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Deutschsprachige Literatur

Wenn die Wale an Land gehen – Kathrin Aehnlich

Kathrin Aehnlich wurde 1957 in Leipzig geboren. Nachdem sie zunächst an der Ingenieursschule für Bauwesen studierte, folgte später ein Studium am Literaturinstitut Leipzig. Einem breiteren Publikum bekannt wurde die Autorin, die bereits Hörspiele, Erzählungen und ein Kinderbuch veröffentlicht hat, durch ihren Roman “Alle sterben, auch die Löffelstöre”. Seit 1992 arbeitet Kathrin Aehnlich nicht nur als Autorin, sondern auch als freie Mitarbeiterin für den mdr Figaro. “Wenn die Wale an Land gehen” ist ihre neueste Veröffentlichung und erschien im vergangenen Jahr im Antje Kunstmann Verlag.

Wenn die Wale

 “Wahrscheinlich gab es Träume, die man sich nie erfüllen sollte.”

Roswitha Sonntag ist fünfzig Jahre alt und gerade frisch geschieden, doch statt um die gescheiterte Ehe mit Wladimir zu trauern, entscheidet sie sich für eine Scheidungsreise – für Roswitha ist dies das Äquivalent zu einer Hochzeitsreise. Ihre Scheidungsreise führt sie nach Amerika, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist eine Reise zurück in die Vergangenheit, zurück zu den Träumen, die sie als junge Studentin geträumt hat. Sie ist nie zuvor in Amerika gewesen, doch Mick, der eigentlich Michael heißt, ist aus der ehemaligen DDR nach Amerika geflüchtet. Ihre Beziehung zu Mick war immer etwas kompliziert: war es eine sexuelle Freundschaft oder war es sogar Liebe? Darüber gesprochen haben Roswitha und Mick nie, verbunden hat sie die Musik – vor allem die Stimme von Janis Joplin ließ ihre beiden Herzen immer wieder gemeinsam schlagen, doch mit der Zeit wurden diese Momente immer weniger. Beide drifteten voneinander weg: während Mick nicht bereit war, sich mit der politischen Situation abzufinden und stets wütend aufbegehrte, flüchtete sich Roswitha mit einem neuen Mann in das häusliche Glück der Langeweile – das erste Kind folgte kurz darauf.

“Erstmals seit ihrer übereilten Abreise gestand sie sich ein, dass sie von Mick nichts als die Adresse auf einer alten Postkarte hatte, keine Telefonnummer, keine Mail, nur eine Ortsangabe, die wie die Zahlenkombination für ein Schließfach anmutete.” 

Kathrin Aehnlich erzählt eine Geschichte, die angesiedelt ist, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Roswitha macht sich alleine auf den Weg nach Amerika, ohne zu wissen, wohin genau die Reise sie führen wird – nur mit der Vorstellung im Kopf, Mick wiederzusehen und dadurch vielleicht etwas Vergangenes aufleben zu lassen, dass in der Zwischenzeit schon lange verloren gegangen ist. Jeder Schritt, den sie in Amerika geht – auf fremden Gehwegen, an unbekannten Orten – erinnert sie zurück an die 80er Jahre, die sie in der DDR verbracht hat. Sie hat an einer Fachhochschule studiert, doch sie hatte neben dem trockenen Ingenieursstudium auch immer den Wunsch danach, ihre künstlerischen Interessen auszuleben. Es ist die Fotografie, die sie begeistert und die sie ganz unterschiedliche Orte der damaligen Zeit mit ganz anderen Augen entdecken lässt – sie fotografiert im Tagebau, hält mit ihrer Kameralinse Arbeitssituationen und Lebensbedingungen fest, die lieber verschwiegen werden. Die Freundschaft mit Mick führt sie ein in eine große künstlerische Gemeinschaft an Menschen, die alle auf der Suche nach einem Platz auf dieser Welt sind, nach einem Ort, an dem sie ihre Wünsche und Träume, ihre Interessen und Leidenschaften ausleben können.

“Alles war endlich. Die Nächte voller Musik und Poesie, das Treibenlassen durch den Tag, die Unbeschwertheit, die Freundschaft, vielleicht auch Liebe.”

Copyright: http://www.bildatlas-ddr-kunst.de/item/14796

“Wenn die Wale an Land gehen” ist mit 250 Seiten ein verhältnismäßig schmaler Roman, doch er ist reich an Geschichten und Erinnerungen. Roswitha ist eine stille Frau, doch sie ist gleichzeitig auch ungeheuer mutig, kreativ und stark. Es hat zwanzig Jahre gedauert, bevor sie sich getraut hat, in das Land zu reisen, was bis dahin immer nur in Micks Kopf existiert hat. Im Laufe ihrer Zeit in Amerika kristallisiert sich immer stärker heraus, das Roswithas Reise nicht nur eine Reise zu Mick ist, sondern vor allen Dingen eine Reise zu sich selbst, zu ihren eigenen Bedürfnissen, zu ihren eigenen Wünschen und Träumen. Zum ersten Mal reflektiert sie ihre Studentenzeit, aber auch die schwierige Ehe, die sie mit ihrem schwer kranken Mann geführt hat. Die Wale, die im Titel Erwähnung finden, tauchen im Roman nicht wirklich auf. Ich habe den Titel viel mehr als Metapher für Roswithas Situation gelesen: sie ist in Amerika gestrandet, nachdem sie lange Zeit herumgeirrt ist und die Orientierung verloren hat. Bei Walen gibt es keine Erklärungen für den Orientierungsverlust, ihre einzige Chance ist es – mithilfe der Menschen – wieder zurückzukehren ins offene Meer, um sich neue Wege und Routen zu bahnen. In Amerika ist es das “Shelter Park House”, in dem Roswitha auf Menschen trifft, die bereit sind, ihr dabei zu helfen, ins Leben zurückzukehren und zu der Frau zu werden, die sie vielleicht irgendwann einmal gewesen ist.

“Drei Jahre nach seiner Flucht hatte Mick ihr die erste Postkarte geschickt, die schwarz-weiße Ansicht eines Hochhauses, über dem der Mond stand. Auf der Rückseite der Karte hatten nur zwei Worte gestanden: Bin da!”

