Stück Autobiographie. “Flut und Boden” ist ein Stück seiner eigenen Geschichte, ein Stück Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Wirren des 20. Jahrhunderts.

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“Noch immer steht sein Bild am schwarzen Himmel. Doch allmählich wird es schwächer. Noch immer sind in meinem Kopf nur Wörter. Aber sie tönen nicht mehr so schrill. Sie stehen herum wie Bruchstücke eines Textes, die nur ein langer Kommentar wieder verbinden könnte. Familienwappen, Humanismus, Schiffbau, Villa, Heide, Scholle, Bücher, Blitzkrieg, Sturmbannführer. Da komme ich also her.”

Per Leo erzählt in seinem Roman zwei Geschichten, die seiner Familie und die eigene. Die eigene ist klassisch und schnell erzählt: als Student verliert Per Leo kurzzeitig die Orientierung im Leben, stellt sich die Sinnfrage, die sich wahrscheinlich viele junge Menschen stellen. In Freiburg, der Stadt, in der er studiert, sucht er die psychosoziale Beratungsstelle auf – geholfen wird ihm dort nicht, die Mitarbeiterin nimmt ihn nicht einmal wirklich ernst. Erst als er seinen verstorbenen Großvater erwähnt, dessen Vergangenheit er erforscht, wird die Frau hellhörig. Per Leo ist plötzlich nicht mehr nur ein verwöhnter Student, sondern auch ein Nazi-Enkel. Der Vergangenheit seines Großvaters ist er durch Zufall auf die Spur gekommen. Die Nazivergangenheit von Friedrich Leo war in der Familie ein offenes Geheimnis, ein Geheimnis, über das lieber geschwiegen wurde. Zeugnisse dieser Vergangenheit findet Per Leo nicht in einer verstaubten Kiste auf dem Dachboden, sondern im großelterlichen Bücherregal, an einer Stelle auch als Giftschrank bezeichnet.

“Natürlich wusste ich, dass Großvater ein Nazi gewesen war. Und ich wusste es nicht. Warum hatte mich das nie interessiert? Ich studierte Geschichte, ich hielt mich für links. Warum hatte ich meinem Vater, mit dem ich über fast alles stritt, nicht die Daumenschrauben angelegt? Warum hatte ich ihm nicht zugesetzt damit, dass er mit seinem Vater nie ins Gericht gegangen war? Warum hatte ich nie den Vorhang angehoben, der die beiden untersten Fächer des Bücherregals verdeckte?”

Per Leo, der den literarischen Kniff anwendet, nicht nur Autor zu sein, sondern auch der zurückhaltende Erzähler dieses Textes, beschließt, die Vergangenheit zu erforschen. Er erforscht nicht nur die Vergangenheit von Friedrich Leo, der als überzeugter Nationalsozialist Teil der SS gewesen ist, sondern spiegelt dessen Leben mit den Lebensläufen seiner drei Brüder. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf Martin, den ältesten Bruder – er ist neben Friedrich die zweite Hauptfigur dieses Buches. Martin wird Naturwissenschaftler, lebt ein Leben, in dem er für vieles offen und an vielem interessiert ist, nur politisch wird er – im Gegensatz zum Bruder Friedrich – nie aktiv.

“Ich musste erst sein Leben neben das meines Großvaters legen, um festzustellen, dass die beiden für mich zusammengehören wie zwei Hälften eines zerrissenen Bildes.

Exemplarisch an diesen beiden Männern macht Per Leo deutlich, wie unterschiedlich Leben verlaufen konnten in der damaligen Zeit. Die beiden Brüder hätten sich kaum konträrer entwickeln können. Der Autor zeichnet jedoch nicht nur die Lebensläufe nach, sondern setzt diese in ein Verhältnis zu politischen, aber auch zu geistigen, kulturellen oder religiösen Strömungen. Erwähnung finden Rudolf Steiner und Ludwig Klages, neben vielen anderen. Dabei entsteht jedoch keinesfalls ein überladenes Panorama, sondern ganz im Gegenteil: hochspannend und mit viel Gespür für das Detail und einen feinen Witz, geht Per Leo den Lebensströmungen des 20. Jahrhunderts nach.

Per LeoSchauplatz des Romans ist das beschauliche Bremen, dort hat Friedrich Leo in Vegesack ein Haus bewohnt – Orte wie die Weser, die ehemalige Vulkan Werft und das Weserstadion spielen eine wichtige Rolle und finden immer wieder Erwähnung. Es dürfte nicht überraschen, dass die Lektüre des Romans für mich einem Nachhausekommen gleich kam, ich habe viele bekannte Orte wiederentdeckt. Es gelingt ihm, Bremen so einzufangen, dass man beim Lesen glaubt, mit dem Buch in der Hand durch die Straßen wandern zu können. Eine wichtige Rolle in “Flut und Boden” spielt auch die Musik, es sind Nirvana und Tocotronic, die Per Leo auf seiner Reise in die Vergangenheit begleiten.

