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Deutschsprachige Literatur

Krieg – Jochen Rausch

Jochen Rausch ist Journalist, Autor und Musiker und leitet seit dem Jahr 2000 Radio 1Live als Programmchef. 2008 erschien sein Roman “Restlicht”, 2011 folgte der Erzählungsband “Trieb”. Im vergangenen Herbst veröffentlichte der Berlin Verlag schließlich “Krieg”, den neuesten Roman von Jochen Rausch, der heutzutage in Wuppertal lebt. Mehr zum Autor findet man auf dessen Homepage.

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“In den Nächten hört er Schüsse, wenn es denn Schüsse sind. Manchmal hört er auch Schreie.”

Arnold Steins lebt seit vielen Jahren tief zurückgezogen in der einsamen Wildnis. Nur selten verlässt er die raue Welt der Berge, um sich auf den Weg hinunter in das Dorf zu machen, doch ab und an muss auch Arnold das Nötigste besorgen und seine Einkäufe erledigen. Sein ehemaliges Leben als Lehrer hat er schon lange hinter sich gelassen, heutzutage zieht er die Einsamkeit und Abgeschiedenheit vor. In seinem früheren Leben als Lehrer, das mittlerweile schon längst verblasst scheint, war Arnold auch verheiratet – gemeinsam mit seiner Frau hat er einen Sohn großgezogen, einen Sohn, der mittlerweile erwachsen ist und als Soldat in den Krieg gezogen ist. Jeder Weg zurück in die wirkliche Welt ist schwer, jeder Einkauf mit der Angst verbunden, das neue Zuhause zerstört wiederzufinden.

“Diesmal sind es keine Schüsse oder Schreie, die Arnold sich einbildet. Diesmal ist er überzeugt, es ist etwas mit der Hütte. Seit er am Weinregal nach einem trockenen Weißen gesehen hat, denkt er es: Die Hütte könnte in Flammen stehen. Oder ein Steinschlag ist über sie niedergegangen. Man hört auch von Einbrechern.”

Und wirklich, so allein wie Arnold zu sein glaubt, ist er nicht – eines Tages bricht ein Fremder in seine Hütte ein, zerstört seine Einrichtung und hinterlässt in den folgenden Tagen immer wieder kleine Zeichen seiner bedrohlichen Anwesenheit, bis er so weit geht, Arnolds geliebten Gefährten, seinen namenlosen Hund, schwer zu verletzen. Für Arnold ist dieser Übergriff, dieser Angriff auf alles, was ihm im Leben geblieben ist, wie eine Kriegserklärung: er besorgt sich eine Waffe und begibt sich in einen Kampf mit einem unsichtbaren Gegner, ohne Gesichte und ohne Kontur. Arnold ist bereit für den Sieg in diesem Krieg mit seinem Leben zu bezahlen.

Erst als sich Arnold in diesem Lebenskampf befindet, versteht er zum ersten Mal die eigenen Lebenszusammenhänge. Der Kampf gegen den gesichtslosen Gegner wird zunehmend ein Kampf gegen die eigene Vergangenheit, gegen die Monster im Kopf, gegen die Geheimnisse, gegen alles Dunkle, das auf seinem Leben lastet.

“Dort, wo er den Hund gefunden hat, macht er ein Kreuz. Der Bolzen hat eine bleigraue Spitze wie ein Schreibstift. Der Stift verjüngt sich, erst beim Nagelkopf am anderen Ende wird er breiter. Blut klebt daran. Sie hätten es dem Hund nicht antun sollen. Das nicht. Und das Radio hätten sie ihm auch nicht zerschlagen dürfen.”

Bereits beim Lesen des Klappentextes habe ich mich an den beeindruckenden Roman “Winter in Maine” von Gerald Donovan erinnert gefühlt, der das Leben von Julius beschreibt, das zerbricht, als jemand auf seinen Hund schießt. Auch Julius lebt einsam in einer Hütte, mitten in den Wäldern von Maine. Beiden Romanen liegt beinahe dieselbe Erzählhandlung zugrunde, doch bei diesem Roman gibt es noch eine zusätzliche Ebene, eine Ebene, die bereits im Titel angedeutet wird: der Titel “Krieg” bezieht sich nicht nur auf den Kampf, in den sich Arnold Steins begibt, sondern auch auf seinen Sohn, der als Soldat in den Krieg zieht – er wird nach Afghanistan geschickt und sein Vater bleibt mit seinen Sorgen zurück. Jochen Rauschs Roman “Krieg” wird mithilfe von zwei unabhängigen Erzählsträngen erzählt, auf der die Handlung vorangetrieben wird. Es ist gerade dieser Erzählstil, der eine unwahrscheinliche Spannung erzeugt, einen unwahrscheinlichen Sog ausübt.

In knapper Sprache und wenig Worten gelingt es Jochen Rausch ein Bild der Spannung heraufzubeschwören. In die äußere Idylle, die sich Arnold Steins mitten in den Bergen geschaffen hat, lässt er urplötzlich und mit einer unvorstellbaren Gewalt das Böse hinein brechen. Nicht nur Jochen Rauschs Hauptfigur durchläuft eine Vielzahl an Gefühlen –  vor allen Dingen Wut und Hilflosigkeit – sondern auch ich als Leserin werde durch ein wahres Wechselbad der Gefühle geführt, ein unheimlich intensives und packendes Wechselbad.

“Angst? Nein. Merkwürdigerweise nicht. Vielleicht hat er nie wieder Angst im Leben. Vielleicht überwindet der Mensch alle Angst, wenn er erst seine Träume begraben hat.”

Jochen Rausch legt mit “Krieg” eine unheimlich spannende und fesselnde Lektüre vor, so dass ich ab und an schon beinahe das  Gefühl hatte, einen Thriller zu lesen und keinen Roman. “Krieg” ist ein unheimlich vielschichtiger Roman, dessen wichtigste Aussage möglicherweise die ist, dass man – egal was man tut – nicht vor seiner Vergangenheit fliehen kann …

Wir Erben – Angelika Reitzer

Angelika Reitzer wurde 1971 geboren. Nach einem Studium der Germanistik in Salzburg und Berlin, lebt sie heutzutage als freie Schriftstellerin in Wien. Sie hat bereits einen Erzählband und zwei Romane veröffentlicht und erhielt für diese zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Reinhard-Priessnitz-Preis und mehrere Stipendien. Mehr Informationen zu der Autorin gibt es auf ihrer eigenen Homepage.