“Wenn die Wale an Land gehen” ist ein leiser Roman, der vermeintlich leicht und heiter daherkommt, unter dieser Schicht jedoch auch viel Stoff zum Nachdenken bietet und dabei einige traurige Fragen aufwirft. Es sind Fragen danach, wie wir leben wollen und was wir mit unseren Träumen machen, diese Fragen werden mit der Hoffnung verbunden, dass es nie zu spät ist, sich diese zu erfüllen. Kathrin Aehnlich hat einen Roman voller Musik geschrieben, über eine Frau, die am liebsten in Liedtexten sprechen würde. Großartig!

Eulenrod – Hans Stilett

Hans Stilett wurde 1922 geboren, damals noch unter seinem gebürtigen Namen Hans Adorf Stiehl. Von 1953 bis 1983 arbeitete er  als leitender Redakteur im Bundespresseamt in Bonn, nach seiner Pensionierung zog es ihn zurück an die Universität: ein Studium der Komparatistik, Germanistik und Philosophie schloss er 1989 an der Universität Bonn mit einer Promotion ab. Bekannt wurde er durch eine Neuübersetzung von Montaignes Essais, die 1998 erschien.

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“Kein Zweifel: Ich werde gewesen sein. Woraus folgt, daß ich, da gewesen, sein werde. Denn alles, was je war, bleibt dem Buch des Lebens eingeschrieben. Wie die Menschen, von denen hier die Rede sein wird. Wie jedes Glühwürmchen auch. Wie jeder Stern.”

“Eulenrod” ist keines der Bücher, wie man sie heutzutage in einer schier erschlagenden Masse in den Buchläden ausliegen sieht. Es ist wunderbar gestaltet, bereits äußerlich erscheint es wie ein ungewöhnlich schönes Kleinod. Es ist deutlich kleiner als sonstige Bücher, auch der herkömmliche Schutzumschlag fehlt. Das Buch trägt den mysteriösen Titel “Eulenrod”, das Cover zeigt einen dichten Wald, in den dennoch ein Schimmer Licht hinein fällt. Der Untertitel ist mir sofort ins Auge gesprungen und hat mich neugierig gemacht: Biographisches Mosaik.

“Noch wese ich im Hier und Jetzt, doch der Abschied naht. Desto dichter drängen nun Gestalten heran, die ich längst vergessen glaubte, und Szenen aus dem Dämmer meiner ersten Lebensjahre leuchten wieder auf.”

Dem Buch voran gestellt ist passenderweise ein Satz von Montaigne: “Ein kleiner Mensch ist ein ganzer Mensch, genauso wie ein großer.” Hans Stilett versetzt sich zurück in die Gedankenwelt und in die Gefühle seiner Kindheit, er tut dies mit einer großen Ernsthaftigkeit – ein Kind mag ein Kind sein und dennoch erfährt es die Welt in einer Art und Weise, die nicht weniger wahr ist, als das Erleben von Erwachsenen. In kurzen Texten widmet er sich dem Leben, das er als Kind geführt hat.

“Wir leben arm, doch sehr gesund.”

Hans Stilett wächst vaterlos und in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Wohnung, in der er lebt hat nur eine Stube und eine Schlafkammer. Die Mutter ist häufig nicht zu Hause und lässt lässt den Jungen bei seinen Großeltern zurück. Trotz der Abwesenheit der Mutter, bleibt sie für ihn eine wichtige Bezugsperson: sie schreibt nicht nur ihren Lebensroman, sondern auch Gedichte und mit Vögeln kann sie sprechen, sie beherrscht “Finkisch” und “Meisisch”. Auch die Großmutter ist sehr mit der Natur verbunden, sie lehrt ihm, Heidelbeeren zu pflücken. Hans Stilett übernimmt die Lieber zur Natur von ihr und liebt es bereits in jungen Jahren, sie zu erforschen – manchmal liegt er stundenlang bäuchlings auf einem Kiesweg, um Stiefmütterchen zu beobachten.

Der Ort in Thüringen an dem der Junge aufwächst, heißt eigentlich Zeulenroda – es sind nur zwei Buchstaben, die diesem abgenommen werden und schon wird aus der beengten und dörflichen Kleinstadt Zeulenroda Eulenrod, ein Ort an dem ein Junge wie Hans, jeden Tag ein anderes Abenteuer erleben kann.

“Neulich ein wildes Gewitter, schwarz, zerfetzt vom Gold der Blitze. Ich greif mir Bleistift und Papier und renn ans linke Stubenfenster, um sie im Niedersausen zu packen, Blatt um Blatt: ein rätselhaftes Gewirr von Linien, das vielleicht wer entziffern kann. Drum heb ich alles auf.”

Der Autor beschwört seine Kindheit auch durch eine besondere Sprache wieder herauf. Im Text stolpere ich über mir unbekannte Begriffe, an einer Stelle kriegt Hans von seinem Großvater eine gedachtelt, an anderer Stelle schneidet die Großmutter einen Runks vom Rundbrot ab. Die Erinnerungen an die damalige Zeit sind jedoch nicht nur in heitere Farben getönt – auch Tod und Krankheit spielen im Leben des Jungen eine Rolle. Ganz am Rande seiner kindlichen Perspektive wird auch die zunehmende Verschiebung der politischen Situation deutlich, immer mehr Menschen in Zeulenroda gebrauchen den Hitlergruß.

Hans Stilett wirft in “Eulenrod” einen eigenwilligen Blick auf seine Kindheit, er erinnert sich zurück an das Leben in den 20er Jahren und betrachtet diese Zeit aus den Augen des Kindes, das er damals gewesen ist. Die Bezeichnung Biographisches Mosaik habe ich im Laufe der schmalen Lektüre als immer passender empfunden: die kurzen Texte und aneinandergereihten Kindheitserinnerungen ergeben in der Tat eine Art Mosaik es ist ein Mosaik des eigenen Lebens – der eignen Biographie.