“Friedrich Leo, so sagt er, sei ein menschenverachtender Despot gewesen, ein Individuum mit vollständig deformierter Psyche, dem die nationalsozialistische Ideologie eine Legitimation geliefert habe, um die eigene Deformation zur Norm zu erklären.”

“Flut und Boden” ist weniger ein Roman einer Familie, als ein autobiographischer Essay. Romanhaft an diesem Buch ist lediglich der Erzählton, denn Per Leo holt weit aus und spannt ein Zeitpanorama, das sich über drei Generationen erstreckt – wie in den besten Familienromanen. Doch er kann genau das, erzählen! Er erzählt mit einer enormen Ernsthaftigkeit, die er jedoch stellenweise selbst mit Ironie und Humor unterläuft. Beispielsweise an der Stelle, an der er einem Kapitel die Überschrift “The making of a Nazienkel” verpasst.

Per Leo legt mit “Flut und Boden” ein konzentriertes Stück Familiengeschichte vor. Der Autor erzählt auf hohem literarischem Niveau und zeichnet dabei ein beeindruckendes Panorama des 20. Jahrhunderts. “Flut und Boden” ist keine einfache Sommerlektüre, doch wer die Mühe auf sich nimmt, die Welt der Leos zu betreten, der wird mit einer spannenden und unheimlich interessanten Lektüre belohnt.

Unternehmer – Matthias Nawrat

Matthias Nawrat, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde, erzählt in “Unternehmer” eine Geschichte mit doppeltem Boden, eine Geschichte, die man – trotz besseren Wissens – einfach glauben möchte. Er erzählt von Arbeit, familiärem Zusammenhalt und dem modernen Unternehmertum und all dies findet statt in einer abenteuerlichen und unglaublich anmutenden post-apokalyptischen Welt.

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“Vielleicht ist das überhaupt das Wesen der Arbeit: dass sich stets – so schön die Arbeit auch sein mag – eine zweite Person in einem regt, die nicht arbeiten will. Und fehlt dieses Nichtwollen in einem drin bei einer Tätigkeit, dann handelt es sich nicht um Arbeit.”

Im Zentrum des Romans steht die dreizehnjährige Lipa, die ein ganz anderes Leben führt, als so viele andere Mädchen. Sie ist Assistentin in einem Unternehmen, in einem Familienunternehmen. Gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Bruder Berti, dem nur noch ein Arm bleibt, den anderen hat er bei einem Arbeitseinsatz verloren, durchforstet sie alte Industrieruinen im Schwarzwald, immer auf der Suche nach Tantal und Wolfram, die die Familie reich machen sollen. Sie arbeiten, um sich einen Traum zu erfüllen: im nächsten Jahr möchte die Familie nach Neuseeland auswandern. Gemeinsam schlachten sie verlassene Fabriken aus, eine gefährliche Arbeit. Das Risiko ist hoch (Ein Unternehmen fordert seine Opfer) und der Ertrag ist gering, es bleibt unklar, ob die Familie wirklich daran glaubt, von dem Klimpergeld, das sie verdienen, irgendwann nach Neuseeland auswandern zu können.

“Was soll das sein, freie Zeit?, fragt Vater. Zeit, in der ich unternehmensfreie Dinge machen kann, sage ich. Was willst du machen?, fragt Vater. Topsecret, sage ich, und Vater sagt: Heute ist Spezialtag, du bist Assistentin.”

Was das genau für eine Apokalypse gewesen ist, die mitten im Schwarzwald ihr Unwesen getrieben hat, bleibt unklar. Die Welt scheint zweigeteilt worden zu sein: Lipa führt das Leben einer Erwachsenen, Ferien kennt sie nicht, der Blick ist auf den Profit und auf das Unternehmen gerichtet und dafür werden Opfer in Kauf genommen. Doch es gibt auch noch eine andere Welt, es gibt Computer und Tankstellen, es gibt einen Supermarkt. Es gibt eine normale Welt, die Lipa kennenlernt, als sie zum ersten Mal die Schule besucht: in der normalen Welt springt man Trampolin und taucht im Schwimmbecken. Es ist eine Welt, die Lipa verschlossen bleibt, die so sehr in der Unternehmerideologie ihres Vaters gefangen ist, dass sie sich jede Freizeitaktivität untersagt. Lipa glaubt, dass nur Kinder, die arbeitslos sind, Zeit dafür haben können, eine Schule zu besuchen. Auch Müdigkeit hält sie für eine Erfindung der Arbeitslosen, Unternehmer haben gar keine Zeit dafür müde zu werden.