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“Da spürt sie die Stille. Das ganze Haus ist ruhig, es ist leiser und größer als sonst. Es ist ein großes Haus, und natürlich ist es stiller, seit Lukas in Wien studiert.”

Marianne ist Anfang vierzig. Sie ist alleinerziehende Mutter, doch ihr Sohn Lukas ist mittlerweile erwachsen und hat das Mutterhaus zum Studium verlassen. Marianne lebt in Niederösterreich, ihr gehört ein großes Haus und der Betrieb einer Baumschule. Beides hat sie von ihrer Großmutter geerbt, die bis zu ihrem Tod mit Marianne zusammen gelebt hat. Nun bleibt sie alleine zurück, die Großmutter ist gestorben, der Sohn ausgezogen – sie ist zwar Teil einer weitverzweigten Familie, doch wirklich nahe fühlt sie sich niemanden. “Wie konnte sie sich hier, unter all den Menschen allein fühlen, es war unlogisch.” Sie bleibt zurück mit einem Haus und einem Betrieb, den sie geerbt, doch nie wirklich gewollt hat. Marianne ist mit siebzehn schwanger geworden, sie hat die Schule geschmissen und ein wildes Leben geführt – die Übernahme der Baumschule, war ihre einzige Möglichkeit, einen Weg zurück in die Normalität zu finden. Das, was damals eine Rettung war, ist nun beinahe ein Fluch – durch das Haus und den Betrieb ist Marianne ortsgebunden, sie ist festgelegt in einem Leben, in dem sie so fest verwurzelt ist, dass es ihr die Luft zum Atmen abschnürt.

“Den Lärm der Vögel hinter dem Haus, das Anschlagen der alten Kellertür, die aber immer geschlossen war, ein Geräusch, das Jutta nie gehört hatte. Wie konnte das gehen, all das nicht zu haben? Wie konnte man es austauschen gegen andere Aussichten, andere Geräusche, andere Gewohnheiten?”

200 Seiten lang begleiten wir Marianne durch ein Leben, das wie erstarrt wirkt.  Sie erlebt die Widrigkeiten des Alltags – den Tod der Großmutter, den Tod eines Freundes, die Erkrankung einer Bekannten – wie durch einen Schleier. Die Erzählweise ist so nüchtern und neutral, dass die Ereignisse beim Lesen beinahe emotionslos an mir vorbeigezogen sind. Es ist eine erschreckende Lethargie, die sich über Mariannes Leben gelegt hat. Hin und wieder wird erwähnt, dass sie zu viel trinkt – dieser Umstand ist sicherlich auf die erdrückende Einsamkeit, in der sie lebt, zurückzuführen. Sie hat ein Leben geerbt, das sie nun am Leben hindert – ihr französischer Liebhaber geht zurück in seine Heimat, über die Option, mit ihm zu gehen, darf Marianne gar nicht erst nachdenken, zu viele Verbindlichkeiten lassen sie wie festgewurzelt in ihrem Zuhause bleiben.

“Wenn sie sich an jeden Streit, an jede Auseinandersetzung in der Familie erinnern könnte, würde sie wohl schon lange niemanden mehr einladen. Wenn sich alle daran erinnern könnten, was sie je zueinander gesagt haben, dann wäre doch längst alles explodiert. Aber das war wahrscheinlich in allen Familien so.”

Es kommt einem Schock gleich, wenn Angelika Reitzer ihre Hauptfigur nach 200 Seiten einfach fallen lässt und sich im zweiten Teil ihres Romans auf Siri konzentriert, eine entfernte Bekannte von Marianne. Siri ist mit ihrer Offenheit und Unbedarftheit das Kontrastprogramm zu Mariannes Sesshaftigkeit. Die junge Frau, die mit ihren Eltern aus der DDR geflüchtet war, verschlägt es mal nach Japan, mal nach Amerika – ihren Studienwunsch ändert sie immer mal wieder, genauso wie die Vorstellungen ihrer Zukunft. Die Eltern hatten nach ihrer Flucht in den Westen, keine Zukunft dort für sich gesehen – die Rückkehr ist unvermeidlich. Diese Rastlosigkeit vererben sie an ihre Tochter weiter: Siri legt sich auf keine Heimat fest, stattdessen wagt sie immer wieder einen neuen Anfang, bricht immer wieder zu neuen Zielen auf, erfindet sich und ihre Geschichte in immer neuen Varianten.

“Welcher freie Mensch möchte sich diktieren lassen, wie es um ihn bestellt ist? Woran er denkt, vor dem Einschlafen, und was er macht, wenn die Angst einmal so groß ist, dass sie wirklich unüberwindbar scheint. Man ist umstellt, es ist doch nicht so, dass einem nur der eine Zugang zur Zukunft versperrt ist. Auch was war, gehört dir dann nicht. Deshalb, und das ist wichtig, muss ich mir meine eigene Geschichte erfinden.”

Angelika Reitzer hält sich mit Deutungen und Erklärungen zurück, als Leser wird man in diese beiden Leben eingeführt und es bleibt einem selbst überlassen, zu welchen Schlüssen man kommt. Siri und Marianne stehen sich beinahe wie ein Gegensatzpaar gegenüber – Siri beginnt immer wieder neue Leben, doch nie gelingt es ihr, etwas von den Anfängen auch zu beenden, stattdessen lässt sie sich treiben. Marianne dagegen ist festgelegt in einem Leben, das ihr zwar eine materielle Sicherheit bietet, dafür aber keinen Raum zur freien Entfaltung lässt. Beide Frauen sind Erbinnen, sie haben ein Leben geerbt, sie haben eine Tendenz zum Leben geerbt und beide versuchen Wege zu finden, mit diesem Erbe umzugehen.

“Wir Erben” ist ein Buch, das nachdenklich stimmt – ein Buch, das viele offene Fragen aufwirft und dabei dazu anregt, über Fragen nach Herkunft, Heimat und dem eigenen Leben nachzudenken. Die Erzählstimme ist monoton und nüchtern, auf der einen Seite habe ich das als sehr authentisch empfunden, auf der anderen Seite krankt das Buch manchmal an einem gewissen Gefühl der Langeweile. Es passiert eigentlich so viel, doch nichts scheint die Schutzschicht von Marianne wirklich durchbrechen zu können.

“Wut ist manchmal auch dabei. Immer will die eine von der anderen etwas, aber noch mehr will jede von sich selber. Es geht darum, wie man aus der Welt eine bessere machen kann. Eine Möglichkeit oder eigentlich viele, aber einmal anfangen.”