“Eulenrod” ist eine Zusammenstellung von Erinnerungssplittern, von Kürzesterinnerungen, die Seite an Seite, auf engem Raum, nebeneinander stehen und einen unverwechselbaren und einzigartigen Blick auf eine Kindheit gewähren. Genauso wunderschön wie die äußere Gestaltung, ist auch der Inhalt dieses schmalen Büchleins äußert lesenswert. Die Kindheit von Hans Stilett ist höchst gewöhnlich, ungewöhnlich und schön ist jedoch der Zugang den er zu ihr gefunden hat und die Art und Weise, in der er seine Erinnerungen wieder aufleben lässt.

Ada liebt – Nicole Balschun

Bei manchen Büchern muss ich mich überwinden, sie überhaupt in die Hand zu nehmen. Es ist eine Überwindung aller möglicher Vorurteile und Klischees und eine Überwindung scheinbarer Genregrenzen, die manchmal unüberwindbar erscheinen. Auf den ersten Blick. Ein solches Buch ist “Ada liebt”, der Debütroman von Nicole Balschun, der 2011 im DuMont-Verlag erschienen ist und mit allerlei abschreckenden Werbeslogans beworben wird: “Eine Liebesgeschichte mit Heulgarantie”, “Die schönste Liebesgeschichte, seit es Misthaufen gibt”. Zu allem Überfluss zieren das babyblaue Cover Gummistiefel und rosarote Rosen. Diesen Vorurteilen entgegen steht das Glück und die Zufriedenheit, die ich beim Zuklappen der letzten Seite empfunden habe. Wie schade wäre es doch gewesen, wenn ich dieses Buch verpasst hätte …

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“Ich hatte so viele Wörter, ich liebte die Sprache, ich hatte sie studiert, und nun half sie mir nicht, gab mir keine passenden Worte, nur ein Krächzen, etwas Vorsprachliches, nichts, das Bo verstand, nichts, das es mir selber erklärte.”

Nicole Balschun erzählt eine herrlich ungewöhnliche Liebesgeschichte. Bereits der Roman beginnt außergewöhnlich, denn er beginnt zunächst mit dem Ende, bevor die Geschichte von Beginn an aufgerollt wird – am Ende schließt sich dann wieder der Kreis. Erzählt wird die Geschichte von Ada und Bo; es ist eine Liebesgeschichte mit Hindernissen, eine Geschichte, in der sich Gegensätze zwar anziehen, doch nicht überwinden können. Bo ist Bauer, seine Leitsau heißt Siegfried. Er hat nicht nur Schweine, sondern auch Kühe, dafür aber wenig Interesse an Kultur: das einzige Lesbare, das sich in seinem Haushalt findet, sind seine Landwirtschaftszeitungen. Ada ist das Gegenteil von Bo: sie ist in der Stadt aufgewachsen, studiert Literaturwissenschaft und lebt in der Nähe der Universität. Ihre Welt ist die Welt der Bücher, die Welt der Worte.

“Ich kam schließlich jedes Wochenende hierher in diesen Schweinemief und guckte auf Felder und in Kuhscheiße und Bo hatte mich noch kein einziges Mal besucht in der Stadt mit ihren tausend Möglichkeiten und dem tollen Ausblick.”

Ada und Bo lernen sich auf der Beerdigung von Adas Tante Rosi kennen. Bo ist Sargträger und fällt dadurch auf, dass ihm das Gebetbuch in den Sarg fällt. Wie gesagt: unterschiedlicher könnten die beiden eigentlich nicht sein, Ada und Bo, und doch fühlen sich beide von diesem Moment an zueinander hingezogen. Die nächsten Wochen verbringt Ada am Schreibtisch, sie arbeitet gerade an ihrer Promotion, doch an den Wochenenden zieht es sie hinaus auf den Hof von Bo. Sie lernt Siegfried kennen, die Leitsau und Bo schenkt ihr ein Paar Gummistiefel. Zusammen fahren sie Trecker und schaufeln Mist. Adas Welt besteht aus Worten, doch Bo zeigt ihr, dass man neben all den Worten auch noch leben und atmen muss. Bo haucht Ada, dem Blassgesicht, Leben ein. Bücher kann man zwar lesen, doch man kann nicht in ihnen leben – findet Bo.

“Insgeheim wussten wir, dass ich nie eine Bäuerin und Bo nie kein Bauer sein würde, aber wir fühlten einander und machten ansonsten die Augen zu. Vielleicht übersahen wir deshalb die dröhnende Lawine, die uns mit einem Schlag mitten im blühendsten Sommer überrollen sollte, und vielleicht setzte sie sich schon in Gang, als wir Tante Rosi unter die Erde brachten.”

Ada liest so viele Bücher, doch die Welt der Worte befähigt sie nicht dazu, selbst Worte zu finden; ihr fehlen die “Vokabeln für die Elementarteilchen zwischenmenschlicher Beziehungen”. Bo ist einfach und schlicht gestrickt, doch er liebt und fühlt – Ada fühlt auch etwas, vielleicht, doch sie kann ihre Gefühle nicht artikulieren. Ist das, was sie fühlt Liebe oder nur irgendein Abklatsch? Zur Liebe gehören für Ada “Atemnot, ein Wortstillstand und ein großer Schmerz”. All dies fühlt sie erst, als sie Bo bereits verloren hat.

“Die Bücher, ihr Geruch, das sanfte Rascheln beim Umblättern des Papiers, es knistert nichts mehr unter meinen Händen und mein Herz sprang nicht, weil ein Buch gut war, und auch die klugen Gedanken, die ich einst in Marmeladengläsern einmachen wollte, waren mir irgendwie aus dem Kopf gefallen.”

Nicole Balschun erzählt eine Liebesgeschichte, in der es nicht an der gegenseitigen Liebe fehlt, sondern an einem gemeinsamen Ort an dem diese wachsen kann. Ada ist zu sehr verhaftet in ihrem Wald aus Literatur, als das sie daraus hervortreten könnte, um sich dem Leben zu stellen. Sie lebt ihr Leben aus einer Zuschauerrolle heraus, sie schaut zu, ergreift aber selten selbst die Initiative. Schon ihr Vater hat sich lieber hinter Zeitungen verschanzt. Ada ist passiv und unbeteiligt, am Leben teilnehmen? – das tun doch die anderen. Und Bo? Bo ist durch und durch ein Bauer, der die bäuerliche Welt für nichts aufgeben würde und auch nicht gegen die große Liebe eintauschen. Nicole Balschun seziert einen schmerzhaften Kampf um die Liebe, es ist eine Liebe, die sowohl in Bo als auch in Ada gesät wurde, die jedoch kein Klima findet, um zu gedeihen. Sie erstickt im Mief des Misthaufens und an den gegenseitigen Erwartungen und Ansprüchen, sie erstickt am Schweigen und der Sprachlosigkeit.