Beim Lesen des Romans überkommt einen fast das Gefühl, als hätte Matthias Nawrat einen eignen Wortschatz erfunden: Unternehmer-Chef, Unternehmer-Händeschütteln, Unternehmer-Stellung. Es ist eine Welt, in der es um Termine geht, um Auskundschaftungen, um Inventur und Kundenanfragen. Überhaupt neigt Lipa dazu, sich eine Welt der Wörter zu erfinden:  die Täler des Schwarzwaldes werden von Gebiets-Veränderten bewohnt und als ihr Vater eine ganze Weile im Bett bleibt und das Familienunternehmen vernachlässigt, hält sie fest, dass sich im Haus eine Vaterschwere breit macht.

“Das Unternehmertum, sagt er später im Mercedes am Wiedener Eck, ist eine Teamarbeit, eine Arbeit für drei. Das merkt euch, fällt nur einer von uns aus, ist es vorbei.”

Lipa wird von Matthias Nawrat wunderbar gezeichnet, sie ist erfrischend sympathisch, aber auch erschreckend naiv und gefangen in den familiären Vorstellungen von Ethik und Arbeitsmoral. Als sie zum ersten Mal eine Schule besucht und der Lehrer sie fragt, wie es ihr geht, antwortet Lipa mit den Worten: “Es ist ein schöner Morgen”. Das Familienunternehmen presst das junge Mädchen in eine Lebensform, in der sie nicht mehr differenzieren kann zwischen den Bedürfnissen des Unternehmens und den eigenen Bedürfnissen – wenn sie diese denn überhaupt kennt. Vielleicht ist dieses postapokalypitsche Zukunftsszenario eine Warnung an unsere Hochleistungsgesellschaft, die kleine Kinder zu Höchstleistungen drängt – ohne Rücksicht auf Verluste. Eine Hochleistungsgesellschaft, in der das einzelne Individuum zunehmend verschwindet. Lipa lebt ein seltsames Leben, doch ihr erscheint es logisch, so sehr ist sie gefangen in der väterlichen Ideologie. Als Leser läuft man immer wieder Gefahr, den Krakenhänden dieser Ideologie ebenfalls in die Fänge zu geraten. Erst die Liebe zum langen Nasen-Timo bietet Lipa einen Ausweg aus dem Arbeitsleben, das sie lebt – es ist ein Ausweg aus dem Unternehmen und aus der eigenen Familie. Beiden wollen in die Vogesen auswandern, die Vogesen scheinen dann doch auf jeden Fall erreichbarer zu sein, als Neuseeland.

Auf knapp 140 Seiten erzählt Matthias Nawrat virtuos eine vielschichtige Geschichte, die als Gesellschaftsroman gelesen werden kann, als Sozialstudie, als Zukunftsszenario, aber auch ein ganz kleines bisschen als Liebesgeschichte. Er trifft einen herrlich poetischen Ton, der manchmal heiter und naiv ist, aber auch immer wieder tieftraurig und schwer klingt. “Unternehmer” ist ein wahres Kleinod, das nachdenklich macht, das bewegt und das man lesen sollte.

 

Zwitschernde Fische – Andreas Séché

Andreas Séché wurde 1968 geboren, er studierte Politikwissenschaft, Jura und Medienwissenschaft und arbeitete als Journalist für unterschiedliche Tageszeitungen. Vor drei Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman “Namiko und das Flüstern”, seitdem lebt er als freier Redakteur und Autor im Rheinland.

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“Ausgerechnet im Buchladen fing er Feuer. Und so hatte er seine wundersamsten Erlebnisse an einem Ort, wo manche das Abenteuer gar nicht erst suchten, obwohl es doch voll davon war.”

Yannis ist ein Bücherliebhaber, als er in Athen einen alten Buchladen entdeckt, glaubt er, das Paradies auf Erden zu betreten. Mit dem ersten Schritt hinein in den verwunschenen und beinahe schon magischen Laden, ist der junge Mann verzaubert – nicht nur von den zahlreichen Büchern in den Regalen, sondern auch von Lio, der Buchhändlerin. Lio ist genauso magisch wie die Buchhandlung, in der sie arbeitet und sie verzaubert Yannis auf den ersten Blick. Die Begegnung der beiden im Buchladen strahlt hinüber in den Alltag von Yannis, der plötzlich einen magischen Schimmer erhält und voller Poesie zu seien scheint.