Angelika Reitzer legt mit “Wir Erben” einen wunderbaren Roman vor, den ich gerne gelesen habe. Es ist ein Roman über das Leben, über das Leben, das wir führen und über das, was wir gerne führen würden. Es ist ein Roman über Heimat und Wurzeln, über Freiheit und Träume und ein Roman über den Wunsch danach, einen Platz im Leben zu finden.

 

Heute bedeckt und kühl: Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virgina Woolf – Michael Maar

Michael Maar wurde 1960 geboren und hat unter anderem Bücher über Thomas Mann, Vladimir Nabokov, Harry Potter und Marcel Proust veröffentlicht. Für seine bisherigen Veröffentlichungen erhielt der Autor bereits zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste. Vor zwei Jahren erschien im C.H.Beck Verlag “Die Betrogenen”, sein erster Roman. “Heute bedeckt und kühl: Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virgina Woolf ” wurde im vergangenen Jahr veröffentlicht.

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“Ein Mann ohne Tagebuch (er habe es nun in den Kopf oder auf Papier geschrieben) ist, was ein Weib ohne Spiegel.”

Michael Maars Parforceritt durch die Geschichte des literarischen Tagebuchs umfasst 220 Seiten, 40 Kapitel und ein Personenregister, das sich über sechs Seiten erstreckt. Im Titel erwähnt werden bereits Samuel Pepys und Virgina Woolf, doch Michael Maar streift diese beiden Tagebücher lediglich und richtet seinen Fokus stattdessen darauf, die Vielfalt der unterschiedlichen Tagebücher aus insgesamt vier Jahrhunderten vorzustellen: Erwähnung finden unter anderem Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Heimito von Doderer, Franz Kafka, Helmut Krausser, Thomas Mann, Katherine Mansfield, Brigitte Reimann, Susan Sontag und Oscar Wilde.

Der Autor bezeichnet sein eigenes Buch als kleine Promenade und in der Tat fühle ich mich als Leserin so, als würde ich an all diesen Diaristen vorbeispazieren und kurz in ihre Leben eintauchen, bevor ich in ein weiteres Leben, ein weiteres Schicksal eintauche. Der rote Faden von Michael Maar ist die Frage danach, was einen Menschen dazu bringt, Tagebuch zu führen.

“Nur in Tagebüchern ist das Allerprivateste so unlösbar verschlungen mit dem, was später als Datum in den Geschichtsbüchern stehen wird. Ein Tagebuch, nicht zuletzt darin liegt sein Reiz, gibt immer auch ein absichtsloses und um so getreueres Bild seiner Zeit.”

Die Tagebücher, die Michael Maar für seine Analyse heranzieht, sind vielfältig und entstammen insgesamt vier Jahrhunderten – ich stoße auf Männer wie August Graf von Platen, der seinem Tagebuch sich und seine Sexualität offenbart. Auch andere Tagebuchschreiber offenbaren in ihren privaten Journalen tiefste Geheimnisse, dementsprechend ist mit dem Schreiben eines Tagebuchs auch immer die Angst verbunden, entdeckt und verraten zu werden. Tagebücher können manchmal auch wahre Giftkammern sein, in denen die Schreiber mit ihren Mitmenschen abrechnen. Eine weitere Gattung, die häufig anzutreffen ist, sind Traumtagebücher. Besonders heraus aus der überwältigenden Masse der Tagebücher ragen sicherlich die, die im Angesicht der großen Geschichte geschrieben werden – Erwähnung finden unter anderem Anne Frank und Viktor Klemperer.

“Wieder sind es die Details, die uns die große gräßliche Geschichte atmend, lebend, zuckend anschaulich machen, bevor sie in Begriffen und später in Phrasen sterilisiert werden.”

Michael Maar ist jedoch nicht nur an der Frage interessiert, warum so viele Tagebücher schreiben, sondern auch an der Frage, warum wir diese Tagebücher so gerne lesen. Ein entscheidender Grund ist sicherlich der, dass Tagebücher die Möglichkeit geben, tief in das Leben und die Gedanken fremder Menschen einzutauchen – häufig sind es ungefilterte und unverstellte Gedanken, die in Tagebüchern geäußert werden. Doch dies hat auch eine dunkle Kehrseite, denn woher kann man sich als Leser sicher sein, dass das Tagebuch den wahren Menschen widerspiegelt und keine Fälschung ist? Ein berühmtes Beispiel in diesem Zusammenhang sind die Tagebücher von Anaïs Nin, die viele Frauen mit ihrem Bericht über eine Fehlgeburt rührte, bevor sich herausstellte, dass es sich in Wirklichkeit um eine Abtreibung handelte.

“Das Tagebuch ist gewissermaßen die Beschwerdestelle, deren Schalter nie geschlossen hat, die Hotline ohne Warteschleife – und noch dazu gebührenfrei.”

Auf den letzten Seiten dieser aufregenden Entdeckungsreise durch die Geschichte des Tagebuchs, widmet sich Michael Maar unserer heutigen Gegenwart und findet in dieser nur wenig Gutes – das, was ehemals das handgeschriebene Tagebuch gewesen ist, wird nun durch Facebook und Blogs ersetzt. Die Sprache dessen, was Facebookuser posten, ist für ihn eine Pestilenz und die Bilderflut ein Sinnbild für die sich einschleichende Ent-Alphabetisierung.

“Tagebücher bieten das, was heute das Internet bietet: unsortierte und unzensierte, wild blühende und wild wuchernde Informationen; Gerüchte, die nie den Weg zum Druck finden, kuriose Details und abseitige Aperçus. Was in den Zeitungen steht, passiert viele redaktionelle Filter. Was im Tagebuch oder im Internet-Blog steht, keinen einzigen. Es ist darum viel Katzengold unter dem, was glänzt, aber gerade das macht seinen leicht schmutzigen Reis.”

Michael Maar legt mit “Heute bedeckt und kühl: Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virgina Woolf” eine unterhaltsame und informative Entdeckungsreise durch die Welt der Tagebücher vor. Mein Urteil fällt dennoch zwiespältig aus, denn zum einen kann ich das Buch jedem nur ans Herz legen, doch zum anderen ist es eine wahre Gefahr für jede Wunschliste!