“Eine Woche später standen kleine Gummistiefel neben Bos großen und er sagte, melken, musst du trotzdem nicht. Es zuckte durch meinen Bauch, denn bei Bo Stiefel haben war, als würde zu Hause eine zweite Zahnbürste im Becher stehen.”

Ich habe mich beim Lesen in Ada verliebt, in ihre Zwiespältigkeit und in ihr Zaudern, in ihren Wunsch, dass das Blut kochen muss, wenn man sich verliebt – wie beim Lesen eines Romans. In ihre Sprachlosigkeit, in ihre Zweifel. Die Liebe breitet sich in ihr aus, vor allen Dingen in den Momenten, in denen sie glaubt, Bo zu verlieren. Doch artikulieren kann sie das nicht, dabei hat sie doch so viele Worte in ihrem Kopf. Doch keines davon kommt ihr über die Lippen, bis es zu spät ist. Was macht man mit Gefühlen, die man nicht kommunizieren kann? Irgendwann wird einem die Luft zum Atmen genommen.

“Bo hatte sein Wissen aus dem Leben und irgendwie auch aus dem Herzen. Ich hatte meines aus Büchern und es konnte doch nicht gut gehen mit uns, und während mir sein Geruch in die Nase stieg, flüstere ich Bo ins Ohr, du bist so dumm, Bo, und er lachte und flüsterte zurück, und du erst, Ada.”

Wenn ihr dieses Buch in einem Buchladen liegen sieht, dann lasst euch nicht abschrecken von der Aufmachung. “Ada liebt” ist ein kleines Juwel, voller kluger Gedanken, die ich in “Marmeladengläsern einmachen wollte”. Nicole Balschun charakterisiert ihre beiden Figuren mit so viel Wärme und Liebe, das ich gar nichts anderes machen konnte, als mit schwitzigen Händen am Buch kleben, um zu erfahren, wie es weitergeht. Immer in der Hoffnung, dass es doch bitte gut gehen würde zwischen den beiden, zwischen Ada und Bo.

Wie ich mir das Glück vorstelle – Martin Kordić

Martin Kordić wurde 1983 in Celle geboren und arbeitet heutzutage als Lektor bei einem Verlag in Köln. Er studierte in Hildesheim und an der Universität Zagreb. Mit “Wie ich mir das Glück vorstelle” legte er in diesem Bücherfrühjahr seinen ersten Roman vor.

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“Diese Geschichte ist mein Leben. Diese Geschichte darf nicht länger sein als das Heft, in das ich reinschreibe. Ich schreibe sie für dich. Ich schreibe sie für den einen, der sie liest.”

Vorweg muss gesagt werden, dass das Cover des Romans täuscht. Der niedliche Vogel und das Wort Glück suggerieren eine Leichtigkeit, die sich in den Worten – wenn man den Roman schließlich aufschlägt – nicht mehr wieder finden lässt. Martin Kordić verarbeitet in seinem lesenswerten Debütroman ein Stück der eigenen Vergangenheit. Sein Vater stammt aus Bosnien, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Mostar. Die Familie plante in den achtziger Jahren ihre Rückkehr nach Bosnien, doch dann brach dort der Krieg aus. Diese Ereignisse holt Martin Kordić in seinem Roman wieder zurück in das Bewusstsein, aus dem Vergessen zurück in das Gedächtnis.

“Ich habe einigen Schaden an meinem Körper. Als ich zur Welt komme, haben die Menschen gleich eine Menge mit mir zu tun. Maria, o Maria. Ich habe damals schon ein ordentliches Rückenproblem. Ich bin so schief und steif, dass die Oma und die Mutter mich wochenlang nur in Tücher wickeln können. Dass mit meinem Kopf was nicht stimmt, findet nie ein Doktor raus. Ich selbst weiß auch nicht, was mir da fehlen soll.”

Erst vor kurzem habe ich Aleksander Hemons Roman “Das Buch meiner Leben” gelesen, der Roman ist eine sehr bewusste Auseinandersetzung mit dem Bosnienkrieg und den politischen Hintergründen der damaligen Zeit. Martin Kordić wählt für seine Erzählung, die gerade einmal 170 Seiten schmal ist, einen anderen Weg. Er erschafft Viktor, einen Jungen, der das Kriegsgeschehen aus einer kindlichen Perspektive heraus wahrnimmt. Diese Perspektive ist dafür verantwortlich, dass es weniger um das wie und warum geht, denn die genauen politischen Kriegsprozesse können von Viktor gar nicht erfasst werden, sondern um den einzelnen Moment, den Viktor erlebt. Es ist eine Perspektive, die manchmal diffus erscheint, voller verwirrender zeitlicher Abläufe und mit reichlich rätselhaften Geschehnissen. Das Besondere der Perspektive ist die ständige Momentaufnahme, denn Viktor lebt in einem fortlaufenden Präsens und so ist das Buch auch geschrieben – auch Sequenzen, die rein formal in der Vergangenheit liegen müssten, werden in eine stetige Gegenwart gerückt.

“Als ich zur Welt komme, leben hier vier Erwachsene (die Oma, der Opa, der Onkel und die Frau vom Onkel) und fünf Kinder (die Kinder vom Onkel). Mit den beiden Nachbarhöfen zusammen sind im alten Teil vom Dorf ungefähr dreißig Menschen. Mit den neuen Häusern an der Straße weiter unten sind es ungefähr achtzig. Ich versuche manchmal alle aus meiner Familie auf ein Bild zu malen, aber immer vergesse ich einen. Zusammen sind wir ein Dorf, das alle das Dorf der Glücklichen nennen.”