“[…] immer, wenn er ein Buch kaufen wollte, machte er daraus eine kleine Zeremonie. Ein gutes Buch, dachte der Mann, hat es einfach verdient, dass man den Tag, an dem man es in seiner Büchersammlung willkommen hieß, mit einem üppigen Frühstück beginnt. Bücher und Frühstück, das war nicht nur beides Nahrung, das war auch der leidenschaftliche Beweis dafür, dass man noch genießen konnte.”

Der erste Besuch in der Buchhandlung bei Lio, bleibt nicht der letzte von Yannis. Immer wieder schaut er bei ihr vorbei, beide kommen ins Gespräch und beginnen einen tiefen und intensiven Austausch über das Lesen, über Bücher, über Autoren und Autorinnen und über die Welt der Geschichten. Ganz selten nur noch betritt Yannis die Buchhandlung, um sich Bücher zu kaufen, viel mehr zieht es ihn immer wieder hinein in Lios magische Welt. Der eine beginnt Sätze, die der andere beendet. Gemeinsam durchwandern sie literarische Welten, literarische Geschichten, literarische Jahrhunderte. Doch dann ist Lio eines Tages plötzlich verschwunden und Yannis begibt sich auf die Suche nach seiner mysteriösen Freundin …

“Während er den Stadtpark verließ, dachte er, dass Bücher auch wie Zylinder voller Mysterien waren, und sein Traum war, eines Tages vielleicht selbst eine Geschichte zum Leben zu erwecken, Kapitel für Kapitel und Gedanke für Gedanke, und dann würde irgendwann eine richtige kleine Welt vor ihm liegen, von ihm gestaltet und mit liebevollen Details versehen, und er würde den Leser durch spannende Episoden führen und durch durch traurige Ereignisse, durch romantische Liebesgeschichten, verwegene Abenteuer und verschlungene Begebenheiten.”

Auf der Suche nach Lio überschreitet Yannis die Grenzen von Fantasie und Realität: wer ist der Fremde, der plötzlich mit einer Leier im Arm im Buchladen auftaucht? Was hat es mit dem berühmten Kriminalschriftsteller auf sich, der 1907 angeblich einen Mord begangen hat? Lio und ihr Buchladen wirken so, als hätten sie die Zeit irgendwie überdauert. Doch kann das wirklich sein? Sind Zeitreisen möglich? Können wir uns in andere Ebenen begeben, in andere Geschichten, auf neue Buchseiten?

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“‘Lassen Sie uns einmal allein sein, ohne Bücher, und wir werden sofort in Verwirrung geraten und ratlos sein und nicht wissen, wo wir uns anschließen und was wir festhalten sollen, was wir leben und hassen, verehrten und verachten sollen.’ Bücher können uns die Richtung weisen.”

Der Roman “Zwitschernde Fische” von Andreas Séché besteht für mein Empfinden aus zwei Ebenen, zum einen gibt es die Ebene der Erzählhandlung, die leicht mystisch angehaut ist und sich abseits von unserer Realität befindet. Diese poetische und fantasievolle Erzählung hat mich verzaubert, auch wenn nicht alle losen Fäden am Ende eine Verbindung miteinander finden. Gerade die Tatsache, dass vieles in der Schwebe bleibt und damit die Interpretation auch ein Stück weit in meine Hände gegeben wird, in die Hände des Lesers, hat mir gefallen. Darüber hinaus gibt es aber auch eine bibliophile Ebene des Romans, wenn man dies so nennen möchte. Selten zuvor habe ich so viele Passagen angestrichen, so viele Seiten markiert, mich in so vielen Sätzen wiedergefunden. Besonders die Gespräche von Lio und Yannis, die sich um alle möglichen literarischen Themen drehen, haben es mir angetan – selten zuvor hatte ich ein so intensives Gefühl, Teil eines Buches zu sein.

“Heute, wo es schwieriger geworden war, das Herz der Menschen beim Anblick von Büchern in Flammen der Begeisterung aufgehen zu lassen, war es womöglich umso wichtiger, sich daran zu erinnern, dass das Buch nicht einfach ein Gegenstand war, sondern eine Waffe im Kampf um mehr Gerechtigkeit – und dass es zu allen Zeiten die Passion mutiger Schriftsteller gewesen war, die Welt gerechter zu machen und unser aller Leben mit Geschichten zu füllen.”

Andreas Séché legt mit “Zwitschernde Fische” einen bezaubernden Roman vor, der nicht nur eine magische Geschichte erzählt und den Leser durch Zeiten und Welten reisen lässt, sondern der auch davon erzählt, dass Bücher eine Macht haben können und uns das Lesen immer mal wieder retten kann … einfach wunderbar, ein Roman, der wie für mich gemacht war!

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