Tage zwischen gestern und heute – Andreas von Flotow

Andreas von Flotow wurde 1981 in Dannenberg geboren und lebt heutzutage in Berlin. Er hat als Dramaturgieassistent gearbeitet, unter anderem am Maxim Gorki Theater Berlin und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Daneben war in einer Kunstbuchhandlung tätig, sowie als Lektor. Mit “Tage zwischen gestern und heute” legt Andreas von Flotow, der heutzutage als freier Dramaturg arbeitet, seinen Debütroman vor.

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Andreas von Flotow legt mit “Tage zwischen gestern und heute” einen Roman vor, dessen Handlung in unserer heutigen Gegenwart wurzelt, dessen Ich-Erzähler sich jedoch bereits im Jahr 2031 befindet. Der Erzähler, der namenlos bleibt, begibt sich zurück in seine Kindheitserinnerungen, versetzt sich zurück in den Jungen, der er gewesen ist. Zweimal ist das Leben des Jungen zerbrochen, in so viele Einzelteile, dass es kaum noch zusammenzufügen ist. An dem Tag, an dem er zehn Jahre alt wird, werden seine Eltern von seinem Onkel erschossen. Der Vater stirbt sofort, die Mutter befindet sich fünf Jahre lang in einer Art Wachkoma – in einem Schwebezustand, zwischen Bewusstsein und Schlaf, aus dem sie niemand mehr herausholen kann. Sie stirbt, als der Erzähler fünfzehn Jahre alt ist.

“Meine erste Erinnerung, wenn ich an die frühe Kindheit denke: Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem es besonders laut oder lärmend um mich herum gewesen wäre.”

Die Erinnerungen an den Unglückstag, der alles verändern sollte, sind schwammig und vage, doch der Erzähler versucht sich hinein zu begeben in das Leben, das er als Kind geführt hat. Er versucht die Erinnerungsfetzen, die ihm geblieben sind, zu erforschen, zu untersuchen und zusammenzusetzen. Er begibt sich zurück in die Zeit vor dem Unglück, in die Zeit danach, als er bei seiner ungeliebten Großmutter leben muss, die er Tante Eve nennt.

Der Erzähler erlebt eine behütete Kindheit, auch wenn seine Eltern häufig abwesend sind. Mit seiner Mutter, die eine berühmte Sängerin ist, lebt er in Amerika, der Vater hält sich häufig in Frankreich auf. Wenn er doch einmal bei seiner Familie ist, versinkt er immer wieder in der Welt der Bücher, liest und schreibt kleine Zettelchen voller Notizen, die er zwischen die Buchseiten legt. Helen, das Kindermädchen, ist ein wichtiger Teil der Familie – sie ist diejenige, die die wohl engste und liebevollste Beziehung zu dem Erzähler hat.

“Der Tag, an dem meine Mutter starb, ist für mich im selben Augenblick Traum und Wirklichkeit; einerseits eine traumhaft logische, aber leider nur spürbare Folge unzähliger Ereignisse, andererseits eine exakte und greifbare Nachbildung der Vergangenheit vor meinem geistigen Auge.”

Der Blick zurück in die Vergangenheit ist gleichzeitig auch ein Blick auf die Eltern, die immer irgendwie da waren, denen der Erzähler jedoch nie nahe gekommen ist. Der Blick zurück auf das, was geschehen ist, ist auch ein Versuch, sich dem Kind anzunähern, das man gewesen ist und dabei die Eltern zu ergründen, die nur viel zu kurz Teil des eigenen Lebens gewesen sind.

“Im Jahr 2005 sind meine Eltern Opfer eines Anschlags geworden, den mein Onkel, ein Halbbruder meiner Mutter, verübt hat. Er feuerte dreizehn Schüsse ab, mein Vater war sofort tot, meine Mutter starb fünf Jahre später. Die folgende Erzählung ist eine kurze, hier und da bebilderte Chronologie meiner Kindheit bis zum Tod meiner Mutter. Sie ist durchwoben mit den Daten meines Lebenslaufes und stellt vermutlich den entscheidenden Teil des geistigen Fundamentes dar, auf dem ich als fünfzehnjähriger Junge stand. ich erzählte der Reihe nach und behalte die Natur der Ordnung im Hinterkopf: Sie ist ein Phänomen der Oberfläche, darunter ist es wüst und leer.”

“Tage zwischen gestern und heute” ist ein Roman, der so kurz ist, das er schon fast eine Novelle sein könnte. Der Text lässt mich zwiespältig und mit vielen offenen und unbeantworteten Fragen zurück. Die Chronologie der Kindheit liest sich vielmehr als Steinbruch, als ein Trümmerhaufen der Erinnerungen. An vieles erinnert sich der Erzähler nicht mehr, vieles ist ihm unklar. Vieles bleibt dadurch auch dem Leser verborgen, wir tauchen zwar ein in diese Bruchstücke einer Kindheit, doch auf viele Fragen gibt es keinerlei Antworten. Die drängendste Frage war für mich die Frage nach dem warum? Wie konnte es zu dieser Tat kommen? Antwortversuche auf diese Frage gibt es nur spärlich.

Der Blick zurück auf die Kindheit, ist ein Blick, über den ich in vielen Romanen gestolpert bin zuletzt. Doch in diesem Roman funktioniert die gewählte Perspektive für meinen Geschmack nicht wirklich. Über der Kindheit des Erzählers liegt ein dunkler Schleier, der nur stellenweise Licht durchlässt. Vieles bleibt unklar, vieles bleibt schwammig. Ich fühle mich beinahe schon verloren in dieser Erzählung, die bereits vorbei ist, bevor sie eigentlich so wirklich begonnen hat. Andreas von Flotow deutet an, dass er erzählen kann, er deutet an, dass er Charaktere entwerfen und Szenen gestalten kann, doch all diesem fehlt dann doch ein verbindendes Element. Nach dem Zuklappen der letzten Seite gibt es nicht vieles, das von dieser Lektüre in mir zurückbleibt. Am meisten beeindruckt hat mich vielleicht die Bücherliebe des Vaters, die er an seinen Sohn weiterreicht. Es sind die Bücher, die dem Erzähler helfen, in Kontakt zu sich selbst und zu seiner Mutter zu kommen. Die Bücher des toten Vaters ziehen irgendwann im Zimmer des Sohnes ein und werden für ihn zu einer Art Rettungsanker, nicht unbedingt, weil er sie alle liest, sondern allein durch ihre Präsenz.

“Am liebsten würde ich hier jedes einzelne Buch meines Vaters mit einem Satz erwähnen, wenigstens etwas darüber sagen. Nicht unbedingt über den Inhalt, eher über ein paar wiederkehrende Gedanken, über das Gefühl, das diese Bücher in mir wecken, wenn ich mir nur die Titel in Erinnerung rufe. Aber ich schweige lieber. Über die wichtigsten Sachen lässt sich am wenigsten sagen.”