Viktor lebt in der Stadt der Brücken, bereits seine Geburt ist ungewöhnlich – auch Jahre später spricht man noch über diese blutigen Momente und die Schinkengabel. Viktor kommt mit einem krummen Rücken zur Welt, deshalb muss er ein Korsett und eine Rückenspinne tragen. Er lebt in einer Stadt, die geteilt wurde, verbunden wird sie nur noch durch Brücken, die jedoch häufig unpassierbar sind. Viktor lebt alleine, er hat keine Familie mehr, dafür aber Weggefährten: den Hund Tango, ein Mädchen, das als Prostituierte arbeitet, um zu überleben und einen passionierten Hütchenspieler, den er immer nur den einbeinigen Dschib nennt. Um in der zerstörten Stadt überleben zu können, bettelt Viktor nicht nur, sondern sammelt alles auf, was er auf seinen Streifzügen finden kann. Doch das Einzige, was Viktor wirklich zum Leben braucht, ist sein Heft und der Bleistiftstummel, mit dem er seine Geschichten aufschreibt. Die Geschichte seiner Geburt findet natürlich Erwähnung im Heft, aber er zeichnet auch viele Erinnerungen auf: Erinnerungen an die Zeit mit seiner Familie im Dorf der Glücklichen. Er erinnert sich an seine Großmutter, die ihn lehrt, Eier aus dem Hühnerstall zu stehlen, er erinnert sich daran, wie sie zusammen Teigschnecken machten, er erinnert sich an die Abwesenheit seines Vater, der in den Krieg auszog. Er erinnert sich an Tote, an Leid.

“Der Krieg fängt in den Dörfern an. Dort hört er auf. Krieger kontrollieren die letzten zwei Brücken der Stadt. Auf der einen Seite stehen die Mudschis, auf der anderen warten die Kreuzer auf uns.”

“Wie ich mir das Glück vorstelle” ist ein schmales Büchlein, das gerade einmal 170 Seiten umfasst. Doch es ist ein Buch, das eine solche Nach-Wirkung hat, dass man als Rezensentin fürchtet, dass die Länge der Besprechung, die Länge des Buches übertrumpfen könnte. Martin Kordić schildert einen Krieg, an den man als Leser jedoch nicht herankommt, denn er wird aus der verzerrten Perspektive eines Kindes geschildert. Als Leser erlebt man die Erschütterungen des Kriegs in der ewigen Gegenwart, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Diese Perspektive aus der heraus erzählt wird, gehört für mich zu dem wunderbarsten Aspekt des Romans, den dank dieser Perspektive kommt man dem Krieg vielleicht doch nah, nicht in seiner politischen Dimension und Bedeutung, doch in dem, was ein Krieg in der Seele eines Kindes anrichten kann. Die Perspektive bannt die Rästelhaftigkeit eines Krieges auf Papier und fängt die Orientierungslosigkeit und Verwirrung von Viktor ein. Es bleibt nicht aus, dass all dies stellenweise auch auf den Leser übergreift.

“Der Fluss trägt alles Leben und alle Toten und alle Geschichten. Aus allen Ländern und aus allen Völkern. Alles versinkt hier. Im Meer. Und wenn es irgendwann mal keine Geschichte mehr gibt, wenn keiner mehr was erzählt, wenn keiner mehr zuhört, ist das die Finsternis. Die Finsternis, aus der hier keiner mehr rauskommt. Auch du nicht. Egal wo du bist.”

Viktor ist ein besonders Kind, er wird als Kretin und Missgeburt beschimpft und von vielen nur als Krüppel gesehen, nicht als vollwertiger Mensch. Körperlich ist Viktor vielleicht eingeschränkt, doch sein Kopf funktioniert: er schreibt sein Heft voll mit Erinnerungen und es ist das Schreiben, das ihn überleben lässt, es sind die Worte, die ihm helfen. Erst der Prozess des Aufschreibens, ermöglicht es ihm, sich an das Glück seiner Kindheit zu erinnern.

Martin Kordić legt mit “Wie ich mir das Glück vorstelle” ein schmales Buch vor, das jedoch umso schwerer wiegt. Viktor ist für mich nicht nur eine Romanfigur; dieses seltsame Kind, voll von Ernsthaftigkeit und Traurigkeit, doch niemals den Mut verlierend, hat sich in mein Herz geschlichen. “Wie ich mir das Glück vorstelle” ist äußert lesenswert und herzzerreißend traurig.

Gefährliche Arten – Svealena Kutschke

Svealena Kutschke wurde 1977 in Lübeck geboren. Nach einem Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetischen Praxis in Hildesheim lebt sie heutzutage als freie Autorin in Berlin. 2008 gewann sie den Open Mike, ein Jahr später wurde ihr vielbeachteter Debütroman “Etwas Kleines gut versiegeln” veröffentlicht. Im vergangenen Literaturherbst erschien im Eichborn Verlag ihr zweiter Roman “Gefährliche  Arten”.

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“Auch wenn ich wusste, dass es nur die Erinnerung an Glück war, fehlte mir im Gegensatz zu den anderen jede ironische Distanz.”

“Gefährliche Arten” beginnt mit einem Moment, der schockiert, entsetzt, verstört. Es ist der Moment in dem Sasha, eine junge Künstlerin, eine obdachlose Frau im Schlaf ermordet, in dem sie ihren Fuß auf ihre Kehle stellt. Während sie mit ihrem nackten Fuß der Frau die Luft zum Atmen abdrückt, telefoniert sie mit ihrer kleinen Tochter Lizzy. Diese Szene ist dem Buch in Form eines Prologs vorangestellt. Es ist ein Prolog, der sich schattengleich auf die Figur von Sasha in allen weiteren Szenen legt, wie ein Abdruck auf der Netzhaut, der sich nicht mehr wegwischen lässt.

“In den nächsten Wochen würde ich Freunden wie Fremden bei der ersten Gelegenheit, auf Partys und in Cafés, im Supermarkt und in der U-Bahn unaufgefordert mitteilen, dass meine Mutter versucht hätte, sich zu erhängen, ertränken, ersticken, erschießen, und die irritierten, peinlich berührten oder auch verärgerten Blick fotografieren.”