Andreas von Flotow legt mit “Tage zwischen gestern und heute” einen schmalen Roman vor, der mich leider nicht überzeugen konnte. Die Grundidee hat mich noch begeistern können, doch dem Autor gelingt es leider nicht wirklich, diese Idee auch mit Inhalt zu füllen. Vieles in diesem Roman bleibt deshalb leider Stückwerk, gute Ansätze sind dabei zwar immer wieder zu erkennen, mehr aber leider auch nicht.

Räuberhände – Finn-Ole Heinrich

Finn-Ole Heinrich wurde 1982 geboren, er ist Autor und Filmemacher. Er ist in Cuxhaven aufgewachsen und hat in Hannover ein Filmstudium absolviert. Er hat bereits eine Vielzahl an Veröffentlichungen vorzuweisen und wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Finn-Ole Heinrich betreibt eine eigene Homepage, auch zu seinem Roman “Räuberhände” gibt es einen virtuellen Ort im Netz, an dem man viele lesenswerte Zusatzinformationen findet.

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“Und damit hat es angefangen. Manchmal hat Samuel Ideen, die mir völlig fremd sind. Sein Geschenk war eine dieser Ideen. Ich bin nicht allein verantwortlich. Unter normalen Umständen wäre das alles nicht passiert.”

In seinem Debütroman “Räuberhände” erzählt Finn-Ole Heinrich die Geschichte von Janik und Samuel, die eine ungewöhnliche und intensive Freundschaft miteinander verbindet. Beide machen zu Beginn des Romans gerade ihr Abitur, befreundet sind sie seit fast sieben Jahren. Wenn Janik seinen Freund ärgern möchte, nennt er ihn manchmal Adoptivkind, denn Janik und Samuel sind nicht einfach nur Freunde, sondern beinahe schon Brüder, Samuel hat ein eigenes Bett in Janiks Zimmer und es gibt kaum eine Nacht, in der er nicht darin schläft. Während Janik aus einem liberalen Elternhaus kommt, in dem alles scheinbar richtig läuft, es für jedes Problem eine Lösung gibt und jeder über seine Gefühle und Beobachtungen sprechen kann, ist Samuel das Kind einer Alkoholikerin – seinen Vater hat er nie kennengelernt, doch er ist überzeugt davon, dass dieser unbekannte Mann, der angeblich Osman heißen soll, aus der Türkei kommt. Samuel wird von dieser Vorstellung verfolgt, er geht auf in dieser fiktiven türkischen Identität, in die er sich – einem Phantasieland gleich – hineinbegeben kann, die er sich überstülpen kann, als würde es nichts anderes mehr geben.

Es ist der große Traum von Janik und Samuel, nach dem Abitur nach Istanbul zu reisen, dort vielleicht noch einmal neu anzufangen und möglicherweise sogar Samuels Vater zu finden. Doch kurz bevor sie nach Istanbul abreisen, wird durch ein Ereignis alles in Frage gestellt, was sie zuvor verbunden hat. Das Ereignis hat nur wenige Minuten gedauert, einen Wimpernschlag lang, doch es hat eine Wirkung, die einer Bombenexplosion gleichkommt. Es zerfetzt alles um sich herum, nichts ist mehr so, wie zuvor. Janik und Samuel fliegen dennoch nach Istanbul, Janik mit schweren Schuldgefühlen und Samuel mit viel Wut im Bauch. Doch kann das, was sich die beiden einstmals von Istanbul versprochen haben, jetzt überhaupt noch in Erfüllung gehen?

“Er hat kaum noch Haut an den Seiten seiner Nägel. Es sind die Räuberhände, die ihn verraten. Ich kenne seine Bewegungen: Er nimmt die Hand zum Mund. Er tippt in einem geheimen Rhythmus jede seiner Fingerkuppen an die Oberlippe.”

“Räuberhände” ist nur 200 Seiten schmal, doch auf diesen 200 Seiten bringt Finn-Ole Heinrich eine ganze Menge an Themen unter. Auf mich hat das Buch gewirkt, als würde es aus ganz vielen unterschiedlichen Schichten bestehen. Im Zentrum des Romans steht natürlich die ungewöhnliche Freundschaft von Janik und Samuel, die wie Brüder zusammenleben, aber keine sind. Irgendwie ist von Anfang an und immer wieder ein seltsames Ungleichgewicht zwischen ihnen zu spüren. Janiks Familie ist so perfekt, dass es dem Jungen die Luft zum Atmen abschnürt, er wünscht sich manchmal die Mutter Samuels als Mutter oder träumt davon, von einem Auto angefahren zu werden, er träumt von Überfällen und Katastrophen. Er träumt davon, dass endlich etwas passiert, das Kratzer in diese perfekte und makellose Oberflächenschicht macht. Samuel dagegen genießt die Sicherheit von Janiks Elternhaus, er genießt die Kontinuität, die Sorglosigkeit. Über seine alkoholkranke Mutter spricht er nur wenig und wenn er dann doch mal spricht, dann lacht er häufig über seine Kindheitserinnerungen.

“Ich möchte Samuel anfassen, ihn nur ein kleines bisschen berühren, wie zufällig. Aber ich traue mich nicht. Was plötzlich alles anders ist und nicht mehr sicher. Mir fehlt das bisschen Mut, das nötig wäre. Und sei es nur, um endlich aufzustehen, schnaubend zu atmen und unsere Stille in dieser lauten Wartehalle mit einem knartschenden Tanz auf dem glänzenden Plastikfußboden zu zerfetzten.”

Das Leitmotiv des Romans findet sich im Buchtitel wieder: der Begriff Räuberhände ist ein Phantasiewort von Janik, was er benutzt, wenn er sich in seine Gedankenwelt zurückzieht. Mit diesem Phantasiewort beschreibt Janik seinen Freund, den ordnungsliebenden Samuel, der gerne den Staubsauger benutzt und immer auf sein Äußeres achtet, doch seine Fingernägel wund beißt, bis sie entzündet sind. Die Räuberhände machen den Unterschied, Samuel versucht ein äußerlich normales Leben zu leben, losgelöst von seinem schwierigen Zuhause, doch seine Hände verraten ihn immer wieder. Janik glaubt in ihnen die Geschichte seines Freundes lesen zu können, für die dieser keine Worte hat. Die Räuberhände stehen für all das Ungesagte, was sich zwischen Janik und Samuel befindet.

“Ich wollte, dass etwas passiert, damit sie sich nicht so widerlich sicher fühlen. Ich habe mir gewünscht, dass wir überfallen und geschändet werden, damit wir merken, dass wir verletzbar sind, dass alles zerbrechen kann, wenn man nur hart genug darauf schlägt.”

Darüber hinaus bin ich beim Lesen des Romans auf die Themen Heimat und Identität gestoßen, aber auch auf den Wunsch nach Freiheit, danach, sich losgelöst von den Eltern neu erfinden zu können. Es geht auch um Schuld und wie es gelingen kann, einander von Schuld freizusprechen – Finn-Ole Heinrich entlässt den Leser happyendlos und doch habe ich beim Zuklappen der letzten Seite die leise Hoffnung gespürt, dass alles gut werden wird für Janik und Samuel.

Die Sprache ist der Sprache von Jugendlichen nachempfunden, dies macht den Roman zu einer flüssigen Lektüre und doch besteht nie die Gefahr, dass der Ton an Authentizität verlieren könnte. Finn-Ole Heinrich braucht nur wenige Sätze, nur wenig Worte, um intensive Panoramen zu entfalten – nicht nur Janik und Samuel sind nach Istanbul gereist, ich hatte das Gefühl mitzureisen und mit ihnen über die türkischen Basare zu stolpern.

“Ich hasse, dass Eltern diese Macht besitzen, sich immer und ständig einzumischen und alles durcheinander zu bringen. Man muss sie ausschließen, so oder so, egal, ob sie Heroin spritzen oder Plätzchen backen. Sie werden immer einen Platz in unserem Leben fordern, sie schummeln sich hinein, mit Tränen, Blumen oder Häkelsachen. Eltern müssen egal sein, man muss sie vergessen, vergraben, man muss sich gegen sie verhärten. Oder man wird ewig ihr Kind bleiben.”

Finn-Ole Heinrich hat ein Buch für junge Erwachsene geschrieben, es ist ein Buch über das Erwachsenwerden, das man aber auch als Erwachsener lesen kann. “Räuberhände” erzählt von der vielleicht wichtigsten Lektion im Leben: nichts hat Bestand, alles kann sich – manchmal in Sekunden, manchmal in Minuten, manchmal über einen langen Zeitraum – verändern. Von diesen Veränderungen erzählt Finn-Ole Heinrich und er erzählt so authentisch und mit so viel Kraft, dass ich am liebsten immer weiter gelesen hätte.

Kein Paar wie wir – Eberhard Rathgeb

Eberhard Rathgeb wurde 1959 in Buenos Aires geboren, mit vier Jahren zog es ihn gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern nach Deutschland. Rathgeb hat als Feuilletonredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gearbeitet, 2007 erschien sein Buch “Schwieriges Glück. Versuch über die Vaterliebe”. “Kein Paar wie wir” ist sein neuester Roman und erschien im vergangenen Jahr im Hanser Literaturverlag, er wurde mit dem aspekte Literaturpreis ausgezeichnet.

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“Sie hatten das Wünschen früh geübt und im Alter nicht verlernt, es hielt die beiden Schwestern jung.”

Ruth und Vika sind Schwestern, die durch ein ganz eng geknüpftes Band miteinander verbunden sind. Sie sind nicht nur Schwestern, sondern zwei Frauen, die sich dazu entschieden haben, ihr Leben alleine zu verbringen – sie sind miteinander alleine, ohne Männer und ohne Kinder, dafür aber mit all ihren gemeinsamen Erinnerungen. Mit ihren Eltern sind sie Ende der dreißiger Jahre nach Argentinien geflüchtet, es war eine vorausschauende Flucht angesichts dessen, was später passieren sollte. Ihr Vater arbeitet in Argentinien als Brückenbauer, dort findet er sein berufliches Glück, doch zuhause bleibt er ein gefühlloser Tyrann, der seine Kinder zu Höchstleistungen antreibt – ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Liebe, ohne Mitgefühl. Die Mutter ist zwar da, doch eigentlich ist sie es nicht – das Leben in der Fremde hat sie depressiv gemacht, sie wollte nie weg aus Deutschland, auch wenn die Flucht bedeutete, in Sicherheit zu sein.

“Das Meer der Dinge zog sich von den alten Frauen zurück. Ihre Lebenskraft, ihre Neugier reichten nicht mehr aus für ein Blütenblatt, den Henkel einer Tasse, den Stoff einer Decke, für die Rinde eines Baumes, den Griff einer Gabel, für den Geschmack von Brot und Wasser.”

Vika und Ruth wachsen in einem Elternhaus auf, dessen Atmosphäre vergiftet ist. Der Vater ist herrschsüchtig, er kennt nur seine Arbeit, die beiden Töchter nimmt er kaum wahr. Die Mutter ist schwerfällig, all ihre Wünsche und Träume projiziert sie auf die beiden Töchter, überschüttet sie mit Erwartungen, Forderungen und Vorwürfen, immer wieder Vorwürfen. Erst als die beiden Schwestern Ende zwanzig sind, gelingt es ihnen, sich aus ihrem Elternhaus zu lösen und die Fesseln abzustreifen.

“Das vergangene Leben lässt uns nicht los. Nur wenn wir uns bewegen, wenn wir arbeiten, reisen, unter Menschen sind, können wir sie abschütteln. Nur wenn wir uns ablenken, wenn wir unterwegs sind, haben wir vor ihr Ruhe. Sobald wir uns niederlassen und nichts tun als dasitzen und zu reden, holt sie uns ein. Wenn wir die Augen schließen, sehen wir ihr Gesicht, wenn wir uns umschauen, sehen wir Mutter aus einem Winkel auftauchen. Sie beobachtet uns, sie lässt uns nicht fortgehen.”

Ruth wandert nach New York aus, ihre Schwester Vika folgt kurze Zeit später. Zum ersten Mal können beide befreit von ihrer bedrückenden Vergangenheit leben. Sie gewöhnen sich schnell an die amerikanischen Verhältnisse – ihr Vorteil ist sicherlich, dass sie drei Sprachen beherrschen. Sie leben und verdienen gut in New York, leben genauso eng zusammen, wie in ihrer Kindheit, fahren ab und an Händchen haltend Taxi – Männer kommen ihnen aber nicht ins Haus, auch wenn es einige Verehrer gibt, die Angst davor, ein ähnliches Leben führen zu müssen, wie das der Eltern, ist zu erdrückend.