Sasha ist Künstlerin. Wenn man so wollen würde, könnte man sie als Konzeptkünstlerin bezeichnen. Das Konzept hinter ihrer Kunst ist der Wunsch danach, zu verstören. Sie möchte Kunst schaffen, die berührt und wenn sie allein dadurch berührt, dass sie verwirrt und schockiert, Entsetzen und Ekel hervorruft oder auch provoziert. Die Kunst ist für Sasha eine Möglichkeit ihr Leben zu verlassen und fremde Welten zu betreten: für ihre Kunstprojekte schlüpft sie in fremde Leben, verkleidet sich als Apothekerin, stempelt als Postangestellte Briefe oder handelt mit ausgestopften Tieren. Ihr Privatleben ist ähnlich turbulent wie ihre Performance-Kunst. Mal schläft sie mit Mo, mal mit Tim, dann mit Jannis. Dabei ist Jannis doch eigentlich mit Sophie zusammen, die wiederum eine Affäre mit Tim hat. Gemeinsam nimmt man Drogen, liebt und streitet sich.

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“Mit Jannis zu reden war wie eine Line zu ziehen, zusammen entwickelten wir Gedanken, die in der Lage waren, Glas zu schneiden.”

Das Leben von Sasha ist spielerisch, nicht spielerisch leicht, aber spielerisch wie ein Abenteuerspielplatz. Als wäre das ganze Leben von Sasha ein Ausstellungsstück ihrer eigenen Konzeptkunst. Nichts ist ernst, nichts bleibt. Doch dann bleibt Jannis, mit dem sie gemeinsam ein Kind bekommt: Lizzy. Doch kaum ist Lizzy auf der Welt, treibt es Sasha und Jannis bereits wieder auseinander: “Dass wir Lizzy zeugten, in dem Moment, wo wir erkannten, dass wir einen Fehler gemacht hatten.” Sasha bricht aus, aus den Erwartungen an sie und aus den Erwartungen die ein Leben mit Kind schüren. Sie setzt sich ab, aufs Land, später nach Nanjing – Lizzy lässt sie bei Jannis zurück.

“Die ganze Wohnung kam mir vor, als wäre sie eine Kulisse. Auch Jannis und Lizzy blieben zweidimensional, wenn auch eine beunruhigend echte Körperwärme von ihnen ausging.”

Sasha gerät in einen Strudel, aus dem sie nicht herausfindet. Während Jannis die Geburt seiner Tochter zum Anlass nimmt, die wilden Zeiten zurückzulassen und ein ruhigeres Leben zu beginnen, stürzt Sasha ab. Die Drogen, die sie nimmt, führen irgendwann dazu, dass sie selbst kaum noch zwischen Kunst und Leben, zwischen Wahn und Realität, zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden kann.  Sie beginnt Liebe die vergeht, mit Hass zu verwechseln. Sie wird gemein, perfide, zeigt ihr hässliches Gesicht und ist zu Dingen fähig, von denen man im Prolog des Romans eine Ahnung erhält.

“Die Liebe kann doch nicht mehr gut schmecken. Da steckt doch schon der Dreck von Generationen drin. Tränen, gebrauchte Kondome, Judith Butler, Alice Schwarzer, Marquise de Sade und Don Juan. Eheringe oder Goldkronen, macht doch keinen Unterschied. Ist es nicht egal, was ich mir im Kino schaue? Einen Porno oder Himmel über Berlin. Ist es nicht egal?”

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“Gefährliche Arten” ist ein schmales Büchlein, doch den Eindruck, ein leichtes Lesevergnügen vor sich zu haben, der täuscht. Svealena Kutschke schreibt über die Liebe und unsere heutige Generation, doch “Gefährliche Arten” ist ganz sicherlich weit entfernt von einer Liebesgeschichte oder gar von einem Wohlfühlroman. Man fühlt sich in diesem Roman nicht wohl. Ganz im Gegenteil: ich habe mich abgestoßen gefühlt, angeekelt, frustriert, verwirrt, verstört. Einen roten Faden zu finden ist schwer, zusammengehalten wird die Geschichte durch die Schockmomente. Der rote Faden ist der schleichende Absturz von Sasha, es ist ein Sturz in die Bodenlosigkeit – an einen Ort, wo Wahn und Realität eins zu werden scheinen. An diesem Punkt kann der Roman überzeugen: Svealena Kutschke pflanzt uns hinein in den Kopf einer Figur, die irgendwann einen Zustand erreicht hat, an dem sie nicht mehr weiß, ob sie das, was sie gerade getan hat, wirklich getan hat. Auch sprachlich überzeugt die Autorin mit Sätzen, die wie Rasierklingen in weiße helle Haut schneiden. Es gibt wunderbare Sätze, die man am Liebsten für immer im Kopf behalten möchte. Und doch! Und doch, und doch, und doch hat mir der vielbeschworene rote Faden gefehlt. Das Garn, was all diese bestürzenden Momente und wunderbaren Sprachbilder zusammennähen könnte, das fehlt. Leider. Das führt dazu, dass “Gefährliche Arten” an vielen Stellen ein fragmentarisches Leseerlebnis bleibt.

Svealena Kutschke legt mit “Gefährliche Arten” einen gefährlichen Roman vor, der rau, hart und derb ist, voller Ecken und Kanten, an denen man sich beim Lesen stoßen kann. Beworben wird das Buch als Generationenroman, doch mich habe ich in dieser Generation nicht wiederfinden können. Gelesen habe ich stattdessen einen Roman über die Macht der Kunst, die Kraft der Bilder und die dreckigen und verdorbenen Seiten der Liebe.

Eine kurze Geschichte vom Sterben – Linda Benedikt

Linda Benedikt wurde 1972 in Mündchen geboren. Nach einem Politikstudium arbeitete sie viele Jahre lang als freie Journalistin. Seit 2010 steht sie mit einem politischen Musikkaberett auf der Bühne. Die Autorin lebt derzeit in München und veröffentlichte zuletzt einen Essay über Israel. “Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist ihr neuester Roman, er erschien im vergangenen Literaturherbst.