“An diesem Tisch und auf diesen Stühlen saßen wir als Kinder. Das Vergangene bleibt an einem hängen, es fällt nicht von einem ab, es löst sich nicht auf. Die Dinge überleben uns. Wir gehen davon, sie bleiben.”

Die beiden Schwestern sind mittlerweile gealtert und längst wieder zurück nach Argentinien gezogen, gemeinsam auf dem Sofa sitzend blicken sie zurück auf ihr Leben, auf ihre Vergangenheit, auf ihre Kindheit, ihre Eltern und den Lauf der Geschichte, den sie mehrmals besiegen konnten, weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren: sie flüchteten vor Hitler und sie verließen Argentinien rechtzeitig vor dem Militärputsch. In gemeinsamen Gesprächen, Gesprächen, in denen die eine Schwester den Gedanken der anderen zu Ende denkt, werden die Bilder der Vergangenheit Stück für Stück zusammengesetzt, bis sich ein Panorama eines beeindruckenden, wenn auch einsamen, Lebens ergibt: “Das Gespräch war eine Nabelschnur, die sie verband und am Leben erhielt.” Es ist ein intimes Gespräch zwischen zwei so miteinander vertrauten Menschen, dass der Zugang in die Welt der Schwestern auf den ersten Seiten nicht einfach ist – ich habe mich als Gesprächsbeobachter gefühlt, ohne den Text jedoch wirklich betreten zu können.

“Wenn man nichts von dem wahrnimmt, was um einen herum geschieht, dachte sie, ist es so, als würde man in der Erinnerung leben. Als wäre man nur noch Erinnerung. In sich verkapselt. Ein geschlossener Innenraum in einem schwerfälligen Gehäuse. Ein Eremit, der sich von der Welt zurückgezogen hat und sich seinen Gedanken überlässt.”

Vika und Ruth leben eine Beziehung, in der die Grenzen der Normalität (was auch immer normal bedeuten mag) verwischt sind – verbunden werden sie durch eine enge Zweisamkeit, doch diese Zweisamkeit hat auch dazu geführt, dass sich keiner der beiden je nach außen orientieren konnte. Nur Ruth hatte eine kurze Affäre mit einem Mann, als sie für kurze Zeit alleine in New York gewesen ist. Beide scheinen ihr großes Glück in der gemeinsamen Bindung gefunden zu haben, doch trotz dieses offensichtlichen Glücks, das von Eberhard Rathgeb mit ganz viel Feingefühl und Zärtlichkeit beschrieben wird, wirkt dieses seltsame Paar auch befremdlich. Beide gewinnen viel durch ihr gemeinsames Leben, ich habe mich aber auch immer wieder gefragt, was sie dadurch vielleicht verlieren könnten: auch viele Jahre nach dem Tod der verhassten Eltern, haben sich beide noch immer nicht von den Schrecken ihrer Kindheit lösen können. Die Schatten der Vergangenheit verschwinden nicht, niemals so ganz. Ist es wirklich eine Entscheidung für einander gewesen oder eine Entscheidung aus Angst vor dem Leben?

“Kein Mann ist das wert, dachten sie. Auch keine Frau. Die Liebe zwischen den Männern und den Frauen wird völlig überschätzt. Sie bilden ein Paar und möchten glücklich sein und werden unglücklich. Sie versprechen sich gegenseitig hoch und heilig die Treue und betrügen sich bei der nöchstbesten Gelegenheit. Sie möchten ein schönes Leben führen und bringen sich schließlich um, weil ihre Hoffnungen enttäuscht wurden. Sie halten an ihrer Ehe fest wegen der Kinder, aber wenn sie alt und hinfällig geworden sind, machen sie sich das Leben gegenseitig zur Hölle.”

Eberhard Rathgeb legt mit “Kein Paar wie wir” einen lesenswerten Roman vor, der die Geschichte von zwei außergewöhnlichen Schwestern erzählt. Zwei Schwestern, denen es gelingt, der Geschichte zu entwischen, die die Schatten der Vergangenheit aber dennoch nicht loswerden. Eberhard Rathgeb ist ein berührendes Porträt gelungen, voller Liebe, aber auch angefüllt mit Angst und Traurigkeit.

Dieser Mensch war ich: Nachrufe auf das eigene Leben – Christiane zu Salm

Christiane zu Salm wurde 1966 in Mainz geboren und arbeitete viele Jahre als Medienmanagerin. Sie war unter anderem Geschäftsführerin bei MTV und hat den Privatsender 9Live aufgebaut. Die Anteile daran verkaufte sie im Jahr 2005, seitdem widmet sich die leidenschaftliche Kunstsammlerin verstärkt sozialen Projekten. Sie hat den Verein NFTE (Network for Teaching Entrepreneurship) mitbegründet und ist ehrenamtlich als ambulante Sterbebegleiterin für das Lazarus-Hospiz in Berlin tätig.

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“Warum muss erst deine Zeit ablaufen, damit du reden kannst?”

Dieses Buch ist aus den Eindrücken und Begegnungen einer ambulanten Sterbebegleiterin heraus entstanden, es sind  berührende Eindrücke und Begegnungen mit Menschen, die sich am Ende ihres Lebensweges befinden. Aufgezeichnet wurden diese Eindrücke von Christiane zu Salm, die sich nach vielen Überlegungen dazu entschlossen hat, eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin zu machen. Teil dieser intensiven Ausbildung, die sie in einer kleinen Gruppe absolviert hat, war die Aufgabe, einen Nachruf auf das eigene Leben zu schreiben. Es ist diese Aufgabe gewesen, die sie dazu angeregt hat, über die Frage nachzudenken, wie Menschen im Angesicht ihres Todes ihr eigenes Leben bewerten. Es ist diese Aufgabe gewesen, die sie dazu angeregt hat, Menschen zuzuhören, mit ihnen zu sprechen und sie danach zu fragen, wie ihr eigener Nachruf aussehen würde. Geführt hat sie diese Gespräche in Deutschland und in Amerika, manchmal im Hospiz, manchmal aber auch bei den Patienten zu Hause.

“Dies ist kein Buch über das Sterben, sondern ein Buch über das Leben. Das Leben wird hier allerdings von seinem Ende aus betrachtet: Es ist eine Betrachtung des Lebens aus der Perspektive des Sterbens.”