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“Du wirst viel mehr als weg sein, du wirst immer da sein und ich werde mit deiner anwesenden Abwesenheit nichts anzufangen wissen.”

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” wird im Klappentext als Prosa beschrieben, doch sind diese erschütternden 126 Seiten wirklich fiktive Prosa oder vom autobiographischen Erleben geprägt? Im Buch selbst finde ich für eine Antwort auf diese Frage keinerlei Informationen. Doch ob Linda Benedikt die Trauer um die eigene Mutter beschreibt oder eine rein fiktive Erzählung geschrieben hat, nimmt diesem Werk nichts von seiner Kraft. Die Lektüre war für mich wie ein Schlag in den Bauch. Rumms. Da lag ich, nach Luft schnappend und um Atem ringend. Trauer ist immer schwierig und der Tod ist etwas, mit dem wir uns lieber nicht beschäftigen wollen, aber er ist da und kann immer und jederzeit zuschlagen.

“Ich sitze seit vier Stunden an deinem Bett und schaue zu, wie du stirbst. Stündlich ein bisschen mehr. Aber nicht genug, um dich endlich selbst aus dem Leben zu entlassen.”

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine Geschichte eines langsam voran schleichenden Sterbens. Die Beschreibung eines Prozesses mit tödlichem Ausgang. Linda Benedikt beschreibt sieben Tage. Die Kapitelreihenfolge ist umgekehrt, beginnt bei Kapitel sieben und endet an dem Tag, an dem alles vorbei ist. Die gerade einmal 126 Seiten schmale Erzählung wird aus der Ich-Perspektive erzählt. Es ist das Ich einer trauernden Tochter, die aus London zu ihrer Mutter reist, um sie in den Tod zu begleiten. Die Krankheit hat einen Zustand erreicht, an dem an ein Überleben nicht mehr zu denken ist – es geht lediglich darum, wie lange das Sterben dauert.

“Dein Körper wirkt klein und schmächtig, wie krankgeschrumpft. Als ich dich das letzte Mal sah, konntest du lachen, gehen, stehen und reden. Und irgendwie warst du größer.”

Für die Tochter ist die Begegnung mit der Mutter ein Schock, mit der Mutter, die eigentlich noch jung ist, doch plötzlich knochige Gesichtszüge hat. Ihre starke Mutter ist plötzlich klein, schwach und abhängig. Gespräche mit ihr sind kaum noch möglich. Wenn sie durch die dicke Nebelwand der Schmerzmedikation in ein Gespräch finden, ist die Tochter erschüttert davon, dass die Mutter immer noch daran glaubt, zu überleben. Wie sagt man der eigenen Mutter, dass sie sterben wird?

“Schließlich ist es der Teil eines größeren Plans, den wir beide nicht beeinflussen können: Eine Mutter zieht ihre Kinder auf, und diese wiederum geleiten sie in den Tod.”

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Die Tochter erlebt am Sterbebett ihrer Mutter ein Wechselbad der Gefühle. Sie klammert sich an sie, in dem Wunsch sie nicht verlieren zu müssen. Hofft darauf, dass ihnen beiden noch mehr gemeinsame Tage geschenkt werden. Gleichzeitig wünscht sie sich eine Erlösung für ihre Mutter herbei, ein nahes Ende dieses schmerzhaften Prozesses. Ein Wunsch, an dem man beinahe ersticken kann, so schrecklich fühlt es sich an, der eigenen Mutter den Tod zu wünschen.

“Aber so einfach ist es nicht. Denn dein Tod sagt mir nichts. Wird mir nicht hinterlassen. Du wirst einfach weg sein. Mich allein lassen. Du wirst nicht mehr da sein, wenn ich mit dir reden will. Du wirst mir nicht mehr zuhören, wenn ich dich anklagen will, sodass es eine Klage allein gegen mich selber sein wird. Wenn ich weine, muss ich mich künftig selber trösten. Und wenn ich lache, wirst du es nicht hören. Wirst nicht mehr fragen nach dem Warum.”

Der Tod und das Sterben sind Bereiche, die aus unserem alltäglichen Leben gerne weggedacht werden. Vielleicht sind sie zu schmerzhaft, um ihre Anwesenheit täglich spüren zu können. Linda Benedikt ist es in ihrer kurzen Geschichte vom Sterben gelungen, Worte für etwas zu finden, über das ansonsten lieber geschwiegen wird. Sie verschweigt nichts und beschönigt keines ihrer Gefühle. Sie beschreibt ihren Schmerz und ihre Trauer, aber auch ihre Wut und die immer wieder kehrende Langeweile, die sie im Sterbezimmer ihrer Mutter empfindet. Die eigene Mutter stirbt und ja, die Tochter ist fast schon ungeduldig … irgendwie dauert ihr das alles zu lange. Es gibt weder Kitsch noch Pathos, kein Schmuckwerk. Lediglich die nackten Gefühle, die traurigen aber auch die unschönen und dreckigen Gefühle, die, die man im Nachhinein lieber verschweigt.

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine eindrucksvolle Erzählung über Trauer in all ihren Facetten. Trauer ist etwas, das wohl jeder anders empfindet. Linda Benedikt schreibt über eine Tochter, die den Tod ihrer Mutter mit ganz viel Wut betrachtet, aber auch mit bodenloser Traurigkeit. “Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine beeindruckende und lesenswerte Erzählung.

Mortimer und Miss Molly – Peter Henisch

Peter Henisch wurde 1943 in Wien geboren, er studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte und Psychologie. Seit 1971 arbeitet er als freier Schriftsteller und lebt in Wien. Neben zahlreichen Veröffentlichungen hat Peter Henisch auch eine Vielzahl an Preisen vorzuweisen: mit seinen Roman “Die schwangere Madonna” und “Eine sehr kleine Frau” stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Seine neueste Veröffentlichung “Mortimer & Miss Molly” erschien im vergangenen Literaturherbst.

Collage Henisch

“Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt. Ein Fallschirmspringer, der im Zentrum des Renaissancegartens landet.”

Peter Henisch erzählt in seinem Roman nicht nur eine Geschichte, sondern gleich zwei Geschichten. Es sind zwei Geschichten, die sich überlappen, ineinander überlaufen. Es sind zwei Liebesgeschichten, getrennt durch mehrere Jahrzehnte und sich doch so ähnlich. Beide Geschichten werden von Peter Henisch auf poetische Art und Weise miteinander verknüpft.

Die erste Geschichte beginnt an einem Frühlingstag 1944, als die alliierten Truppen vom Süden heraufkommen. Der amerikanische Soldat Mortimer wird von der deutschen Flak getroffen und ist dazu gezwungen, sein Leben mithilfe eines Fallschirmsprungs zu retten. Irgendwo jenseits der Stadtmauer explodiert die Maschine, während Mortimer im Zentrum eines malerischen Renaissancegartens landet – “unter den Augen oder zu Füßen von Miss Molly.” Miss Molly, die englische Gouvernante einer Adelsfamilie, die bereits in jungen Jahren in die italienische Stadt San Vito gekommen ist, nimmt Mortimer bei sich im Zimmer auf, versteckt ihn dort und rettet ihm so das Leben.

“Vorausgesetzt, dass die Geschichte sich wirklich so zugetragen hatte. Die wahre Geschichte von Mortimer und Miss Molly. Aber ist die wahre Geschichte immer die wirkliche Geschichte? Oder andersherum gefragt: Ist die wirkliche Geschichte immer die wahre Geschichte?” 

Marco und Julia prägen die zweite Geschichte, die in den achtziger Jahren spielt. Marco ist Italiener, Julia stammt aus Wien. Kennengelernt haben sie sich in Siena, beide haben dort ein Seminar besucht. Ihre zart blühende Liebe führt das frisch verliebte Paar quer durch Italien, bis sie schließlich in San Vito Station machen. Sie übernachten in der Albergo Fantini – einem Hotel, dem man sein Alter mittlerweile ansehen kann. In den ersten Tagen in San Vito stürzen sich beide aufeinander, rettungslos vor Liebe – eine Liebe, die noch keine Risse hat und auch vom Alltag noch nicht überschattet ist. Nichts und niemand kann sie in ihrer Zweisamkeit stören. Doch dann entdecken sie durch Zufall, dass das Hotel nicht so menschenleer ist, wie sie geglaubt haben: sie haben einen Nachbarn. Bei einem gemeinsamen Abendessen beginnt der Nachbar, der sich ihnen als Mortimer vorstellt, seine Lebensgeschichte zu erzählen, angefangen bei der Fallschirmlandung im Renaissancegarten.

“Die Geschichte von Mortimer und Miss Molly. Sie beginnt im Mai 1944, als Mortimer mit dem Fallschirm dort oben im Garten landet. Aber da ist auch die Geschichte von Marco und Julia. Die beginnt fast vierzig Jahre später, als die beiden zum ersten Mal im Albergo Fantini wohnen.”

Mortimers Geschichte begeistert Julia und Marco nicht nur, sondern beflügelt auch ihre gemeinsame Phantasie. Marco träumt schon lange davon, einen Film zu drehen und glaubt, in der Liebesgeschichte von Mortimer und Miss Molly den idealen Filmstoff gefunden zu haben. Doch auf eine Fortsetzung der Geschichte müssen beide vergebens warten, denn genauso plötzlich wie Mortimer aufgetaucht ist, taucht er auch wieder ab; bevor er seine Geschichte zu Ende erzählen kann,  ist er verschwunden. Zurück bleiben Marco und Julia, ein Paar, das so viel Gemeinsamkeiten empfindet, wenn es sich in die Lebensgeschichte von Mortimer und Miss Molly versetzt. Sie bleiben zurück mit ihrer Phantasie, mit ihren Tagträumen, mit ihrer eigenen Vorstellungswelt. Gemeinsam versetzen sie sich zurück in die Zeit des Krieges und spinnen die Geschichte weiter …

Collage Henisch 2

“Die Erinnerung, sagte Marco, ist eine immer wieder aufgenommene Montage. Wie ein Film, den man immer aufs Neue schneidet. Manche Szenen nimmt man vielleicht heraus, andere dreht man nach und fügt sie hinzu.”

Peter Henisch hat mit “Mortimer & Miss Molly” einen Roman über die Liebe und über Erinnerungen geschrieben. Darüberhinaus erzählt der Autor aber auch davon, wie wichtig Geschichten sind, wie wichtig es ist, zu erzählen und die Kraft der eigenen Phantasie zu benutzen. Julia und Marco wollen sich nicht damit zufriedengeben, dass ihnen die Fortsetzung vorenthalten wurde. Sie erfinden einfach ihre eigene Fortsetzung. Diese Vorstellung hat etwa Amüsantes, aber auch etwas Poetisches, etwas, das mich berührt und bewegt hat. Doch während Marco und Julia die fremde Liebesgeschichte weiterspinnen, verblasst die eigene immer mehr und ist nur noch in Umrissen zu erkennen. Das Gefühl der Vertrautheit und Nähe können beide nur noch erwecken, wenn sie gemeinsam San Vito besuchen, an allen anderen Orten fühlt sich ihre Liebe seltsam schal an; als würde dieses kleine italienische Dörfchen ein magischer Liebeszauber umwehen. Überhaupt wirkt die literarische Beschreibung der Toskana sehr authentisch und lebensecht, man fühlt sich beim Lesen so, als würde man tatsächlich die Sonne Italiens genießen können.

“Dabei ging ihr zum ersten Mal auf, dass Liebe vielleicht etwas mit Widerstand zu tun hatte. Mit Widerstand gegen alle widrigen Umstände. Und letzten Endes mit Widerstand gegen die Zeit.”

Peter Henisch legt mit “Mortimer & Miss Molly” einen wunderbar komponierten und höchst poetischen Roman vor, einen Roman über die Liebe, über die Phantasie und darüber, wie wichtig es ist, Geschichten zu erzählen. “Mortimer & Miss Molly” ist frei von Kitsch und Sentimentalitäten. Eine schöne Liebesgeschichte, die herzerwärmend ist – gerade in diesen kalten Tagen, kann das ja nicht schaden.

Peter Henisch: Mortimer & Miss Molly. Roman. Deuticke Verlag, München 2013. 320 Seiten, € 19,90.

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