Die Betrachtung des Lebens aus der Perspektive des Sterben heraus ist etwas gewesen, das Christiane zu Salm immer schon interessiert hat, häufig ist sie mit diesem Interesse angeeckt. In ihrem sehr lesenswerten Vorwort – mit dem passenden Titel “Kein Sterbenswort” – geht sie darauf ein, wie Menschen dazu neigen die Tatsache zu verdrängen, dass das Leben endlich ist. Wir verwenden zwar Worte wie sterbenslangweilig, todmüde und ab und an hat man sich auch mal totgelacht, doch der Tod und das Sterben werden darüber hinaus nicht häufig bewusst in unserem Alltag wahrgenommen. Der Eindruck es handle sich dabei um ein Tabuthema ist sicherlich nicht ganz falsch.

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“Ganz egal, ob Mann oder Frau: Der moderne Mensch redet nicht gerne über das Sterben. Darüber verlieren wir in unseren hochzivilisierten westlichen Gesellschaften so gut wie kein Sterbenswort.”

Christiane zu Salm betont, dass ihre Affinität zum Tod nicht nur aus einer Angst resultiert, sondern “aus einer Suche nach dem Verständnis dessen, was wirklich wichtig ist, worauf es ankommt, was eigentlich bleibt vom Leben.” Dem Tod begegnet ist sie zweimal, mit sechs Jahren musste sie den Unfalltod ihres Bruders miterleben, viele Jahre später befand sie sich für einige Minuten unter einer Lawine, sie raste auf Skiern den Hang hinab und hat die Gewissheit gespürt, aus diesem Moment nicht mehr heil herauskommen zu können. Doch sie hat überlebt. Vier Jahre später fasste sie den Beschluss, Sterbebegleiterin werden zu wollen.

“[…] was denkt die Verkäuferin im Supermarkt, was der Kfz-Mechaniker, was die Gemeindemitarbeiterin von nebenan? Wie betrachten ganz gewöhnliche Menschen ihr Leben, wenn sie im Sterben liegen? Sind es Antworten auf die großen Fragen des Lebens, die sie eventuell gefunden haben und hinterlassen könnten? Oder sind es Banalitäten? Aber wer entscheidet eigentlich, was banal ist und was nicht? Was ist wichtig, ganz am Ende? Ist es möglicherweise das Gleiche, das immer schon wichtig war – oder etwas ganz anderes? Und woran erinnert sich jemand – dann, wenn es zu Ende ist, das Leben?”

Insgesamt achtzig Nachrufe auf das eigene Leben versammelt Christiane zu Salm in ihrem Buch, sie stehen dicht an dicht nebeneinander. Die Nachrufe umfassen häufig nur zwei bis drei Seiten, manchmal reicht auch eine aus für das, was der Mensch über sein Leben erzählen möchte. Viele der befragten Menschen sind bereits älter, andere gerade einmal Anfang 40. Viele von ihnen haben Krebs, bei manchen ist die Krankheit vermerkt, bei anderen nicht, bei manchen ist der Zeitpunkt vermerkt, an dem sie gestorben sind, andere leben noch.

“Wo ist bloß die Zeit hin, und was haben wir denn all die Jahre gemacht, in denen wir unsere Träume geträumt haben, statt sie zu leben?”

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Die versammelten Schicksale haben mich natürlich nicht alle gleichermaßen berühren können, doch viele haben mich tatsächlich bewegt, andere haben mich auch betroffen und nachdenklich gemacht. Die Schicksale sind häufig in keiner Form außergewöhnlich, ganz im Gegenteil: es sind die Lebenserinnerungen ganz normaler Menschen. Viele von diesen Erinnerungen sind von dem Gefühl geprägt, zu wenig erreicht zu haben oder an einer Weggabelung den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Manche von den Erinnerungen sind von einer tiefen Schuld geprägt, ein Mann erinnert sich daran, Schuld am Selbstmord seines Sohnes zu haben. Andere werden davon belastet, ein Geheimnis mit sich herumzutragen: eine Frau hat ihrer Tochter ein Leben lang verschwiegen, dass sie als Prostituierte gearbeitet hat und der Vater ihrer Tochter einer ihrer Kunden gewesen ist. Ein anderer Mann hat es sein Leben lang nicht geschafft, seiner Frau eine Affäre zu gestehen. Andere berichten über verpasste Möglichkeiten, über vergeudete Chancen, Träume, die nie umgesetzt wurden und über Beziehungen die zerbröckelten oder über Beziehungen, für die man nie den Mut gefunden hat, sie zu führen. Ein Sohn berichtet davon an der Frage zerbrochen zu sein, ob sein Vater stolz auf ihn gewesen ist, ein Vater stirbt mit dem Gefühl, einen seiner beiden Söhne dem anderen gegenüber bevorzugt zu haben.

“Bei den entscheidenden Ereignissen, die im Leben so passieren, weiß man ja immer erst im Nachhinein, wofür es gut war. Dass alles, ganz gleich was, sich irgendwann für irgendetwas als richtig erweist . da bin ich mir sicher. Ich habe mich allerdings oft gefragt, warum wir das immer erst im Rückblick erkennen.”

Doch es gibt auch andere Nachrufe, Nachrufe von Menschen, die ein Leben gelebt haben, auf das sie im Moment ihres Todes mit einer inneren Zufriedenheit zurückblicken können. Menschen, die die richtigen Entscheidungen getroffen haben und den richtigen Menschen begegnet sind oder die sich im richtigen Moment dafür entschieden haben, sich von einem Menschen zu trennen, der einem vielleicht nicht mehr gut tut. Im Anhang des Buches befindet sich eine ausgezeichnete und sehr informative Liste an Buch- und Filmtiteln rund um das Thema Sterben und Tod.

Bewegt und berührt – das sind zwei Worte, die ich in meinen Besprechungen gerne verwende. Noch nie hat sich dies so passend angefühlt, wie bei diesem Buch. Christiane zu Salm hat mich mit den Nachrufen, die sie in diesem Buch versammelt hat, dazu angeregt, nachzudenken – über mein eigenes Leben, aber auch über das Leben der Menschen um mich herum. “Dieser Mensch war ich” ist für mich gleichermaßen Kraftspender und Anstoß gewesen: der Zugang anderer Menschen zu ihrem eigenen Tod hat mich immer wieder getröstet und ermutigt und ihre Lebenserinnerungen haben mir in Erinnerung gerufen, was wirklich wichtig ist im Leben: Zufriedenheit, Glück und der Versuch, die eigenen Träume zu leben.

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